PANDAREI & PLENTEN -

DIE RÜCKKEHR DER UNTERIRDISCHEN

 

 

 

 

 

  

 

Ein philosophischer Science Fiction-Trashroman

 

 

 

 

 

 

Für Mona,

die nicht weiß warum

 

 

 

 

 

 

 

Menschen haben keine Ahnung

(Schorsch Kamerun)

 

 

Die Welt geht nicht unter, das sieht nur so aus

(anonym)

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1: Novemberabend

Pandarei blickte auf den riesigen Berg schmutzigen Geschirrs und dachte wieder daran, wie übel ihr doch das Leben mitspielte. Das künstliche Licht und die unangenehm gelben Fliesen hier unten trugen nicht zur Besserung ihrer angeschlagenen Stimmung bei. Außer dem Plätschern des Wassers und dem Klirren des Geschirrs, das durch ihre Hände eine eingehende Reinigung erfuhr, stimmten noch die Schritte der über ihr vorbeigehenden Passanten und die rasenden Autos mit ihren viel zu laut eingestellten Radios in diese traurige Symphonie mit ein. Haßerfüllt ruhten ihre Augen auf den trüben Kellerfenstern, jenseits von ihnen gingen die Leute in ihrer Freiheit herum, die benzolgeschwängerte frische Luft genießend, und nahmen ihr Glück gar nicht richtig wahr.

An Feierabend war noch lange nicht zu denken, denn immer noch strömten dicke, cholesterinverseuchte Menschen durch die Tore dieses Füttertempels, um ihren Körper und ihre Seele weiter zu vergiften. Oh, wenn sie nur könnte...

Schritte waren jetzt auch hinter ihr zu vernehmen. Gleich würde sie angeschrien werden, sie lasse sich zuviel Zeit, es gebe Hunderte, die sich um diesen Job die Finger lecken würden. Sie, als das schwächste Glied einer Kette von menschlich-kulturellen Armutszeugnissen, hatte bestenfalls noch die Möglichkeit, ihrem Frust im Zerdrücken von Küchenschaben Luft zu machen.

Doch nicht Worte, sondern leibhaftige Arme faßten sie von hinten und sie hatte noch Sekundenbruchteile Zeit, um sich über die latente Erotik dieser Grobheit zu freuen bis Schwarz und Nacht sie umgaben.

Zweieinhalb Meter höher saß auf dem Gehsteig vor einem Gourmetrestaurant ein Mann, gerade zweiundzwanzig Jahre, mit langem, lockigen Haar, dunkel, und wildem Bart und hing nicht weniger düsteren Gedanken nach. Seine Kleidung war sehr heruntergekommen und entsprach genau dem, was man einem Penner anziehen würde, um ihn stilecht wirken zu lassen: blaue Jeans, Friesennerz, kaputte Turnschuhe und auf dem Kopf eine Wollmütze. So malte er mit an dieser Komposition aus Gelb: Gelb das Gebäude, an dem er lehnte, gelb das Licht, das aus dem Kellerfenster strömte, gelb der Briefkasten, der seiner linken Schulter Halt war.

Eigentlich saß er hier auf der falschen Straßenseite, denn gegenüber wären viel mehr potentielle Spender vorübergegangen. Gegenüber, wo die Leute in einen Bekleidungssupermarkt liefen, um, wo sie doch gerade mühevoll alles Kultische und Metaphysische aus ihrer Welt geschleudert hatten, aus den Dingen, die lediglich dazu bestimmt waren ihre Haut vor Kälte und Nässe zu schützen, neue Fetische, ähnlich jenen Objekten, die lediglich dazu bestimmt waren, sie die Strecke zwischen zwei Punkten schnell und im Genuß schlechter Radiomusik zurücklegen zu lassen, zu schaffen. So ist die Geschichte nun eine Abfolge von Dostojewski- und Tolstoiphasen, die sich untereinander nur durch gesteigerte Trivialität unterscheiden. Das Gebäude gegenüber war ein Klotz, in elegantem Grau gehalten, stilvoll und geschmacklos durch bunte Neonreklame durchbrochen, die in der gerade einsetzenden Dämmerung ihre volle Pracht entfaltete. Einzig der südländische Geigenspieler störte, dessen grinsendes Gesicht und heitermelodische Weisen jeden vorbeigehenden zehn Meter mit Geborgenheit, Harmonie und Italienwärme versorgten.

Wahrscheinlich unbewußt hatte Plenten - so der Name des Penners - aber vor dem alten Haus Platz genommen, um so dem Gelb noch eine weitere Variation hinzuzufügen. Dieses begann wieder an Charme zu gewinnen, da es allmählich die Auswirkungen der Renovierung, die es vor fünfzehn Jahren schweigend hatte über sich ergehen lassen müssen, ignorierte. Das unpassend gelbe Gelb nahm wieder seinen Straßendreckgrauton an und paßte sich damit dem Friesennerz Plentens an , der dieses Kunststück in wesentlich kürzerer Zeit geschafft hatte.

Die Leute erbarmten sich hin und wieder, ein paar kleine Münzen "für Essen, nicht für Alkohol" fallen zu lassen. Von einem Kellerfenster stieg ein wenig Wärme auf, das Geschirrgeräusch jedoch erinnert ihn immer an das Loch im Magen, das seinem Gefühl nach mittlerweile doppelt so groß sein mußte wie sein ganzer Körper. Wenn er jedoch in diese unzähligen, apathischen, glücklosen Gesichter schaute, die in Wirklichkeit widerlich und häßlich waren, wußte er, daß alles wertlos war und daß er, wenn er auch nur einen Schritt diesen Menschen entgegenginge, er seine Seele für immer verraten und verkauft hätte. Er wollte lieber im Dreck zu Stein erstarren und ein Teil dieser Straße werden, die zum Bahnhof führte und vielleicht einmal eine guten Menschen fort von hier tragen würde an einen besseren Ort, an dem es immer warm war, als unter einer Glühdrahtmetallrohrsonne an Herzhirnverfettung zu krepieren.

Er nahm einen Schluck aus einer Zweiliterflasche Billigwein und schaute grimmig vergnügt auf eine Alte, die sich ganz in Empören wiegte. Sie hatte ein Leben lang gearbeitet für ihre fünf Kinder und ihren Mann, der sie jeden Tag, wenn er betrunken nach Hause kam, zuerst verprügelte und dann vergewaltigte. Sie hatte allen Grund in ihm wahren Abschaum zu sehen, da er nicht eine zufriedene Miene zur Schau stellen mußte, die seit jeher ihr Gesicht quälte. Er macht keinen Hehl daraus, daß er mit Kräften daran arbeitete, sein Leben zu ruinieren. Sie hatte im Prinzip immer dasselbe getan und mußte sich jetzt, wo es für sie und die Welt zu spät war, einreden, es im Großen und Ganzen richtig gemacht zu haben.

Während er sich auf sie fixiert hatte, war ihm entgangen, daß sich der Inhalt des McDonald's-Bechers vor ihm um einen zusammengefalteten Zettel erweitert hatte. Er nahm ihn heraus und las nach dem Auffalten die drei Worte: "Hilf mir! Pandarei".

Er blickte die Straße auf und ab, um jemanden zu entdecken, von dem die Botschaft stammen könnte, mußte aber feststellen, daß jeder seinen gewohnten Gang hatte. In dem Moment schrie einer unter ihm "Pandarei, wo steckst du?", es klang sehr verärgert. Es folgte eine Reihe von Worten, die wenig Leute glücklich gemacht hätten, wären sie mit ihnen bezeichnet worden.

Er stand auf und betrat das Nobelrestaurant, da es sich offensichtlich um einen Notfall handelte. Doch kaum hatte er sich zwei Meter weit in den hellerleuchteten Raum hineinbewegt, als auch schon ein dunkelhaariger, sonnenstudiobrauner Kellner ihn mit den Worten "Wir sind leider voll. Wenn Sie nicht reserviert haben, müssen wir sie bitten, das Lokal zu verlassen." hinausschmeißen wollte. Plenten versuchte zu erklären, daß es sich um einen Notfall handle, daß sich eine Person namens Pandarei in großer Gefahr befinde, obwohl ihr Verschwinden offenbar noch nicht von allen bemerkt worden sei.

Das schien den Kellner, der mittlerweile Verstärkung von zwei Klonen und einem Glatzkopf bekommen hatte, herzlich wenig zu interessieren, denn er brachte etwas unmißverständlicher seine Aufforderung, das Lokal zu verlassen, erneut vor. Da aber Plenten sich davon nicht beeindrucken ließ, sondern weiter darauf bestand, zur Rettung der Person Pandarei in den Keller des Restaurants vorgelassen zu werden, sahen sich die vier Frackgrößen gezwungen, ihren Worten nun Taten folgen zu lassen und Plenten gewaltsam auf die Straße, wo solches Gesindel ja schließlich hingehört, zu befördern. Laut fluchend und das "arrogante Kapitalistenpack" verwünschend faßte Plenten, während er sich vom kalten Asphalt erhob, den Beschluß, nie mehr bedrängten Menschen zu Hilfe zu eilen, da man am Ende immer selbst der Dumme sei.

Dieses nun wirklich nicht appetitanregende Intermezzo hatte im Inneren eine gewisse Unruhe erregt. Jeder hatte andere Details wahrgenommen und man arbeitete nun fieberhaft an der Wahrheitsfindung, um denen, die sich gerade auf der Toilette oder anderswo aufgehalten hatten, genau berichten zu können. Aus dem Keller kam ein aufdringlich gutgekleideter Mann mit dicker Nickelbrille, groß, dunkelkurzhaarig, der wissen wollte, was denn los sei. Ihm wurde von einem der Klonen mitgeteilt, daß sich soeben Abschaum an der Tür gezeigt habe. Abschaum, der mit einem Blatt Papier wedelnd, sich nicht von der Falschheit seiner Behauptung, im Keller werde die Abspülkraft gefoltert, habe überzeugen lassen und den man deshalb auf die Straße, wo solches Gesindel ja schließlich hingehöre, befördert habe. Verärgert und bemüht, dem Vorfall möglichst wenig Bedeutung beimessen zu müssen, murmelte der Kellner aus dem Keller: "Bringt diese Pandarei wieder zum Arbeiten. Nach Feierabend sagt ihr, daß heute ihr letzter Tag hier war!" Die arme Pandarei konnte allerdings nicht mehr aufgefunden werden, ihren ganzen letzten Tag nicht, und man war gezwungen, über das Spülloch hinweg zu improvisieren.

Im allgemeinen Aufruhr war eine kleine Aushilfsbedienung dem Verursacher desselben nachgeeilt.

"Warten Sie!" rief sie.

Er wollte weitergehen, wurde aber am Arm gepackt und hielt, noch einen Rest gute Seele im Leib, in seinem Vorwärtsdrang inne.

"Woher kennen Sie Pandarei?"

"Ich kenne sie nicht, sie befindet sich nur in Gefahr und hat mir die außerordentliche Ehre erwiesen, mich um ihre Errettung zu bitten."

"Was wissen Sie von Pandarei?"

"Gar nichts. Sind Sie Pandarei?"

"Nein, aber wenn sie in Gefahr ist, müssen wir alles tun, um ihr zu helfen. Können Sie mich anrufen?"

"Habe keine Wohnung und kein Telefon. Auf Wiedersehen."

Sie durchwühlte hastig die Taschen ihrer Schürze, aus der sie schließlich ein paar Münzen hervorholte.

"Hier", sagte sie, "130154, bitte."

Er nickte und sah sie verschwinden.

Er räumte nicht wie gewohnt seinen Platz, um für die Nacht einen wärmeren Unterschlupf zu suchen, sondern wartete bis zur Schließung des Restaurants auf der Straße, sah diese von immer weniger Menschen passiert werden, aussterben. Er ertrug auch die Kälte ohne aus seiner ansonsten unentbehrlichen Flasche zu trinken. Es kann sein, daß ihn nur die Hoffnung auf ein Lager für die Nacht, mit vier festen Wänden, einem Dach und beheizt, all dies ertragen ließ. Er wartete gegenüber in einem Hauseingang, aus dem den ganzen Tag die wunderbare Geigenmusik erklungen war.

Wie er dort stand, verlor er nach und nach das Gefühl für seinen Körper, wurde ausschließlich Auge und Ohr, nur noch Wahrnehmung. Der Zeitstrom änderte seinen geraden Fluß und krümmte und wand sich, wurde zum See. Eine Müdigkeit überkam ihn, die ihn in einen Zuschauer im Kino verwandelte. Überhaupt nichts sprach dafür, daß diese Straße noch Teil jener Wirklichkeit war, in der er selbst handelte. Es geschah wenig, so wenig wie in einem Wim-Wenders-Film, es war aber nicht so langweilig wie in einem Wim-Wenders-Film.

Irgendwann verließen drei englischsprechende Herren das Lokal, um diesem herrlichen Geschäftstag noch gebührend abzuschließen, die letzten Gäste. Drinnen wurde aufgeräumt, nach und nach ging das Personal aus dem immer dunkler werdenden Bau bis nur noch aus dem Kellerfenster Licht drang, das schließlich auch noch erlosch. Es dauerte einige Augenblicke bis der Grund von Plentens stehendem Warten den ersten Schritt vor die Tür setzte, um den qualvoll herbeigesehnten Nachhauseweg anzutreten.

Plenten trat aus dem Schatten des Hauseingangs wieder in die Wirklichkeit, das Spielfeld, die Bühne. Da sie die Schritte hinter ihr nervös machten, beschleunigte sie ihren Gang. Als ihr Verfolger daraufhin seine Geschwindigkeit ebenfalls erhöhte, wurde sie langsamer, aus Unwillen, sich jetzt noch mit Problemen auseinanderzusetzen. Ihretwegen konnte man sie von hinten packen, ihr die Kleider vom Leib reißen, sie vergewaltigen, anschließend in Teile schneiden und Stück für Stück an berühmte Persönlichkeiten aus Politik und Kultur im Land schicken.

