Kapitel 3: Purple Haze
Ein Mann mit einer Lesebrille auf der Nasenspitze saß auf dem Stuhl und
war ganz in die Lektüre einer Boulevardzeitung vertieft. Seine rotblonden Haare
wiesen schon deutliche Lücken auf; die seitlich etwas längeren waren dazu
bestimmt die Defizite ein wenig auszugleichen, was am Morgen und wohl auch
mehrmals im Lauf des Tages einen nicht unerheblichen Kämmaufwand verursachte.
Sein rundes Gesicht war durchaus sympathisch. Seine kleinen, braunen, jetzt
sehr angestrengten Augen funkelten munter. Sein Mund sah aus, als sei er einem
breiten, lauten Lachen jederzeit und an jedem Ort nicht abgeneigt. Die Nase
fügte sich bereitwillig dem allgemeinen Rund und war sorgsam bedacht, nicht
allzuviel Platz einzunehmen. Er war mittelgroß und begann schon deutlich
erkennbar Altersspeck anzusetzen. Gekleidet war er in eine graue, weite
Stoffhose und einen weinroten Pullover, unter dem ein blauweiß gestreiftes Hemd
verborgen war, das nur seinen Kragen beifallheischend und um Aufmerksamkeit
bettelnd in die warme, gemütliche Luft des Zimmers strecken durfte. Seine
Finger bewegten sich immer ein wenig nervös am Rand des Zeitungspapiers auf und
ab und nahmen dabei einige Milligramm Druckerschwärze auf. Ein Politiker habe
geweint, als er vom Tode seiner Mutter während einer Sitzung erfahren habe,
verkündete das Blatt lauthals. Seine Füße, die in schwarzen Lackschuhen und
dunkelgrünen Wollsocken steckten, scharrten auf dem Boden offenbar zum Takte
der Musik, das Kölnkonzert von Keith Jarett, ein schöner Guten-Morgen-Kuß.
"Morgen. Wollte dich nicht wecken. Ich hab dir ein Frühstück mitgebracht."
Plenten war noch sehr benommen von dem seltsamen Traum.
"'n Morgen". Er wollte das Mißverständnis erst aufklären, wenn
er gegessen hatte. Er stand auf, setzte sich auf den Stuhl und machte sich
darüber her, Wiener Würstchen und Weizenbier, beides lauwarm. Der andere war
währenddessen zum Fenster gegangen und hockte halb auf dem Sims.
"Es ist natürlich zwischenzeitlich kalt geworden; ich bin schon eine
Zeitlang hier. Das muß gestern eine wilde Nacht gewesen sein, du steckst ja
noch in deinen Klamotten, die Schuhe hättest du ausziehen können. Ich hoffe, du
hast heute abend übrigens etwas anderes an."
Plenten formte unter dem Kauen ein Lachen, da er ein Zucken der
Mundwinkel des Mannes als Hinweis deutete, den letzten Satz als einen Witz zu
verstehen. Er nahm einen tiefen Schluck aus dem Weizenglas und fühlte sich
gestärkt genug die Konversation mit dem Fremden aufzunehmen.
"Wer sind Sie eigentlich?", sagte er Reste hinunterschluckend.
"Mensch, Plenten, das muß ja wirklich wild zugegangen sein, daß du deinen
alten Freund Heinz Sieweich nicht mehr kennst."
"Morgen , Heinzi."
"Ja, Heinzi muß jetzt leider wieder gehen, weil Heinzi nicht den
ganzen Tag im Bett liegen und Bücher lesen kann. Komm bitte heute abend
pünktlich, das Purple Haze harrt deiner sehnsüchtig. Bis dann."
Er hatte die Tür schon geöffnet, als Plenten in einer erneuten
Kaubewegung sagte: "Das Purple Haze?"
"Ja, um sechs und schlaf noch ein Weilchen! Wenn es dann noch nicht
besser ist, könntest du nach Amerika fliegen und dir einen Wunderheimer gegen
die Alzspritze holen."
Auch das war allen Ernstes als Witz gemeint. Darüber brach Plenten in
schallendes Gelächter aus, was Heinz verunsicherte. Er sah keinen anderen
Ausweg als auch zu explodieren, sein Fröhlichkeitsausbruch war sogar noch zu
hören, als er das Treppenhaus hinabschritt. Kopfschüttelnd schloß Plenten die
Tür, die jener offengelassen hatte.
