Kapitel 3: Purple Haze

Ein Mann mit einer Lesebrille auf der Nasenspitze saß auf dem Stuhl und war ganz in die Lektüre einer Boulevardzeitung vertieft. Seine rotblonden Haare wiesen schon deutliche Lücken auf; die seitlich etwas längeren waren dazu bestimmt die Defizite ein wenig auszugleichen, was am Morgen und wohl auch mehrmals im Lauf des Tages einen nicht unerheblichen Kämmaufwand verursachte. Sein rundes Gesicht war durchaus sympathisch. Seine kleinen, braunen, jetzt sehr angestrengten Augen funkelten munter. Sein Mund sah aus, als sei er einem breiten, lauten Lachen jederzeit und an jedem Ort nicht abgeneigt. Die Nase fügte sich bereitwillig dem allgemeinen Rund und war sorgsam bedacht, nicht allzuviel Platz einzunehmen. Er war mittelgroß und begann schon deutlich erkennbar Altersspeck anzusetzen. Gekleidet war er in eine graue, weite Stoffhose und einen weinroten Pullover, unter dem ein blauweiß gestreiftes Hemd verborgen war, das nur seinen Kragen beifallheischend und um Aufmerksamkeit bettelnd in die warme, gemütliche Luft des Zimmers strecken durfte. Seine Finger bewegten sich immer ein wenig nervös am Rand des Zeitungspapiers auf und ab und nahmen dabei einige Milligramm Druckerschwärze auf. Ein Politiker habe geweint, als er vom Tode seiner Mutter während einer Sitzung erfahren habe, verkündete das Blatt lauthals. Seine Füße, die in schwarzen Lackschuhen und dunkelgrünen Wollsocken steckten, scharrten auf dem Boden offenbar zum Takte der Musik, das Kölnkonzert von Keith Jarett, ein schöner Guten-Morgen-Kuß.

"Morgen. Wollte dich nicht wecken. Ich hab dir ein Frühstück mitgebracht."

Plenten war noch sehr benommen von dem seltsamen Traum.

"'n Morgen". Er wollte das Mißverständnis erst aufklären, wenn er gegessen hatte. Er stand auf, setzte sich auf den Stuhl und machte sich darüber her, Wiener Würstchen und Weizenbier, beides lauwarm. Der andere war währenddessen zum Fenster gegangen und hockte halb auf dem Sims.

"Es ist natürlich zwischenzeitlich kalt geworden; ich bin schon eine Zeitlang hier. Das muß gestern eine wilde Nacht gewesen sein, du steckst ja noch in deinen Klamotten, die Schuhe hättest du ausziehen können. Ich hoffe, du hast heute abend übrigens etwas anderes an."

Plenten formte unter dem Kauen ein Lachen, da er ein Zucken der Mundwinkel des Mannes als Hinweis deutete, den letzten Satz als einen Witz zu verstehen. Er nahm einen tiefen Schluck aus dem Weizenglas und fühlte sich gestärkt genug die Konversation mit dem Fremden aufzunehmen.

"Wer sind Sie eigentlich?", sagte er Reste hinunterschluckend.

"Mensch, Plenten, das muß ja wirklich wild zugegangen sein, daß du deinen alten Freund Heinz Sieweich nicht mehr kennst."

"Morgen , Heinzi."

"Ja, Heinzi muß jetzt leider wieder gehen, weil Heinzi nicht den ganzen Tag im Bett liegen und Bücher lesen kann. Komm bitte heute abend pünktlich, das Purple Haze harrt deiner sehnsüchtig. Bis dann."

Er hatte die Tür schon geöffnet, als Plenten in einer erneuten Kaubewegung sagte: "Das Purple Haze?"

"Ja, um sechs und schlaf noch ein Weilchen! Wenn es dann noch nicht besser ist, könntest du nach Amerika fliegen und dir einen Wunderheimer gegen die Alzspritze holen."

Auch das war allen Ernstes als Witz gemeint. Darüber brach Plenten in schallendes Gelächter aus, was Heinz verunsicherte. Er sah keinen anderen Ausweg als auch zu explodieren, sein Fröhlichkeitsausbruch war sogar noch zu hören, als er das Treppenhaus hinabschritt. Kopfschüttelnd schloß Plenten die Tür, die jener offengelassen hatte.