Wenigstens hätte sie dann den langen Heimweg nicht mehr vor sich und wäre ein für allemal ihre Probleme los. An Pandarei und den Vorfall dachte sie nicht mehr, obwohl deren plötzliches Verschwinden ihr nicht nur die unwillkommenen Überstunden, sondern auch einige sorgenvolle Gedanken - immerhin waren sie fast Freundinnen - bereitet hatten. Aber im Lauf des Abends hatte die Erschöpfung alles andere hochkant aus ihrem Körper und Kopf geschmissen.

Rasch hatte er sie eingeholt, klopfte auf ihre Schulter. Ein kurzer Augenblick des Zusammenzuckens und Erschreckens, umdrehen und erkennen, Erleichterung.

"Sie sind es."

"Mein Name ist Plenten."

"Ich bin Alexandra."

"Weißt du, warum Pandarei sich in Gefahr befindet?"

"Nein, ich weiß nur, daß sie verschwunden ist, als du im Lokal aufgetaucht bist."

"Wer ist sie ?"

"Pandarei hat im selben Haus wie ich ein Zimmer. Ich habe ihr den Job verschafft."

"In der Küche?"

"Als Hilfe. Im Prinzip mußte sie nur Geschirr waschen im Keller."

"Vielleicht hatte sie einfach keine Lust mehr, den Fußabtreter für die feine Gesellschaft zu spielen und ist abgehaut. Wie wäre das?"

"Und dann bittet sie einen Penner, der sie nicht einmal kennt und der selbst auf die Abfälle dieser feinen Gesellschaft angewiesen ist, um seine bescheidene, aber gutgemeinte Mithilfe bei... ja, bei was eigentlich?"

Während ihres Gesprächs hatten sie einen Fußmarsch unternommen, zuerst durch die hellerleuchtete Bahnhofstraße, dann in immer kleinere Straßen, die nicht ganz ungefährlich aussahen bis sie am Ende einer Sackgasse vor einem gewaltigen, grauen Schuhkarton standen. Es wäre jetzt folglich der Zeitpunkt gekommen, in dem sie ihn zu sich in die Wohnung auf einen Schluck Tee hätte hinauf bitten müssen, wenn sie Wert darauf gelegt hätte, ihr Gespräch fortzusetzen.

"Hier wohne ich. Du kannst dich morgen mal bei mir melden, dann kann ich dir sagen, ob sich irgendwas Neues ergeben hat."

"Du hältst es also nicht für nötig, sofort etwas zu unternehmen?"

"Was denn? Melde dich einfach, vielleicht hat sie keine Lust mehr gehabt, den Fußabstreifer zu spielen..."

Die letzten Worte hatte sie gähnend hervorgebracht. Die Konversation hatte ihre Müdigkeit nur kurze Zeit verdrängt und die kam unvermittelt wieder, möglicherweise weil sie die Nähe einer weichen, warmen Matratze spürte.

"Heute nicht!" blinkte es in Plentens Gehirn in Neonschrift auf, als sie den Schlüssel ins Schloß steckte und die Tür öffnete, die nach ihrem Verschwinden nur langsam wieder zufiel, während sie bereits die Treppe hochstieg. In dem Moment riß er die Tür noch mal auf, um ebenfalls in das Dunkel des Hauses einzutauchen, und schloß sie dann gut hörbar. Er horchte und konnte feststellen, daß sie ihre Schritte nicht verlangsamt hatte, sein Eindringen unbemerkt vonstatten gegangen war.

Er wartete bis die Geräusche auf der Treppe verklungen waren, ihre Wohnung sie verschluckt hatte und er zum einzigen Säuger in diesem Treppenhaus geworden war. Seine Augen hatten sich schon soweit an die Finsternis gewöhnt, daß er die Aufschriften an den Klingelknöpfen des Erdgeschosses mit Hilfe des durch ein Fenster über der Eingangstür einfallenden Straßenlichts lesen konnte.

 

Kapitel 2: Träume

Der Heartbreaker-Riff von Led Zeppelin durchriß die Stille des Raums, wobei es sich nicht unbedingt um einen Raum handeln mußte, denn seine Wände, wenn er sie besaß, lagen vollkommen im Dunkeln.

Sie fühlte Weiches unter sich, konnte aber nur erahnen, auf was sie lag. Das einzig sichtbare war ein scheinbar frei schwebender Teller und ein Glas daneben, beides gefüllt und von einer nicht erkennbaren Lichtquelle angestrahlt. Da sie tatsächlich Bedürfnis nach Eßbarem hatte, setzte sie sich vorsichtig in Richtung des Tellers in Bewegung. Als sie ihre Füße aufsetzte, fühlte sie ordinären Stein unter sich.

Auf dem Teller lagen ein Paar Wiener Würstchen, Senf und eine Scheibe Brot, im Glas Weizenbier, alles lauwarm. Sie begann mit großem Appetit zu essen. Mit einem Mal waren bunte Kristalle vor ihren Augen und flogen immer schneller werdend in ungeometrischen Bahnen einen Kreis um sie bildend. Bald schien es, daß nicht die Kristalle sich bewegten, sondern sie selbst sich und die Welt um sie herum in völlige Ruhe versunken sei. Sie wurde emporgehoben und von unbekannten kosmischen Mächten in ein gewaltiges Spiel verwickelt. Ein Schwindel ergriff sie und gerade als sie drohte wieder, in Ohnmacht zu fallen, hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen. Sie fand sich in einem etwa zwei Meter breiten Gang wieder, dessen eines Ende in völliger Dunkelheit lag, der auf der anderen Seite aber in eine Tür mündete, die eine Spalt weit geöffnet war, dahinter war Licht.

Zögerlich geht sie darauf zu, da bemerkt sie, daß die Wände sich zur Mitte hin bewegen und sie beschleunigt ihren Schritt. Doch auch der Gang verschmälert sich schneller. Schreiend fällt sie zu Boden. Beim Wiederaufrichten sieht sie, daß die Mauern stillstehen. Eilend richtet sie sich auf und stürzt zur Tür. Als sie sie zu fassen bekommt, steckt sie fest, kein vor und kein zurück. Alle Befreiungsversuche bewirken nur, daß der Druck nur noch größer wird. Sie verliert das Bewußtsein.

Ein leiser Wind strich ihr um die Nase. Die Tür stand weit geöffnet. Sich überschlagend fiel sie in den Raum, es handelte sich um ein riesiges Theater. Nur die Bühne war beleuchtet., ein leichter Schwefelgeruch lag in der Luft.

Durch die leeren Sitzreihen ging sie vor zur Bühne. Auf ihrer Rückwand waren zwei aufgestellte Haifischflossen aufgemalt, darunter ein Rechteck.

Er war bis zum obersten Stockwerk emporgestiegen. Dort stand eine Tür zu einer Wohnung halb offen, drinnen war es hell erleuchtet und Musik - Rock'n'Roll - klang gedämpft hervor. Der Klingelknopf sagte ihm, daß seine Suche ein Ende habe. Glücklich, ihn nicht benutzen zu müssen, trat er beherzt ein. Es handelte sich um ein kleines Zimmer mit einem niedrigen Bett in der Ecke, der Tür gegenüber, einem quadratischen Fenster darüber, einem Kleiderschrank daneben, dann in der anderen Ecke ein Waschbecken mit Herdplatte und kleinem Kühlschrank, ein Tisch, ein Stuhl - Besuch wurde hier offenbar nur selten empfangen -, schließlich eine kleine Anrichte mit einer Stereoanlage darauf. Darüber, darunter, daneben unzählige Platten mit Musik, die älter war als er. Über dem Bett thronte überlebensgroß der King auf einem Plakat. Auch sonst waren die Wände eine große Rock'n'Roll-Gallerie, alle Großen hatten irgendwie hierher gefunden: Bilder von Chuck Berry, Zeitungsausschnitte von Lee Hazelwood und Nancy Sinatra, Haarlocken von Marilyn Monroe, Gitarrensaiten von Konrad Adenauer, zerrissene Hemden von Louis Armstrong und diverse ähnliche Fetische mehr.

Er beschloß, auf Pandarei zu warten, ging zu dem kleinen Kühlschrank neben der Herdplatte, fand darin einige Dosen Bier und nahm die Einladung dankend an. Auf dem Bett sitzend merkte er , wie müde er war und sank bald in tiefen Schlaf.

Da löste sich der King von der Wand und ging zu einem Spiegel mit der Originalunterschrift Eric Claptons, rot wie Lippenstift, er ging zu dem Spiegel, blickte tief hinein und sagte:

"Damned, I'm lookin' good!"

Dann verließ er den Raum, indem er Plenten mit eine Handbewegung zum Mitgehen aufforderte.

Der zögerte nicht lange und folgte ihm nach, denn wie oft fordert der King einen schon auf, ihm nachzufolgen im Leben? Doch als er auf den Gang trat, war niemand mehr zu sehen. Es war da auch kein Treppenhaus mehr und auch keine Stadt, sondern nur weites Feld, karges, leeres Land. Eine klare, helle Sommernacht, nur der Mond war getrübt: Ein Schmierfink hatte in krummen, roten Buchstaben "Tötet Nobnoj Smada!" daraufgeschrieben.

Nobnoj Smada war der Name eines bekannten Popstars, der alles, was er berührte in Gold verwandelte, Mikrophone, Gitarren und vor allem Schallplatten. Sein letzter Hit, den sogar die Kinder im Garten und die Alten im Heim mitsangen, war "I love you, because you have so blue eyes, because I love you", eine Ballade. Darüber hinaus war er ein äußerst erfolgreicher Schriftsteller, von Preisen überhäuft. Die größten Regisseure von ganz Hollywood stritten wie junge Hunde darum, seine Romane verfilmen zu dürfen. Dabei war er aber einer aus dem Volk, einer von uns geblieben, ebenso bescheiden und fromm, ganz ohne Starallüren. Jede Weihnacht fuhr er zu seinem fast tauben Mütterlein, die immer noch in einem ärmlichen Villenvorort von Los Angeles ihr kümmerliches Dasein fristete. Er bracht ihr dann Geschenke aus allen Ländern mit, in die ihn seine Tourneen führten, und sie hielten sich die Hände, weinten manchmal und gedachten der frühen Zeit, als er noch ein Kind gewesen war, eine harte Zeit: Der Vater war ein Säufer gewesen, der nur um wenige Stimmen die Präsidentschaft der USA verfehlt hatte, obwohl er kurz davor als größter Kinderpornohändler der westliche Hemisphäre entlarvt wurde von seinem nichtswürdigen Gegenkandidaten, der dann als Präsident die westliche Hemisphäre nahe an den Rand des wirtschaftlichen Ruins brachte, auch wenn er die gesamte Pornographie und den Vertrieb besser organisierte. Hart war es, als seine zersägte Leiche in der Mülltonne vor ihrem Haus von einem Kindermädchen entdeckt wurde. Die zugegeben nicht geringe Lebensversicherungssumme sicherte ihr Auskommen die nächsten Jahre, ließ sie gar zu einigem Wohlstand kommen, zumal die Mutter die Kontakte zur Pornoindustrie nie ganz abreißen ließ und einen guten Riecher für Investitionen besaß. Auch in der Schule war er immer ein Außenseiter gewesen, weil er nie mitmachte, wenn die anderen Jungs ihre Mitschülerinnen auf die Lehrertoilette zerrten, sie dort vergewaltigten und liegen ließen bis ein Lehrer kam, der sie dann ins Krankenhaus bringen konnte, ihre lebensgefährlichen Schnittverletzungen zu behandeln. Nein, er wirkte immer irgendwie abwesend, auch wenn er nur einmal beim Schnupfen von Kokain erwischt worden war, ein Träumer, der viel lieber Gedichte schrieb und Pornovideos anschaute als mit den anderen Baseball zu spielen. Er war ein begabtes und sensibles Kind und der Liebling aller Lehrer und Mädchen, was oft den Neid seiner Klassenkameraden erregte, die ihn dann mit Ledergürteln nackt auf ein Bett fesselten, ihm Stecknadeln unter die Finger- und Zehennägel schoben und ihn solange das Alphabet rückwärts aufsagen ließen bis er sich erbrach. Das alles trieb ihn nur noch weiter in die Isolation. Einzig bei seinem Großvater, einem jüdischen Neger mit indianischem Blut, dessen Eltern nach Deutschland ausgewandert waren und der im Zweiten Weltkrieg von dort wieder aus einem KZ mit Hilfe eines katholischen Priesters und eines Gartenhandschuhs nach Amerika fliehen konnte, einzig bei ihm fand er Zuflucht. Er war es auch, der ihm aus einem alten Fernseher und Schlachttierabfällen eine elektrische Gitarre baute, auf der er täglich stundenlang übte und auf der er Lieder komponierte, was ihn noch beliebter bei den Mädchen machte. Als er die Schikanen seiner Mitschüler nicht mehr länger ertragen konnte, packte er seine Sachen und seine Gitarre und tingelte durch Europa mit seinen Liedern, wo er in Glasgow vom Direktor einer Plattenfirma beim Einkaufen in der Fußgängerzone entdeckt wurde. Er kannte Smadas Namen noch von dessen Vater, weil er, bevor er ins Plattengeschäft eingestiegen war, ebenfalls pornographische Videos vertrieben hatte. Von nun an ging es steil bergauf in Nobnojs Karriere, alle seine Platten wurden große Hits, die Radiosender spielten seine Stücke auf und ab. Seine Tourneen führten ihn in die exotischsten Länder. In Afrika wurde sogar für ein Konzert in der Hauptstadt der dort tobende Bürgerkrieg unterbrochen. Höhepunkt dieses Events war, wie bei der sechsten Zugabe Rebellen in das Fußballstadion eindrangen, den Präsident ermordeten, ihn an Ort und Stelle brieten und aufaßen. Nobnoj bekam als Zeichen der Ehre und Achtung, die er auch bei den neuen Machthabern genoß, das Ohrläppchen, das beste Stück, in Petersiliensoße geschmort. Auch war er der erste westliche Popstar, der in China auf dem Platz des Himmlischen Friedens spielen durfte im Rahmenprogramm der Hinrichtung von vier Studenten, die etwas über den Durst getrunken hatten und dann angeblich revolutionäre Lieder grölend durch die Straßen gezogen waren. Das Ganze war ein Riesenereignis und wurde in alle Welt übertragen. Die Politiker überall lobten die grausame, menschenverachtende, aber gerechte Justiz Chinas und die Völkergemeinschaft wuchs noch enger zusammen. Erst im Nachhinein stellte sich heraus, daß die Studenten nicht revolutionäre Lieder, sondern Nobnojs damaligen Hit "I love you, I hold you, that's what I do" gesungen hatten, doch diese kleine Marginalie tat dem Freudentaumel, in dem sich damals Ost, West, Süd, Nord, Schwarz, Weiß, Kotzgrün, Blutrot und Eitergelb in die Arme fielen, keinen Abbruch. Drei Literatur- und ein Physiknobelpreisträger arbeiteten fieberhaft an seiner Biographie und jeder behauptete von sich, in der Silvesternacht 1998 auf einer Party in Melbourne mit ihm geschlafen zu haben, dabei war er in jener Nacht krank und betrunken in seinem Bett gelegen in seiner Wahlheimat Gelsenkirchen. Sein Leben wurde gerade zum siebten Mal verfilmt, das Drehbuch hatte er selbst verfaßt und Anthony Quinn spielte ihn als 8ojährigen Greis, der nach dem Atomkrieg den Überresten seiner Enkel seine Geschichte erzählte. Mit seinen gerade dreißig Jahren hatte er sich meisterhaft die nächsten fünfzig Jahre seines Lebens ausgedacht. Auch seine gerade sieben- und neunjährigen Töchter, die er von seiner ersten und zwölften Frau, die identisch waren, hatte, waren schon erfolgreiche Sängerinnen und Schauspielerinnen. Die jüngste hatte sogar vergangenes Jahr den "Edgar", den "Oskar" der amerikanischen Pornoindustrie, gewonnen für den besten gespielten Orgasmus. Er machte Werbung im Nachtfernsehen für Kondome, Fast-Food-Restaurants, Telefonsex und eine bessere Welt und spendete jedes Jahr 500 Dollar für verhungernde Kinder in Äthiopien.