Das Purple Haze war der heißeste Liveclub der Stadt. Unzählige, auch
große Künstler hatten hier schon Halt gemacht auf ihrer Durchreise. Nobnoj Smada
soll dort vor ewig langer Zeit sein erstes Konzert vor größerem Publikum
gegeben haben. Damals, als er noch wirklich gut war. Plenten sollte offenbar
heute abend dasselbe tun. Er fand, daß er als Rockstar im Traum gar keine
schlechte Figur abgegeben hatte. Doch Heinz hatte Recht, wenn er ihm empfahl,
andere Kleider anzuziehen. Er dachte sich, daß es vielleicht eine gute Idee
sei, einmal in Frauenkleidern zu spielen und wollte schon Pandareis Schrank
durchwühlen, als er feststellte beim flüchtigen Vorbeigehen an dem
Claptonspiegel, daß er nicht mehr ganz der Alte war: Sein Bart war
verschwunden, sein Haar geschnitten, vorne bildete es eine wunderschöne Locke.
Er fand, daß er dem King, der jetzt wieder seinen gewohnten Platz über dem Bett
einnahm, schweigend und als sei nichts gewesen, verdammt ähnlich sah, sogar zum
Verwechseln. Vielleicht war er gar nicht tot und merkte es erst jetzt, all die
Zeit hat der King unter uns gelebt und wir haben ihn nicht erkannt! Heute, am
16. November 1999, die Welt pilgerte seit 22 Jahren zu einem leeren Grab in
Memphis, würde er sein Comeback-Konzert geben im Purple Haze! In
Frauenkleidern? Nein, Pandareis Schrank enthielt nicht den üblichen Plunder,
den Frauen sich an den Leib zu schmeißen pflegen. Ihm lachte ein Anzug entgegen,
über und über mit blauen, weißen und roten Glasperlen besetzt, die funkelten
heller als tausend Sonnen. Plenten mußte die Augen schließen und erst langsam
wieder öffnen, um sich an den Glanz zu gewöhnen, wie gestern bei dem Konzert
für Pandarei, als er ihr in die blauen Augen blickte. Pandarei? Wo war sie
jetzt wirklich? War sie im Endeffekt nur ein Hirngespinst oder die Idee einer
Frau oder die Idee Frau, der er gestern, von seinen Fesseln befreit und fähig,
sich kurz von der Höhlenwand abzuwenden, ansichtig wurde? Von einem bloßen
Schatten den Blick zu wenden auf das Wahre, das Eigentliche, den Rock'n'Roll?
Daß es sich hier nicht um Pandareis Zimmer oder das eines normal Sterblichen
handeln konnte, war offensichtlich. Denn der King hatte sich hier 22 Jahre lang
versteckt gehalten, und heute würde er sich der Welt wieder offenbaren, ihr
neue Hoffnung aus vollen Fässern ausschenken. Ja, er mußte heute singen für
sich, für die Welt, für den Rock'n'Roll! Ja, das war es! Und das Rufen wird in
alle Winkel der Erde dringen und jedes Ohr aufwecken und zur Wahrheit führen,
auch Pandareis Ohren und auch sie wird zu ihm finden!
In diesem Freudentaumel sagte er sich, daß er jetzt nichts falsch machen
dürfe. Er beschloß, sich abzulenken. Heinz hatte etwas von Lesen gesagt. Das
war keine schlechte Idee. Wie lange hatte er schon keinen Roman mehr in den
Fingern gehabt! Auf dem Fenstersims lag ein Buch, "Der Idiot" von
Dostojewski, irgendwo, noch relativ am Anfang, lag ein Hundertmarkschein
zwischen den Seiten. Er wollte allerdings von vorne anfangen zu lesen und er
las und las, und er wurde fortgerissen nach Petersburg, vielmehr die Menschen
wurden fortgerissen und waren nun vor seinem Bett, auf dem er jetzt völlig
nackt lag - nichts sollte den Zugriff des großen Geistes auf ihn behindern -
sie waren da und handelten vor seinen Augen nur für ihn. Eigene Menschen nur
für ihn geschrieben! Mit dem festen Vorsatz, irgendwann nach Rußland zu gehen
und dort Romane zu schreiben, fiel er wieder in leichten Schlaf...