Das Purple Haze war der heißeste Liveclub der Stadt. Unzählige, auch große Künstler hatten hier schon Halt gemacht auf ihrer Durchreise. Nobnoj Smada soll dort vor ewig langer Zeit sein erstes Konzert vor größerem Publikum gegeben haben. Damals, als er noch wirklich gut war. Plenten sollte offenbar heute abend dasselbe tun. Er fand, daß er als Rockstar im Traum gar keine schlechte Figur abgegeben hatte. Doch Heinz hatte Recht, wenn er ihm empfahl, andere Kleider anzuziehen. Er dachte sich, daß es vielleicht eine gute Idee sei, einmal in Frauenkleidern zu spielen und wollte schon Pandareis Schrank durchwühlen, als er feststellte beim flüchtigen Vorbeigehen an dem Claptonspiegel, daß er nicht mehr ganz der Alte war: Sein Bart war verschwunden, sein Haar geschnitten, vorne bildete es eine wunderschöne Locke. Er fand, daß er dem King, der jetzt wieder seinen gewohnten Platz über dem Bett einnahm, schweigend und als sei nichts gewesen, verdammt ähnlich sah, sogar zum Verwechseln. Vielleicht war er gar nicht tot und merkte es erst jetzt, all die Zeit hat der King unter uns gelebt und wir haben ihn nicht erkannt! Heute, am 16. November 1999, die Welt pilgerte seit 22 Jahren zu einem leeren Grab in Memphis, würde er sein Comeback-Konzert geben im Purple Haze! In Frauenkleidern? Nein, Pandareis Schrank enthielt nicht den üblichen Plunder, den Frauen sich an den Leib zu schmeißen pflegen. Ihm lachte ein Anzug entgegen, über und über mit blauen, weißen und roten Glasperlen besetzt, die funkelten heller als tausend Sonnen. Plenten mußte die Augen schließen und erst langsam wieder öffnen, um sich an den Glanz zu gewöhnen, wie gestern bei dem Konzert für Pandarei, als er ihr in die blauen Augen blickte. Pandarei? Wo war sie jetzt wirklich? War sie im Endeffekt nur ein Hirngespinst oder die Idee einer Frau oder die Idee Frau, der er gestern, von seinen Fesseln befreit und fähig, sich kurz von der Höhlenwand abzuwenden, ansichtig wurde? Von einem bloßen Schatten den Blick zu wenden auf das Wahre, das Eigentliche, den Rock'n'Roll? Daß es sich hier nicht um Pandareis Zimmer oder das eines normal Sterblichen handeln konnte, war offensichtlich. Denn der King hatte sich hier 22 Jahre lang versteckt gehalten, und heute würde er sich der Welt wieder offenbaren, ihr neue Hoffnung aus vollen Fässern ausschenken. Ja, er mußte heute singen für sich, für die Welt, für den Rock'n'Roll! Ja, das war es! Und das Rufen wird in alle Winkel der Erde dringen und jedes Ohr aufwecken und zur Wahrheit führen, auch Pandareis Ohren und auch sie wird zu ihm finden!

In diesem Freudentaumel sagte er sich, daß er jetzt nichts falsch machen dürfe. Er beschloß, sich abzulenken. Heinz hatte etwas von Lesen gesagt. Das war keine schlechte Idee. Wie lange hatte er schon keinen Roman mehr in den Fingern gehabt! Auf dem Fenstersims lag ein Buch, "Der Idiot" von Dostojewski, irgendwo, noch relativ am Anfang, lag ein Hundertmarkschein zwischen den Seiten. Er wollte allerdings von vorne anfangen zu lesen und er las und las, und er wurde fortgerissen nach Petersburg, vielmehr die Menschen wurden fortgerissen und waren nun vor seinem Bett, auf dem er jetzt völlig nackt lag - nichts sollte den Zugriff des großen Geistes auf ihn behindern - sie waren da und handelten vor seinen Augen nur für ihn. Eigene Menschen nur für ihn geschrieben! Mit dem festen Vorsatz, irgendwann nach Rußland zu gehen und dort Romane zu schreiben, fiel er wieder in leichten Schlaf...