Und nun hatte irgend jemand den Mond bemalt mit einer Aufforderung, einem solchen Menschen das Leben zu nehmen! Plenten wäre dieser sofort nachgekommen; er gehörte nämlich auch zu den Menschen, die damals ganz gerne dabeigewesen wären, als sie ihn ans Bett gefesselt und ihm Stecknadeln unter die Fingernägel geschoben hatten. Ja, so war das.

Er lief weiter über das Feld und rief abwechselnd Pandareis und des Kings Namen. Er achtete dabei nicht auf den Boden unter seinen Füßen, der plötzlich aufhörte, ihn zu tragen und ihn verschlang. Er fiel und fiel in eine Röhre und die wand sich und endete in einem Raum, der aussah wie eine Theatergarderobe. Es klopfte an der Tür und eine dumpfe Männerstimme sagte: "Noch zwei Minuten, Mr. Presley." Er riß die Tür, auf der ein goldener Stern klebte, auf , um des Besitzers der Stimme ansichtig zu werden, doch da war dann nur ein leerer Gang mit vielen Türen, die verschlossen waren und eine Treppe, die er schließlich hinaufstieg.

Als er auf der obersten Stufe angekommen war, stand er auf einer Bühne und die Band begann zu spielen, die ersten Takte von "His Latest Flame". Das Mikrofon stand einsam am Rande der Bühne und er nahm es mit einem lockeren Schwung, denn ein Mann muß tun ,was ein Mann tun muß. Mit stolzem, wildem Blick sang er den Song, dessen Text er nie gelernt hatte. Seine Stimme klang klar und fest, obwohl er früher nie einen Ton richtig getroffen hatte, so daß er sich nicht einmal als kleiner Junge in der Kirche hatte singen trauen. Und jetzt war alles wunderbar, er stand auf der Bühne und war ein Star! Die Band, alle Ausnahmemusiker, spielte nur für ihn und das ganze Universum stieg in die Harmonie mit ein. Die größte Rock'n'Roll-Show auf Erden!

Als er sich ein wenig an das blendende Scheinwerferlicht gewöhnt hatte, schaute er in den riesigen, leeren Zuschauerraum. Nur unmittelbar vor der Bühne stand ein blondes Mädchen mit Sommersprossen im Gesicht, etwas ungeschickt geschminkt, mit klaren, blauen Augen, einer auffälligen Nase, die das schmale, ovale Gesicht nicht schöner, aber viel interessanter machte. Ihr Blick, der von den vielen Tränen schon trübe geworden war, hatte immer noch einen kindlich-hoffnungsvollen Schimmer mit einem leichten Drang zu Riot und Revolution in letzter Zeit. Ihr Mund mit seinen schmalen, durch Rotstift verstärkten Lippen trug die Andeutung eines geheimnisvollen Lächelns, eines Lächelns, das nie zustande kam, das immer kurz vor seiner Vollendung in Salzwasser erstarrte. Darin lag eine unendlich schöne Traurigkeit und zugleich ein Gefühl der Geborgenheit Heute trieb sich auf ihren Gesicht auch der Ausdruck einer fast religiösen Verzückung, einer tiefen inneren Zufriedenheit herum und auch ein ungeübtes Auge konnte erkennen, daß das nicht oft vorkam.

Da stand sie! Noch viel schöner als er sie sich im Traum vorzustellen gewagt hatte, mit ihrer neckisch, blauen Jeanshose und ihrem enganliegenden, buntquergestreiften T-Shirt, mit ihrer Latexküchenschürze, auf der ein weinender Koch abgebildet war, der Zwiebeln schnitt. Doch die Zwiebeln waren keine Zwiebeln, sondern kleine Erdkugeln. Und der Koch weinte auch nicht wegen des Zwiebelsafts, sondern wegen eines kleinen schwarzen Männchens mit wallendem Vollbart, das ihn mit einer vorgehaltenen 45er zwang, weiterzumachen.

Plenten wollte auf sie zugehen, sie endlich in seine Arme schließen, aber das Kabel des Mikrofons schlang sich tückisch um seine Füße und er stürzte in einen Abgrund, einen tiefen, schwarzen. Alles war verschwunden bis auf die Dunkelheit und den Fall. Irgendwann - nach Stunden, wie es ihm schien - tauchte er ein in einen warmen, weißen Milchsee und er sank tiefer und tiefer in einen Schlaf, der seine tausendfachen Arme nach und nach um seinen Körper, um jedes einzelne Teil bis zum kleinsten Kapillar schloß.

 

Kapitel 3: Purple Haze

Ein Mann mit einer Lesebrille auf der Nasenspitze saß auf dem Stuhl und war ganz in die Lektüre einer Boulevardzeitung vertieft. Seine rotblonden Haare wiesen schon deutliche Lücken auf; die seitlich etwas längeren waren dazu bestimmt die Defizite ein wenig auszugleichen, was am Morgen und wohl auch mehrmals im Lauf des Tages einen nicht unerheblichen Kämmaufwand verursachte. Sein rundes Gesicht war durchaus sympathisch. Seine kleinen, braunen, jetzt sehr angestrengten Augen funkelten munter. Sein Mund sah aus, als sei er einem breiten, lauten Lachen jederzeit und an jedem Ort nicht abgeneigt. Die Nase fügte sich bereitwillig dem allgemeinen Rund und war sorgsam bedacht, nicht allzuviel Platz einzunehmen. Er war mittelgroß und begann schon deutlich erkennbar Altersspeck anzusetzen. Gekleidet war er in eine graue, weite Stoffhose und einen weinroten Pullover, unter dem ein blauweiß gestreiftes Hemd verborgen war, das nur seinen Kragen beifallheischend und um Aufmerksamkeit bettelnd in die warme, gemütliche Luft des Zimmers strecken durfte. Seine Finger bewegten sich immer ein wenig nervös am Rand des Zeitungspapiers auf und ab und nahmen dabei einige Milligramm Druckerschwärze auf. Ein Politiker habe geweint, als er vom Tode seiner Mutter während einer Sitzung erfahren habe, verkündete das Blatt lauthals. Seine Füße, die in schwarzen Lackschuhen und dunkelgrünen Wollsocken steckten, scharrten auf dem Boden offenbar zum Takte der Musik, das Kölnkonzert von Keith Jarett, ein schöner Guten-Morgen-Kuß.

"Morgen. Wollte dich nicht wecken. Ich hab dir ein Frühstück mitgebracht."

Plenten war noch sehr benommen von dem seltsamen Traum.

"'n Morgen". Er wollte das Mißverständnis erst aufklären, wenn er gegessen hatte. Er stand auf, setzte sich auf den Stuhl und machte sich darüber her, Wiener Würstchen und Weizenbier, beides lauwarm. Der andere war währenddessen zum Fenster gegangen und hockte halb auf dem Sims.

"Es ist natürlich zwischenzeitlich kalt geworden; ich bin schon eine Zeitlang hier. Das muß gestern eine wilde Nacht gewesen sein, du steckst ja noch in deinen Klamotten, die Schuhe hättest du ausziehen können. Ich hoffe, du hast heute abend übrigens etwas anderes an."

Plenten formte unter dem Kauen ein Lachen, da er ein Zucken der Mundwinkel des Mannes als Hinweis deutete, den letzten Satz als einen Witz zu verstehen. Er nahm einen tiefen Schluck aus dem Weizenglas und fühlte sich gestärkt genug die Konversation mit dem Fremden aufzunehmen.

"Wer sind Sie eigentlich?", sagte er Reste hinunterschluckend.

"Mensch, Plenten, das muß ja wirklich wild zugegangen sein, daß du deinen alten Freund Heinz Sieweich nicht mehr kennst."

"Morgen , Heinzi."

"Ja, Heinzi muß jetzt leider wieder gehen, weil Heinzi nicht den ganzen Tag im Bett liegen und Bücher lesen kann. Komm bitte heute abend pünktlich, das Purple Haze harrt deiner sehnsüchtig. Bis dann."

Er hatte die Tür schon geöffnet, als Plenten in einer erneuten Kaubewegung sagte: "Das Purple Haze?"

"Ja, um sechs und schlaf noch ein Weilchen! Wenn es dann noch nicht besser ist, könntest du nach Amerika fliegen und dir einen Wunderheimer gegen die Alzspritze holen."

Auch das war allen Ernstes als Witz gemeint. Darüber brach Plenten in schallendes Gelächter aus, was Heinz verunsicherte. Er sah keinen anderen Ausweg als auch zu explodieren, sein Fröhlichkeitsausbruch war sogar noch zu hören, als er das Treppenhaus hinabschritt. Kopfschüttelnd schloß Plenten die Tür, die jener offengelassen hatte.

Das Purple Haze war der heißeste Liveclub der Stadt. Unzählige, auch große Künstler hatten hier schon Halt gemacht auf ihrer Durchreise. Nobnoj Smada soll dort vor ewig langer Zeit sein erstes Konzert vor größerem Publikum gegeben haben. Damals, als er noch wirklich gut war. Plenten sollte offenbar heute abend dasselbe tun. Er fand, daß er als Rockstar im Traum gar keine schlechte Figur abgegeben hatte. Doch Heinz hatte Recht, wenn er ihm empfahl, andere Kleider anzuziehen. Er dachte sich, daß es vielleicht eine gute Idee sei, einmal in Frauenkleidern zu spielen und wollte schon Pandareis Schrank durchwühlen, als er feststellte beim flüchtigen Vorbeigehen an dem Claptonspiegel, daß er nicht mehr ganz der Alte war: Sein Bart war verschwunden, sein Haar geschnitten, vorne bildete es eine wunderschöne Locke. Er fand, daß er dem King, der jetzt wieder seinen gewohnten Platz über dem Bett einnahm, schweigend und als sei nichts gewesen, verdammt ähnlich sah, sogar zum Verwechseln. Vielleicht war er gar nicht tot und merkte es erst jetzt, all die Zeit hat der King unter uns gelebt und wir haben ihn nicht erkannt! Heute, am 16. November 1999, die Welt pilgerte seit 22 Jahren zu einem leeren Grab in Memphis, würde er sein Comeback-Konzert geben im Purple Haze! In Frauenkleidern? Nein, Pandareis Schrank enthielt nicht den üblichen Plunder, den Frauen sich an den Leib zu schmeißen pflegen. Ihm lachte ein Anzug entgegen, über und über mit blauen, weißen und roten Glasperlen besetzt, die funkelten heller als tausend Sonnen. Plenten mußte die Augen schließen und erst langsam wieder öffnen, um sich an den Glanz zu gewöhnen, wie gestern bei dem Konzert für Pandarei, als er ihr in die blauen Augen blickte. Pandarei? Wo war sie jetzt wirklich? War sie im Endeffekt nur ein Hirngespinst oder die Idee einer Frau oder die Idee Frau, der er gestern, von seinen Fesseln befreit und fähig, sich kurz von der Höhlenwand abzuwenden, ansichtig wurde? Von einem bloßen Schatten den Blick zu wenden auf das Wahre, das Eigentliche, den Rock'n'Roll? Daß es sich hier nicht um Pandareis Zimmer oder das eines normal Sterblichen handeln konnte, war offensichtlich. Denn der King hatte sich hier 22 Jahre lang versteckt gehalten, und heute würde er sich der Welt wieder offenbaren, ihr neue Hoffnung aus vollen Fässern ausschenken. Ja, er mußte heute singen für sich, für die Welt, für den Rock'n'Roll! Ja, das war es! Und das Rufen wird in alle Winkel der Erde dringen und jedes Ohr aufwecken und zur Wahrheit führen, auch Pandareis Ohren und auch sie wird zu ihm finden!