Als er erwachte, war es draußen bereits dunkel. Benommen tastete er sich
zum Schrank, um sich das Elviskostüm anzuziehen. Darüber streifte er seinen
Friesennerz, da er nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig erregen wollte. Er
vergaß nicht, den Hundertmarkschein einzustecken. Kurz vor dem großen Auftritt
war ihm nicht sehr wohl zumute. Er hatte bisher nur im Traum gesungen. Wer
sagte, daß er sich dieses Mal auf dieselbe Band verlassen könne, wer sagte, daß
er dieses Mal überhaupt eine Band haben würde, vielleicht hätte er sich ja
selbst darum kümmern müssen.
Vielleicht war alles nur ein schlechter Scherz oder ein böser Traum. Er
würde jetzt rausgehen und irgendwelche Polizisten würden ihm sagen , daß er
verhaftet sei wegen Einbruchs und wegen Diebstahls. So unwillkommen wäre es ihm
gar nicht, den Winter im Gefängnis zu verbringen, denn wer würde ihm die
Geschichte glauben?
Er sagte sich, daß er sich zumindest äußerlich nichts anmerken lassen
dürfe, schloß also die Tür hinter sich und ging den Kilometer zum Purple Haze
durch die hellerleuchteten Straßen. Wenig Fußgänger, aber natürlich musternde
Blicke, die er gewohnt war, diesmal sogar ein wenig genoß. Wenn es sich
tatsächlich um ein Mißverständnis handelte, würde er es bald wissen und sich
zurücklehnen und den weiteren Verlauf der Ereignisse abwarten können. Er fühlte
sich wie in einem interaktiven Kinofilm, einem französischen vielleicht.
Irgendwann würden die Lichter angehen, er säße noch ein paar Minuten gefesselt
in seinem Sessel, dann könnte er wieder nach draußen gehen in die Kälte. Bis
dahin mußte er aber versuchen, sich möglichst gut unterhalten zu lassen. Jede
Show ist gerade so gut wie ihr Publikum. An diesem Prinzip wollte er
festhalten, er wollte das beste Publikum sein, vor dem das Leben je hatte
spielen dürfen.
Ohne daß ihn der Gedanke beschlich, daß er sich damit einiges vorgenommen
hatte, kam er vor dem mittelgroßen, einstöckigen Haus an, ganz in grün, in
verschnörkelter Schrift "Purple Haze" rot daraufgepinselt. Das war
auch noch älter als er. Die feuerrote Brandtür ließ sich öffnen und er stand in
einem schmalen Gang, der mit Plakaten tapeziert war und der in einen dicken
Vorhang mündete. Das letzte Plakat kündigte "Plenten & the great
Rock'n'Roll Swindle" an. Er war darauf abgebildet mit seiner neuen Frisur
und seinem neuen Anzug, dahinter die Jungs von der Band aus seinem Traum.
Natürlich, eigentlich war mit dem Namen schon alles klar. Gerade als er
davorstand, öffnete sich der Vorhang und ein älterer, vollbärtiger Mann mit
langem, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haar in einem schwarzen Anzug
trat heraus. Es war sein Bassist.
"Mensch, Plenten, da bist du ja endlich. Wir hätten beinahe ohne
dich angefangen. Das Publikum wird schon nervös."
Genau das wurde Plenten jetzt auch. Noch könnte er einfach "Auf
Wiedersehn" sagen und in der Nacht verschwinden. Doch der Bärtige riß ihm
schon den Friesennerz vom Leib und schob ihn dann durch den Vorhang, wo alles
nur auf ihn wartete: die Lichter, die Menschen und die Band.
Wie betäubt ging er zur Bühne, vor der unzählige Leute standen. Das
Konzert war hoffnungslos ausverkauft. Man bildete eine Gasse, man klatschte,
einige versuchten, ihn zu berühren. Er sah Gesichter, sah Lichter, sah die Bar,
nahm nichts richtig wahr. Er war sich jetzt sicher, daß das alles nur ein Film
war, kein besonders origineller.
Und dann stand er vor der Bühne, das heißt, es handelte sich gar nicht um
eine richtige Bühne, sondern um ein 50 Zentimeter hohes Podest, das von seinen
Füßen noch erklommen werden mußte. Er glaubte, daß sie das nicht schaffen
würden. Außerdem war es so klein und eng, kaum die Band fand genügend Platz.