Als er erwachte, war es draußen bereits dunkel. Benommen tastete er sich zum Schrank, um sich das Elviskostüm anzuziehen. Darüber streifte er seinen Friesennerz, da er nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig erregen wollte. Er vergaß nicht, den Hundertmarkschein einzustecken. Kurz vor dem großen Auftritt war ihm nicht sehr wohl zumute. Er hatte bisher nur im Traum gesungen. Wer sagte, daß er sich dieses Mal auf dieselbe Band verlassen könne, wer sagte, daß er dieses Mal überhaupt eine Band haben würde, vielleicht hätte er sich ja selbst darum kümmern müssen.

Vielleicht war alles nur ein schlechter Scherz oder ein böser Traum. Er würde jetzt rausgehen und irgendwelche Polizisten würden ihm sagen , daß er verhaftet sei wegen Einbruchs und wegen Diebstahls. So unwillkommen wäre es ihm gar nicht, den Winter im Gefängnis zu verbringen, denn wer würde ihm die Geschichte glauben?

Er sagte sich, daß er sich zumindest äußerlich nichts anmerken lassen dürfe, schloß also die Tür hinter sich und ging den Kilometer zum Purple Haze durch die hellerleuchteten Straßen. Wenig Fußgänger, aber natürlich musternde Blicke, die er gewohnt war, diesmal sogar ein wenig genoß. Wenn es sich tatsächlich um ein Mißverständnis handelte, würde er es bald wissen und sich zurücklehnen und den weiteren Verlauf der Ereignisse abwarten können. Er fühlte sich wie in einem interaktiven Kinofilm, einem französischen vielleicht. Irgendwann würden die Lichter angehen, er säße noch ein paar Minuten gefesselt in seinem Sessel, dann könnte er wieder nach draußen gehen in die Kälte. Bis dahin mußte er aber versuchen, sich möglichst gut unterhalten zu lassen. Jede Show ist gerade so gut wie ihr Publikum. An diesem Prinzip wollte er festhalten, er wollte das beste Publikum sein, vor dem das Leben je hatte spielen dürfen.

Ohne daß ihn der Gedanke beschlich, daß er sich damit einiges vorgenommen hatte, kam er vor dem mittelgroßen, einstöckigen Haus an, ganz in grün, in verschnörkelter Schrift "Purple Haze" rot daraufgepinselt. Das war auch noch älter als er. Die feuerrote Brandtür ließ sich öffnen und er stand in einem schmalen Gang, der mit Plakaten tapeziert war und der in einen dicken Vorhang mündete. Das letzte Plakat kündigte "Plenten & the great Rock'n'Roll Swindle" an. Er war darauf abgebildet mit seiner neuen Frisur und seinem neuen Anzug, dahinter die Jungs von der Band aus seinem Traum. Natürlich, eigentlich war mit dem Namen schon alles klar. Gerade als er davorstand, öffnete sich der Vorhang und ein älterer, vollbärtiger Mann mit langem, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haar in einem schwarzen Anzug trat heraus. Es war sein Bassist.

"Mensch, Plenten, da bist du ja endlich. Wir hätten beinahe ohne dich angefangen. Das Publikum wird schon nervös."

Genau das wurde Plenten jetzt auch. Noch könnte er einfach "Auf Wiedersehn" sagen und in der Nacht verschwinden. Doch der Bärtige riß ihm schon den Friesennerz vom Leib und schob ihn dann durch den Vorhang, wo alles nur auf ihn wartete: die Lichter, die Menschen und die Band.

Wie betäubt ging er zur Bühne, vor der unzählige Leute standen. Das Konzert war hoffnungslos ausverkauft. Man bildete eine Gasse, man klatschte, einige versuchten, ihn zu berühren. Er sah Gesichter, sah Lichter, sah die Bar, nahm nichts richtig wahr. Er war sich jetzt sicher, daß das alles nur ein Film war, kein besonders origineller.

Und dann stand er vor der Bühne, das heißt, es handelte sich gar nicht um eine richtige Bühne, sondern um ein 50 Zentimeter hohes Podest, das von seinen Füßen noch erklommen werden mußte. Er glaubte, daß sie das nicht schaffen würden. Außerdem war es so klein und eng, kaum die Band fand genügend Platz. Sollte das etwa der Raum für das Comeback des Kings sein?