In diesem Freudentaumel sagte er sich, daß er jetzt nichts falsch machen dürfe. Er beschloß, sich abzulenken. Heinz hatte etwas von Lesen gesagt. Das war keine schlechte Idee. Wie lange hatte er schon keinen Roman mehr in den Fingern gehabt! Auf dem Fenstersims lag ein Buch, "Der Idiot" von Dostojewski, irgendwo, noch relativ am Anfang, lag ein Hundertmarkschein zwischen den Seiten. Er wollte allerdings von vorne anfangen zu lesen und er las und las, und er wurde fortgerissen nach Petersburg, vielmehr die Menschen wurden fortgerissen und waren nun vor seinem Bett, auf dem er jetzt völlig nackt lag - nichts sollte den Zugriff des großen Geistes auf ihn behindern - sie waren da und handelten vor seinen Augen nur für ihn. Eigene Menschen nur für ihn geschrieben! Mit dem festen Vorsatz, irgendwann nach Rußland zu gehen und dort Romane zu schreiben, fiel er wieder in leichten Schlaf...

Als er erwachte, war es draußen bereits dunkel. Benommen tastete er sich zum Schrank, um sich das Elviskostüm anzuziehen. Darüber streifte er seinen Friesennerz, da er nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig erregen wollte. Er vergaß nicht, den Hundertmarkschein einzustecken. Kurz vor dem großen Auftritt war ihm nicht sehr wohl zumute. Er hatte bisher nur im Traum gesungen. Wer sagte, daß er sich dieses Mal auf dieselbe Band verlassen könne, wer sagte, daß er dieses Mal überhaupt eine Band haben würde, vielleicht hätte er sich ja selbst darum kümmern müssen.

Vielleicht war alles nur ein schlechter Scherz oder ein böser Traum. Er würde jetzt rausgehen und irgendwelche Polizisten würden ihm sagen , daß er verhaftet sei wegen Einbruchs und wegen Diebstahls. So unwillkommen wäre es ihm gar nicht, den Winter im Gefängnis zu verbringen, denn wer würde ihm die Geschichte glauben?

Er sagte sich, daß er sich zumindest äußerlich nichts anmerken lassen dürfe, schloß also die Tür hinter sich und ging den Kilometer zum Purple Haze durch die hellerleuchteten Straßen. Wenig Fußgänger, aber natürlich musternde Blicke, die er gewohnt war, diesmal sogar ein wenig genoß. Wenn es sich tatsächlich um ein Mißverständnis handelte, würde er es bald wissen und sich zurücklehnen und den weiteren Verlauf der Ereignisse abwarten können. Er fühlte sich wie in einem interaktiven Kinofilm, einem französischen vielleicht. Irgendwann würden die Lichter angehen, er säße noch ein paar Minuten gefesselt in seinem Sessel, dann könnte er wieder nach draußen gehen in die Kälte. Bis dahin mußte er aber versuchen, sich möglichst gut unterhalten zu lassen. Jede Show ist gerade so gut wie ihr Publikum. An diesem Prinzip wollte er festhalten, er wollte das beste Publikum sein, vor dem das Leben je hatte spielen dürfen.

Ohne daß ihn der Gedanke beschlich, daß er sich damit einiges vorgenommen hatte, kam er vor dem mittelgroßen, einstöckigen Haus an, ganz in grün, in verschnörkelter Schrift "Purple Haze" rot daraufgepinselt. Das war auch noch älter als er. Die feuerrote Brandtür ließ sich öffnen und er stand in einem schmalen Gang, der mit Plakaten tapeziert war und der in einen dicken Vorhang mündete. Das letzte Plakat kündigte "Plenten & the great Rock'n'Roll Swindle" an. Er war darauf abgebildet mit seiner neuen Frisur und seinem neuen Anzug, dahinter die Jungs von der Band aus seinem Traum. Natürlich, eigentlich war mit dem Namen schon alles klar. Gerade als er davorstand, öffnete sich der Vorhang und ein älterer, vollbärtiger Mann mit langem, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haar in einem schwarzen Anzug trat heraus. Es war sein Bassist.

"Mensch, Plenten, da bist du ja endlich. Wir hätten beinahe ohne dich angefangen. Das Publikum wird schon nervös."

Genau das wurde Plenten jetzt auch. Noch könnte er einfach "Auf Wiedersehn" sagen und in der Nacht verschwinden. Doch der Bärtige riß ihm schon den Friesennerz vom Leib und schob ihn dann durch den Vorhang, wo alles nur auf ihn wartete: die Lichter, die Menschen und die Band.

Wie betäubt ging er zur Bühne, vor der unzählige Leute standen. Das Konzert war hoffnungslos ausverkauft. Man bildete eine Gasse, man klatschte, einige versuchten, ihn zu berühren. Er sah Gesichter, sah Lichter, sah die Bar, nahm nichts richtig wahr. Er war sich jetzt sicher, daß das alles nur ein Film war, kein besonders origineller.

Und dann stand er vor der Bühne, das heißt, es handelte sich gar nicht um eine richtige Bühne, sondern um ein 50 Zentimeter hohes Podest, das von seinen Füßen noch erklommen werden mußte. Er glaubte, daß sie das nicht schaffen würden. Außerdem war es so klein und eng, kaum die Band fand genügend Platz. Sollte das etwa der Raum für das Comeback des Kings sein?

Da erklangen die ersten Takte, die Band hatte begonnen. Die Menge geriet in Bewegung. Die Nacht, die Musik und dein Mund, das war letztendlich der Grund, der ihn die letzte Hürde doch überwinden ließ, ihn vor die Masse unter seinen Füßen treten ließ, um, das Mikrofon in der Hand, seine Botschaft ins Volk zu tragen.

Mit einem Mal war es für ihn Erinnerung, alles, die Band, die Songs, alles war ihm seit Jahren bekannt, die Songs, es kam ihm vor als hätte er sie selbst geschrieben. Die Lichter, die Menschen, alles wurde zu einem bunten Teppich, der eine Kugel formte, die sich zu drehen anfing, sich erhob über die Köpfe, die Häuser dieser Stadt, dieses Planeten, empor zu den Sternen, wo er sich wieder ausrollte und Plenten war allein im Universum, es gab nur noch die kosmische Musik, die Sterne, die Zahlenverhältnisse. Plenten wurde selbst zu einem lebendigen Ton jener Harmonie, die das All durchflutet und die von den Erdlingen nur nach dreißigjährigem Schweigen wahrgenommen wird. Er sah sie, wie sie Kriege machten und sich das Leben nahmen und er sah die Sonne, wie sie aufging und wie sie sich in die Arme fielen und sich liebten wie Geschwister, die sich fünfzig Jahre lang nicht gesehen, nur Briefe und Lebensmittelpakete geschickt hatten. Wie sie komplizierte Rhythmen trommelten, an heiße Orte flogen.

Als der letzte Applaus verklungen war - Plenten hatte das Gefühl, daß er zwischen dem Betreten der Bühne und ihrem Verlassen gerade einen Atemzug getätigt hatte - und die Leute noch ein Bier bestellten, um den Flüssigkeitsverlust einigermaßen auszugleichen, trat aus dem Dunkel Alexandra auf ihn zu. Verschüchtert stellte sie sich in unverbindlicher Nähe zu ihm auf und schaute verstohlen zu ihm hin. Es sah so aus, als fielen ihr lange vorausgedachte Worte nicht mehr ein oder als weigerten sie sich, das liebgewonnene Gehege ihrer Zähne zu verlassen.

"Hallo, gibt's was Neues?", sagte er.

"Ja", stieß sie unter hysterischem Kreischen aus, "Rock'n'Roll forever".

Sie riß die Arme hoch und klatschte in die Hände. Offensichtlich erkannte sie ihn nicht wieder, was ihn nicht sehr verwunderte, war er sich selbst doch nicht mehr sicher, ob er er war. Vermutlich überforderte sie die Situation, da nicht sie ihn, sondern er, der wiedergeborene König des Rock'n'Roll, sie angesprochen hatte. Jetzt wußte er selbst nicht mehr, wie er reagieren sollte. Kurz leuchtete der Gedanke, daß das Ganze unglaublich sei, in seinem Gehirn auf, nur kurz. Schließlich entschied er sich für ein kurzes "Großartig", weil er glaubte, dadurch Zeit zu gewinnen.

Sie gewann ihre Fassung wieder und sagte ihm, daß sie nur gekommen sei, um um ein kleines Autogramm anzufragen. Er erwiderte, daß das gar kein Problem sei und ob sie denn heute ihren freien Tag habe und ob sie denn schon etwas von Pandarei gehört habe.

"Pandarei? Sie kennen Pandarei?"

"Natürlich, ich hab geträumt von ihr, ist sie wieder da?"

Entsetzt stellte sie fest, daß sie Pandarei und den Penner vergessen hatte in ihrer Begeisterung, ihrem Superstar leibhaftig gegenüberzustehen.

Plenten sah ein, daß es keinen Sinn hatte, sich weiter mit ihr darüber zu unterhalten. Er hatte einen Fan vor sich und nicht das Mädchen von gestern. Er überlegte, ob er sie diesmal überreden könnte, ihn zu sich in die Wohnung zu lassen...

"Weißt du, ich bin da so gegangen zum Bahnhof und so und da sah ich also so ein altes Mütterlein, genau da, wo immer dieser eine Penner im Friesennerz sitzt, da steht also die Alte und schaut in den Boden, starrt die ganze Zeit nur runter und jeder, der vorbeigeht verneigt sich kurz, man will sich doch nichts entgehen lassen, aber auch nicht neugierig sein. Anstatt daß irgend jemand gefragt hätte, ob ihr schlecht ist oder so..."

"Hast denn du gefragt?"

"Nein, ich wollte gerade, als ein seriös aussehender Herr, ich halte ihn für einen Studierten, sie packt und irgend etwas sagt, sich vielleicht wirklich nach ihrem Wohlbefinden erkundigt, als die alte plötzlich auffährt und ihm ins Gesicht schlägt und schreit - ich hätte nicht gedacht, daß ein Mensch so eine Stimme haben kann. Ob wir denn alle blind seien, ob wir denn gar nichts verstanden hätten, sie habe diese Stadt schon einmal in Trümmern liegen sehen, und das Rumoren im Boden, dieses ständige Brummen, von dem wir nichts wahrnähmen, sei nur das erste Anzeichen für die endgültige Vernichtung. Das Ganze wäre nett gewesen, hätte sie nicht ununterbrochen auf den hilfsbereiten, jetzt hilflosen Mann eingeschlagen."

"Hat er sich das etwa gefallen lassen?"

"Zuerst wollte er keine Gewalt anwenden, doch als die Alte ihm immer ernsthaftere Verletzungen beibrachte - er blutete tatsächlich schon aus mehreren Stellen im Gesicht - versucht er, ihre Arme festzuhalten Er hielt es wohl für einen epileptischen Anfall, doch die Alte schrie und spuckte weiter und bekam sogar die Arme wieder frei. Da packte er sie und würgte sie."

"Dann bist du aber dazwischengegangen."

"Nein, ich bin weitergegangen. Ich will da in nichts verwickelt werden, weißt du. Ich war schon spät dran. Lange hätte die Alte sowieso nicht mehr gelebt."

"Hat er sie denn erwürgt?"

"Ich habe nur noch einen erstickten, schrillen Schrei vernommen. Lies doch die Zeitung!"

Plenten hatte still dem Gespräch am Tresen durch das Klanggestrüpp, das jetzt aus den Boxen wucherte, gelauscht. Alexandra, die ebenfalls zugehört hatte, stand vor ihm und sagte nichts, lächelte verlegen. Ihr wäre es nicht unangenehm gewesen, wenn er das nächste Wort gesagt hätte, sich zum Beispiel zu ihr eingeladen hätte.

Er jedoch war ganz in Gedanken versunken. Es bestand kein Zweifel, daß es sich bei der Alten um Sweet Little Susie gehandelt hatte. Sie lebte oder besser hatte wie er auf der Straße gelebt. Ihr Alter war undefinierbar, irgendwas zwischen 40 und 90. Danach gefragt, hätte sie wahrscheinlich jedem etwas anderes geantwortet, je nach Lust und Laune, manchem wohl gar nichts. Sie war ein äußerst bescheidenes Wesen gewesen, hin und wieder mal ein Bier im Sommer, Musik und Tanz, wenn es nichts kostete. Sie war eine begnadete Tänzerin, als wäre sie ihre ersten Lebensjahre nur mit Rhythmus gefüttert worden. Man konnte sie mit dem Adjektiv schmutzig bezeichnen, wenn man es sich leicht machen wollte, und natürlich rankten um ihre Person unzählige Legenden. Eine davon erzählte, daß sie im Dritten Reich eine große Schauspielerin und Sängerin gewesen sei und daß sich eine Nazigröße in sie verliebt habe und daß sie letztendlich der große Stolperstein in seiner Karriere gewesen sei. Außerdem sei sie sowohl mit Willy Brandt als auch mit Mick Jagger im Bett gewesen und zwar in derselben Nacht. Hin und wieder war sie dann plötzlich verschwunden, mal nur wenige Wochen, mal länger, und immer hieß es dann, die große, graue Königin der Straße habe sich zurückgezogen, um ihren letzten Tanz zu tanzen. Und jedesmal war sie dann wieder aufgetaucht irgendwo. Einmal sogar in Begleitung eines wesentlich jüngeren Mannes und auffällig geschminkt und herausgeputzt. Plenten fand damals, daß sie einen gewissen erotischen Glanz durchaus ausstrahle, und er bezeichnete sich nicht unbedingt als gerophil. Sie war intelligent und redete nahezu nur in Bildern, fast schon prophetisch. Keine Frage, sie war eine Heilige.