Sollte das etwa der Raum für das Comeback des Kings sein?
Da erklangen die ersten Takte, die Band hatte begonnen. Die Menge geriet
in Bewegung. Die Nacht, die Musik und dein Mund, das war letztendlich der
Grund, der ihn die letzte Hürde doch überwinden ließ, ihn vor die Masse unter
seinen Füßen treten ließ, um, das Mikrofon in der Hand, seine Botschaft ins
Volk zu tragen.
Mit einem Mal war es für ihn Erinnerung, alles, die Band, die Songs,
alles war ihm seit Jahren bekannt, die Songs, es kam ihm vor als hätte er sie
selbst geschrieben. Die Lichter, die Menschen, alles wurde zu einem bunten
Teppich, der eine Kugel formte, die sich zu drehen anfing, sich erhob über die Köpfe,
die Häuser dieser Stadt, dieses Planeten, empor zu den Sternen, wo er sich
wieder ausrollte und Plenten war allein im Universum, es gab nur noch die
kosmische Musik, die Sterne, die Zahlenverhältnisse. Plenten wurde selbst zu
einem lebendigen Ton jener Harmonie, die das All durchflutet und die von den
Erdlingen nur nach dreißigjährigem Schweigen wahrgenommen wird. Er sah sie, wie
sie Kriege machten und sich das Leben nahmen und er sah die Sonne, wie sie
aufging und wie sie sich in die Arme fielen und sich liebten wie Geschwister,
die sich fünfzig Jahre lang nicht gesehen, nur Briefe und Lebensmittelpakete
geschickt hatten. Wie sie komplizierte Rhythmen trommelten, an heiße Orte
flogen.
Als der letzte Applaus verklungen war - Plenten hatte das Gefühl, daß er
zwischen dem Betreten der Bühne und ihrem Verlassen gerade einen Atemzug
getätigt hatte - und die Leute noch ein Bier bestellten, um den
Flüssigkeitsverlust einigermaßen auszugleichen, trat aus dem Dunkel Alexandra
auf ihn zu. Verschüchtert stellte sie sich in unverbindlicher Nähe zu ihm auf
und schaute verstohlen zu ihm hin. Es sah so aus, als fielen ihr lange
vorausgedachte Worte nicht mehr ein oder als weigerten sie sich, das
liebgewonnene Gehege ihrer Zähne zu verlassen.
"Hallo, gibt's was Neues?", sagte er.
"Ja", stieß sie unter hysterischem Kreischen aus,
"Rock'n'Roll forever".
Sie riß die Arme hoch und klatschte in die Hände. Offensichtlich erkannte
sie ihn nicht wieder, was ihn nicht sehr verwunderte, war er sich selbst doch
nicht mehr sicher, ob er er war. Vermutlich überforderte sie die Situation, da
nicht sie ihn, sondern er, der wiedergeborene König des Rock'n'Roll, sie
angesprochen hatte. Jetzt wußte er selbst nicht mehr, wie er reagieren sollte.
Kurz leuchtete der Gedanke, daß das Ganze unglaublich sei, in seinem Gehirn
auf, nur kurz. Schließlich entschied er sich für ein kurzes
"Großartig", weil er glaubte, dadurch Zeit zu gewinnen.
Sie gewann ihre Fassung wieder und sagte ihm, daß sie nur gekommen sei,
um um ein kleines Autogramm anzufragen. Er erwiderte, daß das gar kein Problem
sei und ob sie denn heute ihren freien Tag habe und ob sie denn schon etwas von
Pandarei gehört habe.
"Pandarei? Sie kennen Pandarei?"
"Natürlich, ich hab geträumt von ihr, ist sie wieder da?"
Entsetzt stellte sie fest, daß sie Pandarei und den Penner vergessen
hatte in ihrer Begeisterung, ihrem Superstar leibhaftig gegenüberzustehen.
Plenten sah ein, daß es keinen Sinn hatte, sich weiter mit ihr darüber zu
unterhalten. Er hatte einen Fan vor sich und nicht das Mädchen von gestern. Er
überlegte, ob er sie diesmal überreden könnte, ihn zu sich in die Wohnung zu
lassen...