Da erklangen die ersten Takte, die Band hatte begonnen. Die Menge geriet in Bewegung. Die Nacht, die Musik und dein Mund, das war letztendlich der Grund, der ihn die letzte Hürde doch überwinden ließ, ihn vor die Masse unter seinen Füßen treten ließ, um, das Mikrofon in der Hand, seine Botschaft ins Volk zu tragen.

Mit einem Mal war es für ihn Erinnerung, alles, die Band, die Songs, alles war ihm seit Jahren bekannt, die Songs, es kam ihm vor als hätte er sie selbst geschrieben. Die Lichter, die Menschen, alles wurde zu einem bunten Teppich, der eine Kugel formte, die sich zu drehen anfing, sich erhob über die Köpfe, die Häuser dieser Stadt, dieses Planeten, empor zu den Sternen, wo er sich wieder ausrollte und Plenten war allein im Universum, es gab nur noch die kosmische Musik, die Sterne, die Zahlenverhältnisse. Plenten wurde selbst zu einem lebendigen Ton jener Harmonie, die das All durchflutet und die von den Erdlingen nur nach dreißigjährigem Schweigen wahrgenommen wird. Er sah sie, wie sie Kriege machten und sich das Leben nahmen und er sah die Sonne, wie sie aufging und wie sie sich in die Arme fielen und sich liebten wie Geschwister, die sich fünfzig Jahre lang nicht gesehen, nur Briefe und Lebensmittelpakete geschickt hatten. Wie sie komplizierte Rhythmen trommelten, an heiße Orte flogen.

Als der letzte Applaus verklungen war - Plenten hatte das Gefühl, daß er zwischen dem Betreten der Bühne und ihrem Verlassen gerade einen Atemzug getätigt hatte - und die Leute noch ein Bier bestellten, um den Flüssigkeitsverlust einigermaßen auszugleichen, trat aus dem Dunkel Alexandra auf ihn zu. Verschüchtert stellte sie sich in unverbindlicher Nähe zu ihm auf und schaute verstohlen zu ihm hin. Es sah so aus, als fielen ihr lange vorausgedachte Worte nicht mehr ein oder als weigerten sie sich, das liebgewonnene Gehege ihrer Zähne zu verlassen.

"Hallo, gibt's was Neues?", sagte er.

"Ja", stieß sie unter hysterischem Kreischen aus, "Rock'n'Roll forever".

Sie riß die Arme hoch und klatschte in die Hände. Offensichtlich erkannte sie ihn nicht wieder, was ihn nicht sehr verwunderte, war er sich selbst doch nicht mehr sicher, ob er er war. Vermutlich überforderte sie die Situation, da nicht sie ihn, sondern er, der wiedergeborene König des Rock'n'Roll, sie angesprochen hatte. Jetzt wußte er selbst nicht mehr, wie er reagieren sollte. Kurz leuchtete der Gedanke, daß das Ganze unglaublich sei, in seinem Gehirn auf, nur kurz. Schließlich entschied er sich für ein kurzes "Großartig", weil er glaubte, dadurch Zeit zu gewinnen.

Sie gewann ihre Fassung wieder und sagte ihm, daß sie nur gekommen sei, um um ein kleines Autogramm anzufragen. Er erwiderte, daß das gar kein Problem sei und ob sie denn heute ihren freien Tag habe und ob sie denn schon etwas von Pandarei gehört habe.

"Pandarei? Sie kennen Pandarei?"

"Natürlich, ich hab geträumt von ihr, ist sie wieder da?"

Entsetzt stellte sie fest, daß sie Pandarei und den Penner vergessen hatte in ihrer Begeisterung, ihrem Superstar leibhaftig gegenüberzustehen.

Plenten sah ein, daß es keinen Sinn hatte, sich weiter mit ihr darüber zu unterhalten. Er hatte einen Fan vor sich und nicht das Mädchen von gestern. Er überlegte, ob er sie diesmal überreden könnte, ihn zu sich in die Wohnung zu lassen...