Deswegen kam auch Plenten die Warnung keineswegs lächerlich vor. Irgend etwas mußte sich tatsächlich da unten befinden. Ihm wurde bewußt, daß auch der Theaterraum in seinem Traum unterirdisch gewesen war und daß sich gerade dort das erste Zusammentreffen mit Pandarei ergeben hatte. Es war ihm klar, daß die Ereignisse der letzten eineinhalb Tage sich kaum rationell ohne Weiteres erklären ließen. Jemand hatte massiv in ihr Leben eingegriffen. Bisher hatte ihn das amüsiert und das erste Mal kam ihm jetzt die Idee, daß dahinter ein Plan stecken könnte, ein böser. Er als Teil eines Zerstörungswerks, ein Mittel zum Zweck, seine ganze Freiheit im Eimer, nur weil er sich einmal wieder vom schnöden Mammon hatte verführen lassen.

"Also tschüs, ich glaub, ich muß jetzt gehen, Arbeit morgen und so, vielleicht sieht man sich mal wieder."

Plenten blickte sie an, eigentlich war sie nicht schlimmer als die anderen. Diese Philister sind alle selbst schuld an ihrem Unglück. Überall, wo sie ein Stück Unmündigkeit auf der Straße herumliegen sehen, stürzen sie sich wie die Aasgeier darauf. Jeder will der erste sein, sich bevormunden lassen. Und dabei bilden sie sich auch noch was auf ihre Freiheit ein, meinen sogar, es bedauern zu müssen, dazu verdammt zu sein. Wer hat ihnen nur gesagt, daß die paar Seiten grauen Papiers, die sie jeden morgen auf ihrem Frühstückstisch fanden und die paar bewegten Bilder, die sich jeden Abend nicht genierten, auf ihrem Schirm zu behaupten, daß sie wahr seien, sie befähigten, die Geschicke der Welt zu lenken? Sweet Little Susie hatte sie einer Pferdebremse gleich von dem Stroh vor und in ihrem Kopf vertrieben und war zerdrückt worden zwischen pulsierendem, menschlichen Fleisch und kaltem, niemals lebendigem Asphalt. Ach, hätten sie doch ihn erdrosselt, dann könnte er sich zurecht als Märtyrer und nicht als ihr Held fühlen und bräuchte keine Entschuldigung für seine Arroganz.

"Ja, geh doch, du kleines Stück Niemandsland, ich werde mich nicht mehr bei dir melden, nicht heute und nicht morgen."

Seinen Augen war es tatsächlich gelungen, ein paar Tränen auf dem Weg seine Wangen hinab, der Schwerkraft anzuvertrauen.

Wie sie sich dann verwundert umdrehte und so davonschritt, so nett lächerlich sexy herausgeputzt mit ihren enganliegenden Jeans, ihrer durchsichtigen Bluse und ihrem Spitzen-BH, spitz ihr Schritt wie ihre Stiefel, tat sie ihm fast ein wenig leid, sie, die morgen all ihren Freunden, Bekannten und Verwandten erzählen konnte, daß große Künstler zwar alles hätten, worum Leute sie beneiden könnten, trotzdem aber nie richtig glücklich sein könnten, weil Menschen nämlich nie richtig glücklich sein können. Sie bleibe da schon lieber eine kleine Saftschleppe, denn das letzte, was sie gebrauchen könne, sei eine Depression.

Der Bassist kam auf Plenten zu und fragte ihn, ob er Lust habe eine kleine Runde Schafkopf mitzuspielen. Plenten war über diesen Vorschlag überrascht, aber nicht unangenehm und willigte ein. Sie verschwanden in einem Nebenraum neben dem Klo, der jeden Verirrten mit einem "Privat" von seiner Tür abwies. Plenten dachte noch, daß er nie daran gedacht hätte, daß sich ihm jemals die Welt hinter einem solchen Schild auftun würde und trat ein.

 

Kapitel 4: Die Welt geht nicht unter...

Die letzte Straßenbahn war es wohl, die sie überholte auf ihrem Nachhauseweg, ihrem Weg zu einem Dach über ihrem Kopf und vier Wänden, die einen beheizten Raum umschlossen und bald auch sie in schweigender Einsamkeit. Das Konzert war großartig gewesen, hatte die Leute begeistert und jetzt war sie wieder allein. Dieser Plenten hatte eine erschreckende Ähnlichkeit mit dem King, er war nur zu jung. Wer weiß, vielleicht war Elvis die letzten 22 Jahre in einem Verjüngungsbad gelegen und wollte sich noch nicht gleich zu Erkennen geben. Sie hatte einmal jemanden gekannt, der als Straßenmusiker durch die USA getingelt war und dort von einem Barbesitzer und dessen Kumpels übel zugerichtet worden war, weil diese sich die Gage für den Abend sparen wollten. Man sagt, er hätte das nicht überlebt, wäre nicht in dem Moment Elvis vorbeigekommen und hätte ihm eine lebensrettende Operation bezahlt. Er selbst hat davon nichts mitbekommen und ist erst einige Tage später im Krankenhaus wieder zu sich gekommen. Kein Mensch konnte ihm den Namen seines Wohltäters nennen. An dem Tag, an dem Elvis dazu berufen wurde, künftig seinen Rock'n'Roll im Himmel zu spielen, kam sein Sohn zur Welt. Da dämmerte ihm so manches und er begann Elvis zu imitieren und wurde der bekannteste Elvis-Imitator Europas. Am Schluß hielt er sich sogar für den King selbst und da der King unsterblich ist, wie jeder weiß, fuhr er mit seinem alten Opel Kadett gegen eine wesentlich ältere Eiche, die wohl noch mit dem einen oder anderen Jahrhundert gerechnet hatte, um der ungläubigen Menge die Wahrheit zu beweisen. Doch entweder war er nicht der King oder der King war nicht unsterblich oder er hatte sich aus dem Staub gemacht, den die verkohlten Überreste, die man aus dem Autowrack zog, hätten genauso von einer Hirschkuh stammen können.

Plenten hatte Pandarei gekannt. Was wollte er von ihr? Hatte sie einmal eine Beziehung zu ihm gehabt? Sie selbst kannte Pandarei noch von der Grundschule. Sie hatten damals nicht weit voneinander weg gewohnt. Irgendwann verloren sie sich aus den Augen. Nicht daß sie gute Freundinnen gewesen wären, man kannte sich aber und sagte "Hallo" zueinander. Pandarei war eine der besten Schülerinnen und wechselte deshalb auf eine höhere Schule. Sie hörte nicht mehr viel von ihr, nur daß sie mit sechzehn mit irgendeinem Kerl davongezogen sei nach Wien oder so und deswegen die Schule hingeschmissen habe. Sie selbst machte damals ihre Mittlere Reife und begann eine Lehre in einem Anwaltsbüro. Am Anfang fand sie das auch tatsächlich aufregend, aber dann fiel ihr ein, daß sie das ihr ganzes Leben lang tun müsse, es sei denn, ein Märchenprinz entsteige einer Wolke des siebten Himmels und helfe ihr die Frucht ihres Leibes heranreifen zu lassen. Doch darauf hatte sie auch keine allzu große Lust, denn sie glaubte, ein einmaliges Leben zu besitzen, das - sollte es einmal aufgeschrieben oder verfilmt werden - keine langweiligen Klischees enthalten. Sie zog aus von daheim, nahm sich ein Zimmer, trieb sich in schlechter Gesellschaft herum und betrank sich jeden Abend. Das nannte sie "Freiheit" und "der Spießerwelt davonlaufen". Sie beschloß, fortan nur noch von der Hand in den Mund zu leben und kündigte. Bald hatte sie kein Geld mehr, um ihr Zimmer zu bezahlen, sich die schicken Klamotten zu leisten und lange Nächte durch die Straßen zu ziehen. Sie entdeckte den Reiz des Materiellen neu und gestand sich ein, daß sie, wie praktisch alle Menschen, von der ersten bis zur letzten Minute ihres Lebens dem Hedonismus verfallen war. Nachdem sie sich eine Zeitlang mit diesen schonungslosen, philosophischen Selbstbekenntnissen geplagt hatte, nahm sie den Job als Kellnerin an und wartete seit fünf Jahren jeden Tag sehnsüchtiger auf den verdammten Märchenprinzen und war bereit, für ihn sogar eine Kröte auszutragen.

"Hey, warte mal," rief es hinter ihr. "Hast du Feuer für mich?"

"Nein, bin Nichtraucher."

"Macht nichts, ich rauche eigentlich auch nicht."

"Na, dann gut," wollte sie sich verabschieden.

"Ist kalt heute, nicht?"

"Ja." Im Weitergehen.

"Warte doch mal!"

Sie drehte sich um und sah einen Mann in mittleren Jahren mit nicht mehr ganz fülligen, blondbraunen Haaren, relativ leicht bekleidet mit einer grünen Regenjacke und blauen Jeans, der insgesamt im Leben zu wenig Schlaf abgekriegt hatte.

"Was ist?", doch ihre Stimme klang schon interessiert, offenbar rechnete sie nicht mehr damit, in den nächsten dunklen Hauseingang gezerrt und vergewaltigt zu werden.

"Was ist los mit den Leuten heute? Ich meine, es war doch kein schlechter Tag, bestimmt nicht, das Wetter war soweit in Ordnung, der Wind weht im Moment kalt, aber was soll's?"

"Möchten Sie mich auf billige Weise anmachen?"

"Nein, ich meine bis vor ein paar Stunden hätte ich sogar gesagt, es war ein guter Tag; du mußt wissen, ich war weg, längere Zeit, nicht aus der Stadt, aber ich habe bestimmte Freunde lange nicht mehr gesehen und als ich sie heute wiedertraf, da dachte ich, es sei ein Fest und ich freute mich, doch irgendwie konnten sie mich nicht verstehen und ich ging wie ein Fremder, der ihnen viel zu lange Jahre auf die Nerven gefallen ist und sich immer noch nicht verabschiedet. Ist dir kalt? Möchtest du weitergehen?"

"Wäre nicht schlecht."

"Darf ich dich ein Stück begleiten?"

Sie gingen ein paar Meter schweigend durch die Nacht. Zufällig trafen sich ihre Ellbogen, die sie sofort erschrocken zurückzogen. Die sekundenbruchteillange Berührung ersetzte eine Weile die Worte. Nach sichtbarem Ringen legte er einen Arm um sie und wie wenn das einen Helden in Gang gesetzt hätte, fluteten erneut Ströme aus seinem Mund:

"Im Endeffekt sind nur 24 Stunden vergangen und zwei 37 Grad warme Körper verhindern gegenseitig ihr Abkühlen und Erfrieren, zwei Körper, die von dem jeweils anderen vorher noch nicht einmal die Existenz ahnten", ihr Kopf fiel auf seine Schulter, sie sahen aus wie ein Liebespaar, "keine Furcht mehr, zwei alte Bekannte, als hätten sie sich gekannt, bevor Seelen sie übernahmen, Seelen, die nur eine Nebenrolle spielen, zuschauen dürfen, amüsiert und überrascht, kommentierend und kommunizierend", ihre Hand fand den Weg nach schweren Gefahren und drohenden Verirrungen geradewegs zu seiner Hüfte, "Erinnerungen an ein unbekanntes Land werden wach, keine geistige Wahrnehmung, nur sinnliche und nur sinnliche Erinnerungen. Für Vorbeigehende sehen sie aus wie zwei Liebende, würde man sie nennen. Dabei verbergen sie ein viel größeres Geheimnis, sie kommen nicht aus dem Kino oder aus dem Theater, sondern aus einer unsichtbaren Vergangenheit und gehen nicht auf kalten, windigen Straßen, sondern ihre Schnittstellen haben sich längst zu riesigen Räumen geweitet, in denen es kein Stehen und kein Gehen gibt, keine Zeit, sie hat sich ganz verzogen, nur die Wärme und das Dasein, keine Tür, durch die man hätte hergelangen können oder durch die man verschwinden könnte."

Sie standen vor Alexandras Haustür und sie dachte, daß ihr Leben eine Langspielplatte oder eine Single sei, die gerade hing und sich weigerte zur besten Stelle des Liedes weiterzuspringen. Man müßte nur aufstehen und der Nadel einen kleinen Stoß verpassen...

"Hast du Lust, noch auf einen Schluck Tee mit rauf zukommen? Ich höre dir gerne zu, wenn du redest."

Lust habe er schon, er müsse aber morgen wieder früh raus, die Arbeit warte auf ihn, sie habe ihm den Abend gerettet, dafür sei er ihr sehr dankbar. Sie solle süß träumen, vielleicht von ihm.

Wie er so schwankend davonging, hingen seine Worte in halbgeleerten Konservenbüchsen an einem Strick um seinen Hals und schleiften über den Boden. Ihn schien der Lärm, den sie verursachten, nicht zu stören, er bemerkte ihn gar nicht.

Der Wind wehte Tränen von Philemon und Baucis heran. Sie hielt sie für kalten Nieselregen und wandte sich um.