"Weißt du, ich bin da so gegangen zum Bahnhof und so und da sah ich
also so ein altes Mütterlein, genau da, wo immer dieser eine Penner im
Friesennerz sitzt, da steht also die Alte und schaut in den Boden, starrt die
ganze Zeit nur runter und jeder, der vorbeigeht verneigt sich kurz, man will
sich doch nichts entgehen lassen, aber auch nicht neugierig sein. Anstatt daß
irgend jemand gefragt hätte, ob ihr schlecht ist oder so..."
"Hast denn du gefragt?"
"Nein, ich wollte gerade, als ein seriös aussehender Herr, ich halte
ihn für einen Studierten, sie packt und irgend etwas sagt, sich vielleicht
wirklich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt, als die alte plötzlich auffährt und
ihm ins Gesicht schlägt und schreit - ich hätte nicht gedacht, daß ein Mensch
so eine Stimme haben kann. Ob wir denn alle blind seien, ob wir denn gar nichts
verstanden hätten, sie habe diese Stadt schon einmal in Trümmern liegen sehen,
und das Rumoren im Boden, dieses ständige Brummen, von dem wir nichts
wahrnähmen, sei nur das erste Anzeichen für die endgültige Vernichtung. Das
Ganze wäre nett gewesen, hätte sie nicht ununterbrochen auf den hilfsbereiten,
jetzt hilflosen Mann eingeschlagen."
"Hat er sich das etwa gefallen lassen?"
"Zuerst wollte er keine Gewalt anwenden, doch als die Alte ihm immer
ernsthaftere Verletzungen beibrachte - er blutete tatsächlich schon aus
mehreren Stellen im Gesicht - versucht er, ihre Arme festzuhalten Er hielt es
wohl für einen epileptischen Anfall, doch die Alte schrie und spuckte weiter
und bekam sogar die Arme wieder frei. Da packte er sie und würgte sie."
"Dann bist du aber dazwischengegangen."
"Nein, ich bin weitergegangen. Ich will da in nichts verwickelt
werden, weißt du. Ich war schon spät dran. Lange hätte die Alte sowieso nicht
mehr gelebt."
"Hat er sie denn erwürgt?"
"Ich habe nur noch einen erstickten, schrillen Schrei vernommen.
Lies doch die Zeitung!"
Plenten hatte still dem Gespräch am Tresen durch das Klanggestrüpp, das
jetzt aus den Boxen wucherte, gelauscht. Alexandra, die ebenfalls zugehört
hatte, stand vor ihm und sagte nichts, lächelte verlegen. Ihr wäre es nicht
unangenehm gewesen, wenn er das nächste Wort gesagt hätte, sich zum Beispiel zu
ihr eingeladen hätte.
Er jedoch war ganz in Gedanken versunken. Es bestand kein Zweifel, daß es
sich bei der Alten um Sweet Little Susie gehandelt hatte. Sie lebte oder besser
hatte wie er auf der Straße gelebt. Ihr Alter war undefinierbar, irgendwas
zwischen 40 und 90. Danach gefragt, hätte sie wahrscheinlich jedem etwas
anderes geantwortet, je nach Lust und Laune, manchem wohl gar nichts. Sie war
ein äußerst bescheidenes Wesen gewesen, hin und wieder mal ein Bier im Sommer,
Musik und Tanz, wenn es nichts kostete. Sie war eine begnadete Tänzerin, als
wäre sie ihre ersten Lebensjahre nur mit Rhythmus gefüttert worden. Man konnte
sie mit dem Adjektiv schmutzig bezeichnen, wenn man es sich leicht machen
wollte, und natürlich rankten um ihre Person unzählige Legenden. Eine davon
erzählte, daß sie im Dritten Reich eine große Schauspielerin und Sängerin
gewesen sei und daß sich eine Nazigröße in sie verliebt habe und daß sie
letztendlich der große Stolperstein in seiner Karriere gewesen sei. Außerdem
sei sie sowohl mit Willy Brandt als auch mit Mick Jagger im Bett gewesen und
zwar in derselben Nacht. Hin und wieder war sie dann plötzlich verschwunden,
mal nur wenige Wochen, mal länger, und immer hieß es dann, die große, graue
Königin der Straße habe sich zurückgezogen, um ihren letzten Tanz zu tanzen.