"Weißt du, ich bin da so gegangen zum Bahnhof und so und da sah ich also so ein altes Mütterlein, genau da, wo immer dieser eine Penner im Friesennerz sitzt, da steht also die Alte und schaut in den Boden, starrt die ganze Zeit nur runter und jeder, der vorbeigeht verneigt sich kurz, man will sich doch nichts entgehen lassen, aber auch nicht neugierig sein. Anstatt daß irgend jemand gefragt hätte, ob ihr schlecht ist oder so..."

"Hast denn du gefragt?"

"Nein, ich wollte gerade, als ein seriös aussehender Herr, ich halte ihn für einen Studierten, sie packt und irgend etwas sagt, sich vielleicht wirklich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt, als die alte plötzlich auffährt und ihm ins Gesicht schlägt und schreit - ich hätte nicht gedacht, daß ein Mensch so eine Stimme haben kann. Ob wir denn alle blind seien, ob wir denn gar nichts verstanden hätten, sie habe diese Stadt schon einmal in Trümmern liegen sehen, und das Rumoren im Boden, dieses ständige Brummen, von dem wir nichts wahrnähmen, sei nur das erste Anzeichen für die endgültige Vernichtung. Das Ganze wäre nett gewesen, hätte sie nicht ununterbrochen auf den hilfsbereiten, jetzt hilflosen Mann eingeschlagen."

"Hat er sich das etwa gefallen lassen?"

"Zuerst wollte er keine Gewalt anwenden, doch als die Alte ihm immer ernsthaftere Verletzungen beibrachte - er blutete tatsächlich schon aus mehreren Stellen im Gesicht - versucht er, ihre Arme festzuhalten Er hielt es wohl für einen epileptischen Anfall, doch die Alte schrie und spuckte weiter und bekam sogar die Arme wieder frei. Da packte er sie und würgte sie."

"Dann bist du aber dazwischengegangen."

"Nein, ich bin weitergegangen. Ich will da in nichts verwickelt werden, weißt du. Ich war schon spät dran. Lange hätte die Alte sowieso nicht mehr gelebt."

"Hat er sie denn erwürgt?"

"Ich habe nur noch einen erstickten, schrillen Schrei vernommen. Lies doch die Zeitung!"

Plenten hatte still dem Gespräch am Tresen durch das Klanggestrüpp, das jetzt aus den Boxen wucherte, gelauscht. Alexandra, die ebenfalls zugehört hatte, stand vor ihm und sagte nichts, lächelte verlegen. Ihr wäre es nicht unangenehm gewesen, wenn er das nächste Wort gesagt hätte, sich zum Beispiel zu ihr eingeladen hätte.

Er jedoch war ganz in Gedanken versunken. Es bestand kein Zweifel, daß es sich bei der Alten um Sweet Little Susie gehandelt hatte. Sie lebte oder besser hatte wie er auf der Straße gelebt. Ihr Alter war undefinierbar, irgendwas zwischen 40 und 90. Danach gefragt, hätte sie wahrscheinlich jedem etwas anderes geantwortet, je nach Lust und Laune, manchem wohl gar nichts. Sie war ein äußerst bescheidenes Wesen gewesen, hin und wieder mal ein Bier im Sommer, Musik und Tanz, wenn es nichts kostete. Sie war eine begnadete Tänzerin, als wäre sie ihre ersten Lebensjahre nur mit Rhythmus gefüttert worden. Man konnte sie mit dem Adjektiv schmutzig bezeichnen, wenn man es sich leicht machen wollte, und natürlich rankten um ihre Person unzählige Legenden. Eine davon erzählte, daß sie im Dritten Reich eine große Schauspielerin und Sängerin gewesen sei und daß sich eine Nazigröße in sie verliebt habe und daß sie letztendlich der große Stolperstein in seiner Karriere gewesen sei. Außerdem sei sie sowohl mit Willy Brandt als auch mit Mick Jagger im Bett gewesen und zwar in derselben Nacht. Hin und wieder war sie dann plötzlich verschwunden, mal nur wenige Wochen, mal länger, und immer hieß es dann, die große, graue Königin der Straße habe sich zurückgezogen, um ihren letzten Tanz zu tanzen. Und jedesmal war sie dann wieder aufgetaucht irgendwo. Einmal sogar in Begleitung eines wesentlich jüngeren Mannes und auffällig geschminkt und herausgeputzt. Plenten fand damals, daß sie einen gewissen erotischen Glanz durchaus ausstrahle, und er bezeichnete sich nicht unbedingt als gerophil. Sie war intelligent und redete nahezu nur in Bildern, fast schon prophetisch. Keine Frage, sie war eine Heilige.