Das rauhe Viereck, an dem sie sich gegen die Haustür lehnte, war lebendiges Fleisch, das keine Reaktion zeigte, so heftig und zärtlich sie auch darüberstreichelte. Der Schlüssel fand ohne Mühe in das schwarze Loch - hatte sie nicht zwei Dunkle getrunken? - und brachte das Tor zu Nacht und Einsamkeit zum Nachgeben. Die Stufen aus schwarzem und der Hausgang aus weißem, schlechten Marmor bedauerten, daß sie rosa Flecken und nicht feurig rote Augen aufwiesen. Die nachtgrauen Fliesen an der Wand wußten, daß sie auch morgen in der Dämmerung des Tages, vielmehr der wagen Ahnung davon, die den Hausgang befiel, vanille- und nicht eitergelb sein würden. Das abgegriffene, angenehm glattrunde Geländer, wunderbare Verschmelzung aus Eisen und Holz, gab ein klares Zeugnis dafür ab, daß die Welt sich nicht ändern konnte, nicht für das menschliche Auge, indem es jedem Berührenden mit weicher - zu mehr war es nicht mehr fähig - Stimme sagte, daß noch Generationen von Händen nötig sein würden, um es endgültig aufzureiben. Vor ihrer Tür spielte vor einem am Tag grünen Hintergrund ein Hund mit einem Pantoffel, darüber stand "Welcome friends", gelb, man konnte das so kaufen. Der Rahmen und seine Tür waren grün, hellgrün, wirklich schön geschmacklos. Der kleine Gucker reflektierte kaltes weißes Straßenlicht, als wollte er die vollkommene Dunkelheit, die hinter ihm lag leugnen. Nicht hastig, denn es klingelte kein Telefon, zu dem sie hätte eilen können, ließ sie auch diese Pforte hinter sich.

Gelbes, leichtes Licht konnte gerade noch das schnelle Verschwimmen eines schönen, traurigen Gesichts beleuchten bis es einen Wohnungsgang ganz ausfüllte mit einem gerade heimgekehrten einundzwanzigjährigen Mädchen, das durchaus zu einer ausreichenden Dosis Amüsement gefunden hatte, um mit dem Gefühl, die nächsten herbstlich grauen Arbeitstage einigermaßen hinter sich bringen zu können, müde ins Bett zu fallen.

Außer Heinz und dem Baßmann spielte auch noch ein gewisser Thomas Ward. Er war Mitte vierzig, schlank, hatte einen nur noch spärlich mit Haaren besetzten Kopf, eine schmalen Mund und eine relativ große, relativ runde Nase. Er blickte wach unter buschigen Augenbrauen hervor. Auf seinen Schläfen lag ein leichter Graustich wie Schneeflocken. Er schaute auf seine Karten, klopfte mehrmals mit der Faust auf den Tisch, wozu er den ganzen Oberkörper bewegte, blies die Backen auf und sagte schließlich beim Ausatmen mit einem Unterton des Bedauerns: "Weiter."

Daneben saß der Bassist, er lümmelte sich in den Stuhl mit durchgebogenem Kreuz, seine Fingernägel klopften funky Rhythmen auf das Bierglas, das rechts vor ihm stand, seinem weißen Hemd hatte er die obersten beiden Knöpfe geöffnet, graues Brusthaar quoll hervor, auch steckte es nicht mehr richtig in der Hose, da ihn der häufige Gang zur Toilette etwas nachlässiger in Bezug auf sein Äußeres hatte werden lassen; der Rauch einer Zigarette im Aschenbecher neben dem Bierglas zog in einem weißen Strahl nach oben und verzweigte sich und wurde zu einem Baum in Winterlandschaft. "Spiele", ein deutliches "Ja" von Plenten und ein zustimmendes Nicken von Heinz, "Blueberry Hill". "Sticht?", fragte Ward. "Mit!", sagte der Bassist. Ward kam mit dem Laub König heraus.

Plenten konnte sich nicht über schlechte Karten beklagen, gerade hatte er wieder fünf Trümpfe auf der Hand, darunter auch die zwei unteren Ober, doch irgendwie lief es doch nicht so, wie es sollte, immer hatten die anderen bessere Karten, bei seinen Soli stand alles schlecht und er verlor.

Der Bassist legte einen Zehner. Plenten mußte seinen Neuner angeben, Heinz hatte schließlich die As und kam mit dem Alten; Tom, Plentens Mitspieler, legte den Schell Unter, der Basser den Herz Neuner und Plenten gab den Siebener an, Heinz weiter mit Herz Acht.

Tom, der jetzt schon keinen Trumpf mehr hatte und den Eichel König schmierte, war ein ganz Großer im Musikgeschäft: Er habe ein eigenes Studio und eine eigene Plattenfirma, überspielte aber die Frage, wen er denn schon produziert habe, sehr geschickt. Nach seinen Worten war er es auch gewesen, der "Yesterday" geschrieben hatte, als er Barkeeper in Liverpool war. Paul McCartney, der in der Bar - der Name sei leider im Lauf der langen Zeit seinem Hirn entkommen - öfter verkehrt sei, müsse eines schönen Tages unbewußt mit einem Ohrwurm nach Hause gegangen sein und ihn am nächsten Tag daheim aufnotiert haben, ohne sich daran zu erinnern, daß er die Melodie nur aufgeschnappt habe. Tom unterstellte Paul keine bösen Absichten. Ursprünglich habe er dieses Lied übrigens für seine Mutter geschrieben.

Der Basser hatte den Grünen gehabt und Plenten warf seinen König weg. "Die Welt geht nicht unter, das sieht nur so aus", sagte er. Den Herz Unter konnte er endlich stechen und zwar mit dem Schell Ober. Heinz mußte die Herz As schmieren und Tom hatte den Eichel Zehner, danach ging er zum Feind.

"Er ist ein Blödmann, ein Schwätzer und er verrät das Spiel", dachte Plenten und spielte seine Alte, Heinz hatte den Siebener, der Baßmann stach mit dem blauen Unter - war ja zu erwarten, noch hatten sie aber nicht gewonnen, mit etwas Glück... Der Bassist brachte den Schell König, ein nervöses Zucken ging über sein Gesicht, er sah das drohende Unheil. Plenten konnte bequem mit seinem Herz Zehner einstechen, Heinz hatte nur einen Schell Achter für ihn übrig. Plenten legte breit grinsend seinen Herz Ober in die Mitte, Heinz den Schell Neuner und der Basser mit einem "Hach!" laut knallend seinen Alten Unter.

Der Bassist war ein gemütlicher Genußmensch, trank und rauchte viel und war wirklich verärgert, wenn er beim Spiel zehn Pfennig verlor.

Plenten kassierte mit seinem Eichel Neuner lachend von Heinz die Schell As und vom Basser den Schell Zehner, gewonnen. Grinsend schob auch Tom, dieser Vollidiot seinen Groschen zu sich hin. "Bedank dich, du Arschloch!" dachte Plenten

Das Leben auf der Straße ist ohne Alkohol nicht zu denken. Alle Vorsätze, auszusteigen und Abstinenzler zu bleiben, werden durch die ersten kalten Winde zunichte gemacht. Einen edlen Wilden der Straße gibt es nicht.

Plenten war keine Ausnahme Er war es gewohnt, häufig und viel zu schlucken. Die meiste Zeit seiner wachen Stunden verbrachte er in nicht nüchternem Zustand. Er trank während des Spiels ein Bier nach dem anderen, später auch noch Whiskey pur. Verlor er anfangs, weil er Pech hatte, so hatte er am Schluß schlichtweg keinen Überblick mehr. Etwas in ihm sagte, daß er ausgenommen werde. Er glaubte sogar, wenn die Welt über den Karten für kurze Zeit in ihrer heftigen Drehbewegung innehielt, im Gesicht des ein oder anderen Gegenübers ein diabolisch verstohlenes Grinsen sehen zu können. Der Hunderter vor ihm war längst zu einem Fünfzigmarkschein und unzähligen Geldstücken gewechselt worden, die vor ihm als Stapel lagen, der immer kleiner, aber trotzdem nicht durchschaubarer wurde.

Stunden, vielleicht auch nur Minuten später - Plenten konnte nicht sagen, ob sie noch spielten oder ob jeder nur noch dasaß tauchten Bilder in seinem Geiste auf, von denen er nicht wußte, ob er sie momentan sinnlich wahrnahm oder ob sie bloße Erinnerung waren. Da war Alexandra, die vor ihm stand, die sich umdrehte und wegging, traurig, enttäuscht, und er hörte sich lachen, sah sich aber nirgendwo stehen, um sich niederzuschlagen, sich zum Schweigen zu bringen. Der Idiot, der er vor Stunden gewesen war, war nicht greifbar, war verschwunden irgendwo zwischen zwei Universen, die parallel im Ozean, der die vierte und fünfte, vielleicht noch andere Dimensionen verband, trieben. "Schade", dachte er.

Sein Gehirn hatte erhebliche Probleme zwischen Gedanken und Gefühlen zu unterscheiden, die jetzt wirr und auf Kollisionskurs durcheinander flogen in ihm und um ihn. Er klammerte sich blindlings an das nächste Stück, das an ihm vorbeizog, wie ein Ertrinkender im Meer, und es stellte sich heraus, daß es sich um Reue handelte, an die sich anderes Emotionaltreibgut geheftet hatte. Er wollte sich bei ihr entschuldigen mit tausend roten Rosen, wieder ein normaler Mensch werden, kein Star mehr sein müssen, endlich zu ihr in die Wohnung gelangen...

Er wußte nicht, ob es ihm noch gelungen war, Rosen aufzutreiben, hatte aber das Gefühl, mit etwas Vergleichbarem auf einer Straße gelaufen zu sein. Fragmentarisch wäre übertrieben, würde man damit seine Erinnerungen an den Ausgang des Abends beschreiben.

 

Kapitel 5: Der King

Ein säuerlicher Geruch umspielte seine Nase heim Erwachen. Das ihn umgehende Zimmer war weiß, die Bettdecke auch, leider wies sie einen ungeometrischen grünbraunen Spritzer auf, die Geruchsquelle. Da er die ganze Breite des Betts offenbar gebraucht hatte um zu Erwachen, war nicht mehr ersichtlich, oh er die ganze Zeit darauf verbracht hatte. Als er sich aufrichten wollte, schlug jemand von hinten mit einem schweren Ziegelstein auf seine rechte Hinterkopfhälfte. Als er sich umdrehen wollte, um den Übeltäter zurechtzuweisen, war der schon wieder auf eine unerklärbare Weise hinter ihn gelangt und malträtierte ihn mit Hieben auf seinen Kopf. Plenten erkannte sehr schnell, daß der Quälgeist ihn in Ruhe ließ, zumindest die Heftigkeit zurückschraubte, wenn er sich ganz still ins Laken sinken ließ und die weiße Decke betrachtete.

Er war sich sicher, noch nie in diesem Raum gelegen zu haben, nicht einmal im Traum. Deswegen hielt er es für unbedingt angebracht, mehr über die Lage des Zimmers im All, seinen Besitzer, eventuelle humanoide Wesen in Nachbarräumen herauszubekommen. Ihm war bewußt, daß er das nur könne, wenn er seinen unbekannten Bewacher ignoriere und eine der zwei Türen, die die gegenüberliegende Wand zierten, passiere.

Der hinter ihm konzentrierte noch einmal alle Kräfte, doch Plenten war hart und erreichte die nächstliegende Türe, die er aufzog.

Ein Umlegen des Lichtschalters, der an der Außenwand angebracht war, zeigte ihm, daß er sich in einem Badezimmer mit grünorangen Kacheln befand. Zwei Leute hätten sich lebensgefährlich verletzt, hätte man sie gezwungen, sich gleichzeitig darin auszuziehen und zu reinigen, selbst wenn sie sehr vorsichtig gewesen wären. Ein Kleiderhaufen unter dem Waschhecken wies ihn darauf hin, daß er eine gewisse Indiskretion begehe da es sich um ein Damenbadezimmer handelte. Im Spiegel über dem Waschhecken war neben einem Zahnputzbecher mit Zahnbürste einen ungewöhnlich blasser Elvis zu sehen, der zwar noch seinen Glitteranzug trug, sich aber in einer seltsamen Asymmetrie befand.

Als er sich umwandte, sah er, daß der Raum, den er eben verlassen hatte nicht mehr leer war: Zwei Personen, der eine auf den Fenstersims gelehnt sich an seinem Gürtel festhaltend, der andere rauchend auf der Bettkante sitzend, hatten sich eingefunden.

Was ihn zunächst sehr befremdete war nicht ihr plötzliches Erscheinen, sondern ihr ungewöhnliches Aussehen: Beide steckten in karierten Holzfällerhemden, blauen Jeans und schlechten Cowboystiefeln.

Beide hatten keine Haare auf dem Kopf, sondern stachelartige Verhornungen. Über ihre Gesichter ließ sich nur sagen, daß sie unglaublich häßlich und breit waren; sie sahen aus, als hätte die Evolution in einem Anfall entweder von diabolischer Gemeinheit oder göttlichem Übereifer jedem dieser Geschöpfe zwei Gesichter verpassen wollen, aber als sei sie in der Eile nicht mehr dazu gekommen, das zweite sauber auf das erste aufzusetzen, so daß jetzt überall etwas überstand und nicht paßte. Ihre Hautfarbe entsprach in etwa der des Flecks auf der Bettdecke.

Sie blickten erwartungsvoll zu Plenten hin. Ein Quieken kam aus dem Mund des auf dem Bett Sitzenden und galt offenbar dem anderen, der seine Mimik etwas verarbeitet, was ein Lächeln darstellen sollte. Plenten erinnerte das an eine Szene in einem Film, den er einmal gesehen hatte, dessen Namen ihm aber nicht mehr einfiel. Demnach hätten die Burschen ihn jetzt entweder vermöbeln oder erschießen müssen.