Und jedesmal war sie dann wieder aufgetaucht irgendwo. Einmal sogar in
Begleitung eines wesentlich jüngeren Mannes und auffällig geschminkt und
herausgeputzt. Plenten fand damals, daß sie einen gewissen erotischen Glanz
durchaus ausstrahle, und er bezeichnete sich nicht unbedingt als gerophil. Sie
war intelligent und redete nahezu nur in Bildern, fast schon prophetisch. Keine
Frage, sie war eine Heilige.
Deswegen kam auch Plenten die Warnung keineswegs lächerlich vor. Irgend
etwas mußte sich tatsächlich da unten befinden. Ihm wurde bewußt, daß auch der
Theaterraum in seinem Traum unterirdisch gewesen war und daß sich gerade dort
das erste Zusammentreffen mit Pandarei ergeben hatte. Es war ihm klar, daß die
Ereignisse der letzten eineinhalb Tage sich kaum rationell ohne Weiteres
erklären ließen. Jemand hatte massiv in ihr Leben eingegriffen. Bisher hatte
ihn das amüsiert und das erste Mal kam ihm jetzt die Idee, daß dahinter ein
Plan stecken könnte, ein böser. Er als Teil eines Zerstörungswerks, ein Mittel
zum Zweck, seine ganze Freiheit im Eimer, nur weil er sich einmal wieder vom
schnöden Mammon hatte verführen lassen.
"Also tschüs, ich glaub, ich muß jetzt gehen, Arbeit morgen und so,
vielleicht sieht man sich mal wieder."
Plenten blickte sie an, eigentlich war sie nicht schlimmer als die
anderen. Diese Philister sind alle selbst schuld an ihrem Unglück. Überall, wo
sie ein Stück Unmündigkeit auf der Straße herumliegen sehen, stürzen sie sich
wie die Aasgeier darauf. Jeder will der erste sein, sich bevormunden lassen.
Und dabei bilden sie sich auch noch was auf ihre Freiheit ein, meinen sogar, es
bedauern zu müssen, dazu verdammt zu sein. Wer hat ihnen nur gesagt, daß die
paar Seiten grauen Papiers, die sie jeden morgen auf ihrem Frühstückstisch
fanden und die paar bewegten Bilder, die sich jeden Abend nicht genierten, auf
ihrem Schirm zu behaupten, daß sie wahr seien, sie befähigten, die Geschicke
der Welt zu lenken? Sweet Little Susie hatte sie einer Pferdebremse gleich von
dem Stroh vor und in ihrem Kopf vertrieben und war zerdrückt worden zwischen
pulsierendem, menschlichen Fleisch und kaltem, niemals lebendigem Asphalt. Ach,
hätten sie doch ihn erdrosselt, dann könnte er sich zurecht als Märtyrer und
nicht als ihr Held fühlen und bräuchte keine Entschuldigung für seine Arroganz.
"Ja, geh doch, du kleines Stück Niemandsland, ich werde mich nicht
mehr bei dir melden, nicht heute und nicht morgen."
Seinen Augen war es tatsächlich gelungen, ein paar Tränen auf dem Weg
seine Wangen hinab, der Schwerkraft anzuvertrauen.
Wie sie sich dann verwundert umdrehte und so davonschritt, so nett
lächerlich sexy herausgeputzt mit ihren enganliegenden Jeans, ihrer
durchsichtigen Bluse und ihrem Spitzen-BH, spitz ihr Schritt wie ihre Stiefel,
tat sie ihm fast ein wenig leid, sie, die morgen all ihren Freunden, Bekannten
und Verwandten erzählen konnte, daß große Künstler zwar alles hätten, worum
Leute sie beneiden könnten, trotzdem aber nie richtig glücklich sein könnten,
weil Menschen nämlich nie richtig glücklich sein können. Sie bleibe da schon
lieber eine kleine Saftschleppe, denn das letzte, was sie gebrauchen könne, sei
eine Depression.
Der Bassist kam auf Plenten zu und fragte ihn, ob er Lust habe eine
kleine Runde Schafkopf mitzuspielen. Plenten war über diesen Vorschlag
überrascht, aber nicht unangenehm und willigte ein. Sie verschwanden in einem
Nebenraum neben dem Klo, der jeden Verirrten mit einem "Privat" von
seiner Tür abwies. Plenten dachte noch, daß er nie daran gedacht hätte, daß
sich ihm jemals die Welt hinter einem solchen Schild auftun würde und trat ein.