Deswegen kam auch Plenten die Warnung keineswegs lächerlich vor. Irgend etwas mußte sich tatsächlich da unten befinden. Ihm wurde bewußt, daß auch der Theaterraum in seinem Traum unterirdisch gewesen war und daß sich gerade dort das erste Zusammentreffen mit Pandarei ergeben hatte. Es war ihm klar, daß die Ereignisse der letzten eineinhalb Tage sich kaum rationell ohne Weiteres erklären ließen. Jemand hatte massiv in ihr Leben eingegriffen. Bisher hatte ihn das amüsiert und das erste Mal kam ihm jetzt die Idee, daß dahinter ein Plan stecken könnte, ein böser. Er als Teil eines Zerstörungswerks, ein Mittel zum Zweck, seine ganze Freiheit im Eimer, nur weil er sich einmal wieder vom schnöden Mammon hatte verführen lassen.

"Also tschüs, ich glaub, ich muß jetzt gehen, Arbeit morgen und so, vielleicht sieht man sich mal wieder."

Plenten blickte sie an, eigentlich war sie nicht schlimmer als die anderen. Diese Philister sind alle selbst schuld an ihrem Unglück. Überall, wo sie ein Stück Unmündigkeit auf der Straße herumliegen sehen, stürzen sie sich wie die Aasgeier darauf. Jeder will der erste sein, sich bevormunden lassen. Und dabei bilden sie sich auch noch was auf ihre Freiheit ein, meinen sogar, es bedauern zu müssen, dazu verdammt zu sein. Wer hat ihnen nur gesagt, daß die paar Seiten grauen Papiers, die sie jeden morgen auf ihrem Frühstückstisch fanden und die paar bewegten Bilder, die sich jeden Abend nicht genierten, auf ihrem Schirm zu behaupten, daß sie wahr seien, sie befähigten, die Geschicke der Welt zu lenken? Sweet Little Susie hatte sie einer Pferdebremse gleich von dem Stroh vor und in ihrem Kopf vertrieben und war zerdrückt worden zwischen pulsierendem, menschlichen Fleisch und kaltem, niemals lebendigem Asphalt. Ach, hätten sie doch ihn erdrosselt, dann könnte er sich zurecht als Märtyrer und nicht als ihr Held fühlen und bräuchte keine Entschuldigung für seine Arroganz.

"Ja, geh doch, du kleines Stück Niemandsland, ich werde mich nicht mehr bei dir melden, nicht heute und nicht morgen."

Seinen Augen war es tatsächlich gelungen, ein paar Tränen auf dem Weg seine Wangen hinab, der Schwerkraft anzuvertrauen.

Wie sie sich dann verwundert umdrehte und so davonschritt, so nett lächerlich sexy herausgeputzt mit ihren enganliegenden Jeans, ihrer durchsichtigen Bluse und ihrem Spitzen-BH, spitz ihr Schritt wie ihre Stiefel, tat sie ihm fast ein wenig leid, sie, die morgen all ihren Freunden, Bekannten und Verwandten erzählen konnte, daß große Künstler zwar alles hätten, worum Leute sie beneiden könnten, trotzdem aber nie richtig glücklich sein könnten, weil Menschen nämlich nie richtig glücklich sein können. Sie bleibe da schon lieber eine kleine Saftschleppe, denn das letzte, was sie gebrauchen könne, sei eine Depression.

Der Bassist kam auf Plenten zu und fragte ihn, ob er Lust habe eine kleine Runde Schafkopf mitzuspielen. Plenten war über diesen Vorschlag überrascht, aber nicht unangenehm und willigte ein. Sie verschwanden in einem Nebenraum neben dem Klo, der jeden Verirrten mit einem "Privat" von seiner Tür abwies. Plenten dachte noch, daß er nie daran gedacht hätte, daß sich ihm jemals die Welt hinter einem solchen Schild auftun würde und trat ein.

weiter

zurück