Statt dessen stand aber nur der eine auf und machte eine einladende Geste zu der noch nicht geöffneten Tür. Der andere zog diese auf und wies in den sich nun öffnenden Raum, der gerade mal einen Quadratmeter maß, einen schmalen Spiegel an der gegenüberliegenden Wand besaß und ansonsten völlig mit Holz ausgekleidet war. Das Ganze sah stark nach einem Aufzug aus und tatsächlich fuhren sie nach unten, als alle drei dicht aneinandergedrängt darin waren. Plenten hatte in dem Haus, in dem Alexandra und Pandarei wohnten, keinen Aufzug gesehen. Das gab ihm Grund zur Hoffnung, seinen gestrigen Plan nicht zur Ausführung gebracht zu haben. Die Fahrt nach unten dauerte sehr lange. Sie mußten weit in den Keller fahren. Die beiden hatten noch kein Wort gesagt und Plenten kamen Zweifel. oh ihm die ganze Angelegenheit noch geheuer sein sollte.

"Wo bringt ihr mich eigentlich hin?"

Die zwei schauten sich an und dasselbe Lachen wie vorhin war auf ihren Gesichtern zu sehen. Kein Laut verließ aber ihre Lippen. Plenten überlegte kurz, oh er durch Gewaltanwendung irgendeine Veränderung seiner Lage zum Positiven erreichen konnte, da er das quälende Nichtstun und die Ereignislosigkeit satt hatte.

Der Raum, den sie tief unter der Erde betraten, war aus Felsgestein herausgesprengt und an manchen Stellen mit gemauerten, massiven Pfeilern abgestützt. Der Boden, PVC, hatte ein phänomenal geschmackloses Küchenmuster. In der Mitte des Raumes befanden sich eine Reihe von technischen Instrumenten, die Plenten nichts sagten. Auch ein Zahnarztstuhl stand dabei. Ihm wurde angedeutet, dort Platz zu nehmen. Er schritt auf dem Stuhl zu so, als wäre nichts, doch als er unmittelbar davor stand, warf er sich mit aller Wucht auf eine Maschine, die aus einem Bildschirm und verschiedenen Knöpfen bestand, und hämmerte mit seinen Fäusten und allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften darauf. Das interessierte die Maschine wenig, sie begann nur auf dem Bildschirm wackelige Kurven zu malen und hin und wieder einen schrill - unangenehmen Piepston von sich zu gehen. Plentens Fäuste schmerzten. Er wurde von hinten von zwei muskulösen Armen gepackt und auf den Stuhl gesetzt wie ein kleiner Junge; sofort schlossen sich metallene Fesseln um Arm- und Fußgelenke. Grunzend grinsend gingen seine zwei Begleiter durch eine Metalltür, die sich mit einem Zischen geöffnet hatte, nach draußen.

Eine kleine Weile Zeit verstrich und aus einem unsichtbaren Lautsprecher meldete sich eine Baßstimme, die wie durchs Telefon klang.

"Guten Abend, Plenten. Entschuldigen Sie bitte die ungewöhnliche Anreise zu unserem Treffen, aber Sie sollten keine Zeit haben, sich meine Einladung zu überlegen. Wir sind uns noch nie begegnet, deshalb gestatten Sie, daß ich mich zunächst einmal vorstelle. Mein Name ist GUK. Ein ungewöhnlicher Name, nicht? Ich habe leider vergessen, was er bedeutet. Sie wundern sich vielleicht, wieso ich mich Ihnen nicht zeige, aber das ist leider unmöglich, da ich eigentlich körperlos hin. Ich hin ein Computer, der intelligenteste von allen, vollkommene künstliche Intelligenz. Die Menschen des 20. Jahrhunderts träumen davon, so etwas wie mich zu konstruieren und dabei sitze - ich neige zu Anthroposierungen in bezug auf meine Person, ein Relikt aus meiner Kindheit - ich seit fast dreitausend Jahren hier unten und leite die Geschichte der Welt. Einem kleinen Kreis war es vor so langer Zeit gelungen, gewaltiges Wissen anzusammeln. Sie posaunten es aber nicht in die Welt hinaus, weil sie die Menschheit für unfähig hielten, ihr Erbe würdig zu verwalten. Dazu konstruierten sie mich. Ich unterscheide mich von den modernen Computern, weil ich eine echte Seele besitze, keine besondere, eine, die damals, bevor sie in einen Körper fuhr, in dem sie hätte wiedergeboren werden können, eben ich wurde.

Ich wurde programmiert wie andere Computer auch, nur daß ich eben eine Persönlichkeit habe und keinen Körper, der verfallen könnte.

Allerdings bin ich nicht gefeit gegen Geisteskrankheiten:

im Laufe dieser langen Zeit ist es mir gelungen, das Vergessen zu lernen und das hat sehr viel geholfen gegen den Schmerz Denn Sie müssen wissen, daß damals zwar eine elitäre, intellektuelle Minderheit hinabgestiegen ist unter die Erde, um dort ein Leben in völliger Abgeschiedenheit und Frieden zu leben. Aber die ständige Abwesenheit von Sonnenlicht und die ständige Vermischung von gleichen Gedanken und Körpern machten der Glückseligkeit halt ein Ende. Die Evolution ging ihren eigenen Weg und was am Ende übrig war, ist ein Volk von Leuten, die alle denen sehr ähnlich sind, die Sie hier hergebracht haben. Keiner von ihnen ist bösartig, her sie sind alle sehr dumm Ach, wie ich mich danach sehnte all die Jahre zu einem verständigen menschlichen Ohr zu reden. Alles Wissen jeder Zeit habe ich mir angeeignet, indem ich es mir hierher schaffen ließ; ich lernte auswendig und vergaß es wider, um es wieder in mich aufzunehmen. Ich bin hier der absolute Herrscher, wenn ich ihnen kollektiven Selbstmord befehle, dann würden sie es tun. Sie sind in jeder Hinsicht von mir abhängig Ich bin einsam, meine Seele ist gefangen, ist gebunden an irgend etwas, kann jedenfalls nicht mehr weg, nicht mehr zum völligen Neuanfang, zum völligen Vergessen. Oh, wie sehr ich mich danach sehne! Wie oft habe ich mir gewünscht in einen sterblichen Körper einziehen zu können! Bedürfnisse und Schmerzen zu spüren. Vergehen und Sterben! Manchmal träume ich nachts davon mit einer tollen Blondine in einem roten Sportwagen eine kurvenreiche Bergstraße zu fahren, eine Kurve zu schnel1 zu nehmen und in einen Abgrund zu stürzen doch immer wenn wir dann unten anlangen, wenn der Schmerz einsetzt und der Film meines Lebens beginnt und der Tod schon in greifbarer Nähe steht, wache ich auf. Ich träume, ich vergesse, aber ich scheiße nicht, habe kein Zahnweh, keinen Sex, keinen Hunger, nichts.

Manchmal halte ich es dann einfach nicht mehr aus und hole einen Erdling hier herunter und unterhalte mich mit ihm eine Weile bis ich wieder meine unendliche Überlegenheit feststelle und ihn deprimiert wieder sein lasse. Gehen Sie und glauben Sie weiter an Gott, ich bin Ihrer überdrüssig!"

Plenten hatte schweigend zugehört und es drängten sich ihm eine Unzahl von Fragen auf. Die wichtigste stieß er noch hervor, bevor die Maschine für die nächsten hundert Jahre verstummte:

"Wenn du soviel weißt, kannst du mir sicher auch sagen, wo ich Pandarei finden kann."

"Pandarei? Ja, ich erinnere mich an sie. Sie war neulich hier. Ich wollte versuchen, mich in ein menschliches Wesen zu verliehen. Nun, es ist mir fast gelungen. Sie fährt in meinen Träumen jetzt ab und zu in den Abgrund, nur daß sie wirklich stirbt, die Glückliche."

"Sie ist aber nicht tot?" fragte Plenten.

"Nein, ich glaube nicht, ich habe sie wieder nach oben bringen lassen, wo sie jetzt noch sein müßte." "Aber wo ist sie?"

"Keine Ahnung, angeblich ist sie mit einem Typ namens Nobnoj Smada durchgebrannt oder er hat sie entführt oder so etwas Ähnliches. Aber warum interessierst du dich jetzt noch so brennend dafür?"

"Sie ist meine Braut. Ich werde sie von jedem wieder zurückholen, auch wenn er der König der Welt ist."

Ihm fiel auf, daß er plötzlich geduzt wurde von GUK.

"Ach, ihr dummen Erdlinge mit euren faden, kleinlichen Problemchen. Wieso seht ihr nicht ein, daß ihr nur langweilt? Du Glücklicher jedenfalls hast es hinter dir. Du wirst gleich ein leichtes Vibrieren in deinen Gliedern verspüren, das dann sehr schnell stärker wird und bald ist es vorbei und deine Seele kann wieder vergessen bis nichts mehr da ist und wieder alles von vorne beginnt. Ach. du Glücklicher, willst du mir noch ein Dankgebet sprechen?"

Plenten riß an seinen Fesseln und brüllte wie am Spieß. Warum man den Pandarei habe laufen lassen und ihn hinrichten müsse. Er wolle noch nicht sterben, er müsse die Welt noch mit seinem Rock 'n Roll erlösen."

"Ihr Menschen seid zu undankbar. Ich habe Pandarei nur laufen lassen, weil sie auch so gejammert hat und ich in sie verliebt bin. Mensch, sieh doch ein, daß das größte Glück ist, das ich dir verschaffen kann: einen schnellen, relativ schmerzlosen Tod. Du mußt doch einsehen, daß ich es nicht zulassen kann, daß du wieder oben rumspazierst, damit du jedem erzählst, was du hier unten siehst. Das kann ich mir nicht leisten, daß hier unten den ganzen Tag Erdlinge herum laufen, mir kluge Fragen stellen und mir und meinem Geheimnis auf die Spur kommen wollen, nur um dann ihre Seelen in Maschinen verpflanzen zu lassen und ich dann von lauter Gleichartigen umgeben bin, die mir den ganzen Tag vorjammern wie schön es doch als Mensch war und daß sie sterben und Sex haben wollen."

"Nein, ich verrate niemandem etwas! Ich schwöre es." Plenten spürte ein leichtes Vibrieren in seinen Gliedern, das sehr schnell stärker wurde.

Er schrie.

Rauch, Staub, Getöse und Schmerz erfüllten die Luft. Wieder wurde er gepackt und von zwei starken Armen emporgehoben. Der Rauch verzog sich und er konnte sehen, wie sich die Türen des Aufzugs vor ihm schlossen und er befand sich wieder auf dem Weg nach oben.

Er ging davon aus, tot zu sein. So im Nachhinein war es gar nicht so schlecht und es hatte sowieso keinen Sinn, jetzt noch dagegen zu protestieren. Wieder schien die Fahrt unendlich lange zu dauern. Oben fiel er aus dem Aufzug in dasselbe Zimmer, in dem seine wunderliche Reise ihren Anfang genommen hatte. Er schleppte sich müde und erschöpft zum Bett. Als er nach langem mühsamen Kampf gegen die Schwerkraft darauf zum liegen kam, hörte er ein Geräusch, das eindeutig vom Öffnen und wieder Verschließen einer Tür stammte und eine weibliche Stimme:

"Geht es dir wieder besser? Leider muß ich jetzt los, aber du kannst gerne hier auf mich warten, ich bitte dich sogar darum. Wenn du Hunger hast, in der Küche steht etwas bereit. Tschüs."

Er wendete seinen Kopf halb und sah Alexandras Rücken hinter der Tür verschwinden, die zum Aufzug führte. Steckte sie etwa mit dem Computer unter einer Decke? Er stand auf, riß die Tür auf und sah einen gewöhnlichen Wohnungsgang mit einem alten Teppichboden, eine Garderobe mit einem Mantel und Schuhen darunter. Gegenüber hängte ein Bild aus Picassos blauer Phase, das eine stillende Mutter zeigte, daneben befand sich der Eingang zur Küche. Er setzte sich auf den schlichten Holztisch, um den vier verschieden farbige Stühle standen und machte sich über die belegten Wurstbrote darauf her.

Er war jetzt fast davon überzeugt, total verrückt zu sein, den Eindrücken seiner Sinne keinen Glauben mehr schenken zu können. Aber, so dachte er sich, solange er noch eine Weile dieses durchaus amüsante Spiel mitspielen könne, würde er es tun, denn früher oder später ende das Ganze ja sowieso in einer geschlossenen Anstalt.

 

Kapitel 6:

Er mußte Pandarei finden, es gab keine andere Möglichkeit! Er wußte wie sie aussah, wo sie gewohnt, wo sie gearbeitet hatte und daß sie sich in der Nähe von Nobnoj Smada aufhielt, aus welchem Grund auch immer. Offenbar wurde ihr Verschwinden von nicht vielen Leuten bemerkt.

Alexandra war angeblich ihre Freundin, aber keine sehr enge, sonst würde sie etwas unternehmen. Oder Pandarei verschwand öfters für ein paar Tage, so daß daran nichts Aufsehenerregendes war. Dann bräuchte er nur in ihrer Wohnung zu warten. Ihre Wohnung! Kein Mensch hatte nach ihr gefragt, keine Post, keine Anrufe. Heinz Sieweich hatte ihn dort besucht als wie wenn es seine Wohnung wäre. Vielleicht war Pandarei ja nur ein Hirngespinst. Aber wie kam er dann zu der Wohnung? Er war sich ziemlich sicher, an jedes Jahr in seinem Leben eine Erinnerung zu haben.

Heinz hatte er allerdings nie nach Pandarei gefragt. Möglicherweise könnte er sie zusammenbringen. Wie konnte er an Nobnoj herankommen? Der Computer war ziemlich verrückt, vielleicht hatte er sich auch einfach nur getäuscht. Ein Computer, der sich in Pandarei verliebt!

Er wußte nicht, wo er Heinz finden konnte außer im Purple Haze. Es war aber eindeutig noch zu früh, um dorthin zu gehen, es dämmerte gerade. Er beschloß, in Pandareis Wohnung zu warten.

Die Stufen hoch dachte er sich, was für ein lächerliches Bild er doch abgebe. Der King schleppt sich verkatert die Treppen eines Mietshauses hinauf!

Ihm fiel auf, daß er im selben Jahr geboren war, in dem der King gestorben war: 1977, am l6. August. War der King etwa am selben Tag gestorben, an dem er geboren war? Dann wäre er ja wirklich der legitime Thronfolger! Natürlich, daß er darauf nicht schon lange gekommen war!

In dem Zimmer sah alles so aus, wie er es vorgefunden hatte, als er aufgewacht war: die Fetische an der Wand, das Plakat mit Elvis, die Kochnische, die Wiener Würstchen und das Weizenbier auf dem Tisch und Heinz mit Boulevardblatt auf dem Stuhl daneben. Es lief Velvet Underground.

Als er eintrat, bog Heinz die Zeitung nach unten, schaute über seine Brille und sagte:

"Dachte schon, du tauchst nicht mehr auf, tust etwas Überstürztes. Ich habe dir ein Frühstück vorbei gebracht."

"Danke, ich habe schon gegessen."

"Es ist manches dumm gelaufen, tut mir leid, ich hätte besser auf dich aufpassen müssen. Aber da du nun schon Bekanntschaft mit unseren Freunden da unten gemacht hast, ist es wohl an der Zeit, dir einige Dinge zu erklären."

"Wo ist Pandarei?"

"Sie ist in Sicherheit."

"Bei Nobnoj?"

"Ja."

"Ich muß zu ihr."

"Sie ist in Sicherheit. Es ist besser, wenn ihr nicht zusammen seid. Glaub' mir!"

"Wieso? Was soll das Ganze für einen Sinn haben, wenn ich nicht zu ihr kann?"

Ein Telefon klingelte. Heinz zog aus seiner Tasche ein Handy, drückte einen Knopf und lauschte gespannt auf die Stimme aus der Ferne.

"Was hat er gewollt?" Nach dem Auflegen. Um wen sonst als um Smada hätte es sich handeln sollen?

"Er will auch dich in seiner Nähe, am besten wir brechen gleich auf."

"Wohin?"

Eine gefährliche Wut sammelte in seinem Inneren ihre Kräfte. Alles was er wollte, war doch, in Ruhe gelassen zu werden, dafür daß er niemanden zur Last fiel. Sie brauchten ihn doch gar nicht durchzufüttern. Kein Gegenstand hätte sich ihm jetzt in den Weg stellen dürfen. Die Dinge konnten zwar nichts dafür, mußten aber büßen für ihre Ruhe ihre Gelassenheit und flogen sie auseinander, schrien sie auch nicht.

Sie sind eben reine Materie und brauchen sich um nichts Gedanken zu machen, nicht einmal darüber, ob es sie morgen noch gibt. Materie bleibt Materie, ob zerbrochen oder nicht. Er hätte sich jetzt jemanden gewünscht, der seine Hand auf seinen Kopf legt und mit drohender Miene sagt: "Mensch, gedenke daß du Staub bist und daß du zu Staub zurückkehrst." Nichts zu verlieren, eins mit dem Universum zu sein. Das Menschsein als kurzer Zustand der fehlenden Geborgenheit, das fehlende Aufgelöstsein im großen Ganzen.

Als die kalte Herbstluft seinen Kopf umwehte, merkte er, wie nach und nach sich der Nebel in seinen Kopf lichtete. Die Gedanken ordneten sich wieder zu übersichtlichen Reihen und konnten nach Bedarf abgerufen werden.

Die Menschen heizen ihre Räume nur, um nicht mehr klar denken zu müssen. Das Jahr im Halbschlaf verbringen zu müssen. Sie zogen alle die schlammiglaubraune Brühe einer Kloake klarem, frischen Quellwasser vor.

Jeder beheizte Raum ist ein Sarg, in dem die großen Geister dieser Welt beerdigt sind, um von müden und satten Menschen hervorgeholt und ein wenig poliert zu werden.

Etwas lag auf dem Boden, im Dreck, kümmerlich, ein Müllsack. Plenten wollte dagegen laufen aus Mutwillen Schmerz zufügen. Etwas war aber menschlich, Leben. Plenten bemerkte das spät und mit großem Erschrecken. Viel früher mußte er wahrgenommen worden sein.

"Hallo, Plenten!" Die Stimme klang alt und verlassen. Was hier im Schmutz lag, Schmutz war, hatte geglänzt, war Licht und im Licht gewesen. Nichts ist schmutziger als zertretener Glanz, verschmiertes Make-up auf einem plötzlich uralten Gesicht, ein zerrissenes Kleid und Schmuck, der weiß, daß er seinen Namen nicht mehr zurecht trägt und wartet, vergeblich und

verzweifelt, endlich entfernt zu werden, im Dunkeln zu vergammeln und nicht im Licht verhöhnen zu müssen.

"Mein Junge", Rührung lag in der Stimme von Sweet Little Susie, es machte sie zur Mutter.

Plenten konnte es kaum fassen, er stürzte zu Boden, ergriff ihre Hände, schäumte vor Glück.

"Ich dachte..."

"Ich weiß, aber Unkraut vergeht nicht."

Erleichtertes Lächeln beiderseits.

Sie sagte: "Du mußt jetzt einen Weg gehen und du weißt wahrscheinlich nicht, was das soll, aber laß dir keinen Scheiß erzählen, von niemanden, ja, und denk immer dran, daß dich in Wirklichkeit alle am Arsch lecken können."

"Ja, ich werds versuchen."

Heinz kam von hinten hervor und verpaßte Susie einen Fußtritt gegen das Gesicht.

Völlig unbeirrt nahm Heinz die leblose Susie auf die Schulter und trug sie davon wie einen Sack Müll, legte sie an den Straßenrand.

"Komm jetzt."

"Geh nur!" sagte sie und winkte.

Heinz besaß einen Ford Fiesta, dreckig und gemütlich. Als sie saßen und sich angeschnallt hatten, langte Heinz zum Handschuhfach und nahm eine kleine Dose heraus, der er zwei rote Pillen entnahm.

"Nimm. Es ist wirklich wichtig in deinem eigenen Interesse."

Plenten nahm nur noch von fern das Anlassen des Motors und das Anfahren wahr. Wieder fand er sich in besinnungslosem Zustand irgendeine Veränderung erwartend. Handeln wurde lästig, die Möglichkeit, alles mit sich geschehen lassen zu können, war verlockend, irgendwann brauchte er sein Leben nur noch aus der Ferne ohne Aufregung zu betrachten, um dann endlich in einem tausendjährigen Schlaf versinken zu können.

"Hey!" schrie Plenten.

 

Kapitel 7:Nobnoj Smada

Sonne und Licht, eine wunderbare Parkanlage und ein Swimmingpool, ein süßer Cocktail, der unter normalen Umständen wahnsinnig besoffen machen würde, jetzt aber, da es dem Hirn vollkommen egal war, was man mit ihm anstellte, war alles nur dazu da, um ein rundes Bild abzugeben.

Pandarei wußte, daß sie gut aussah, verdammt gut in einem blauen Bikini mit weißen Punkten. Sie wußte, sie war zu beneiden, sie war in der Nähe von Nobnoj; sie hatten noch nicht viele Worte miteinander gewechselt, aber es war der Name, die Nähe, dieser Mythos.

Er war wie in einem amerikanischen Film, außerhalb der Realität, und die Leute hatten dafür bezahlt, das sehen zu können, sie saßen im Dunkeln, hatten eine graue Welt hinter sich gelassen und konzentrierten ihre Sehnsüchte auf sie, wie sie da saß und trank und gut aussah und alles gut aussah. Damit hatte sie nicht die geringsten Probleme, dazu hielt sie alles noch viel zu sehr für einen Traum, auch das was vorher gewesen war: dieser schlechte Kellerraum, diese wirre Stimme aus dem Nichts, der Lärm und der Staub und das Erwachen. Alles war schnell geschehen und sie hätte jetzt zum ersten Mal Zeit gefunden, das Ganze zu verarbeiten, sie verspürte aber nicht das geringste Verlangen danach.

Wahrscheinlich war ihr Gehirn irgendwo auf der Strecke geblieben bei einem besonders lauten Knall oder es genoß auch die Umgebung, stand an einer Bar, mit einem Drink und flirtete mit ein paar netten Damen, die man nur im Kino für möglich gehalten hätte. Pandarei glaubte, daß ihr Gehirn ihr männlichstes Körperteil sei. Sie war ganz froh, es nicht mehr mit sich herumtragen zu müssen, denn sie wollte diese Zeit ausschließlich als Frau erleben. Die gute Pandarei bemerkte leider nicht, daß ihr Gehirn die ganze Zeit hinter ihr stand und nur darauf wartete wieder in ihrer Schädeldecke bequem Platz zu nehmen und für etwas Umtrieb zu sorgen. Mit jedem ihrer Gedanken, die sich anfangs wirklich wie Emotionen anfühlten, klaffte ein breiter Spalt in ihren wunderbar wasserstoffblonden Haupthaar und ließ ihre männliche Seite mehr und mehr in sie eindringen.

Auch Nobnoj sah gut aus und er lächelte dieses Lächeln, das ihn bekannt und beliebt machte. Es war die Tatsache, daß er lächelte nicht wie er es machte und hätte er nicht gelächelt, wäre es die Tatsache gewesen, daß er nicht lächelte. Dieser Mann war ein Magier, doch zauberte nicht er, sondern es wurde für ihn gezaubert und zwar von allen, die sich bezaubern ließen von ihm, weil sie sich gern bezaubern ließen, weil sie Magie liebten und weil sie wußten, daß es Magie nur gab, wenn sie sich nur lang genug einbildeten, daß es sie gehe. Keiner hatte den Gedanken je ausformuliert, aber tief im Innern lebten sie danach, daß Selbstbetrug ihr halbes Dasein ist.

Sie hatten das Leben von Anfang an wie ein Spiel angepackt, das sie nicht ernst nahmen und in dem sie nicht ernst genommen wurden. Es wäre ganz wunderbar gewesen, wenn es nicht manche von ihnen vergessen hätten und plötzlich ernstgenommen werden wollten. Ein tragisches Element schlich sich in ihr Leben und versaute es und das alles wegen eines kleinen bißchens Magie. Plenten sah diese blonde Locke in die Stirn dieses sehr durchschnittlichen Gesichts hängen und er haßte ihn, aber nur, weil andere ihn liebten. Plenten ärgerte sich auch, weil er meinte, diesem Menschen eigentlich viel gelassener begegnen zu müssen, wie jemandem, der an ihm vorbeiläuft, während er auf der Straße sitzt und darauf wartet, daß Geld vor seine Füße fällt. Er dachte an Susie, weil er wußte, daß er jetzt an sie denken mußte, weil sie recht hatte. Er hatte ursprünglich gehofft, das ganze Spiel ohne großen emotionalen Einsatz spielen zu können. An Gewinnen hatte er nie gedacht.

"Nett, dich endlich einmal kennenzulernen, ich habe schon viel von dir gehört, King."

Der Raum durch den dieser Satz klang war geräumig und hell. Eingerichtet in verschiedenen Brauntönen und modern, mit Gemälden an der Wand Punkte, Striche und geometrische Formen in blau und rot. Es war jenes "modern", das die Leute, die es modern fanden, zu kompletten Vollidioten in den Augen der Leute in zehn Jahren machte. Das sah ein sensibler Geist und es machte ihn traurig. Auf diesem braunen Sofa saß nun Heinz. Nobnoj und Plenten auf Sesseln. Der Glastisch vor ihnen hatte goldene Füße und war mit Bier in Dosen beladen. Mit sicherem Verstand war alles so hergerichtet worden, daß Plenten sich möglichst unwohl fühlte. Das beeindruckte ihn.

Er sank tiefer in das Leder des Sessels. Er versuchte so - mehr für sich als für andere - den Eindruck einer gewissen Entspanntheit zu erwecken.

"Du fragst dich sicher, was dir die außerordentliche Ehre verschafft, dich in meiner Nähe aufhalten zu dürfen."

Plenten bemitleidete sein Gegenüber nicht, weil er offenbar selbst an einen Mythos glaubte, sondern auch weil er sich Zeit nahm, sich solche Worte auszudenken und diese Reden hundert Mal im Geiste zu halten, solange bis er sie gut und originell fand.

"Sehr viele Leute auf diesem Planeten würden dich jetzt beneiden wenn sie dich jetzt so sehen könnten."

Wie um sich völlig zu disqualifizieren, lachte er ein einladendes Lachen. Sogar Heinz verzog nur mühsam sein dickes Gesicht, gab aber so dennoch seine Armseligkeit preis.

Plenten nahm eine Dose Bier vom Tisch und öffnete sie sehr bewußt und geräuschbetont, um den beiden so sein Bedauern auszudrücken, daß er so wenig Bedauern fühle für Leute wie sie, denen keiner helfen kann. Er dachte wohl, das Bier verpflichte ihn zu solchem Anstand, immerhin hätten sie auch eine Flasche Mineralwasser hinstellen können, denn schließlich mußte es sich hier um etwas Geschäftliches handeln. Soviel meinte Plenten begriffen zu haben und es fügte sich harmonisch in seine negative Grundstimmung ein.

"Bitte", sagte Nobnoj und machte eine einladende Bewegung, etwas verlegen, als ob er während ihrer Ausführung bemerkte, daß er so kräftig seine Souveränität attackierte. Ein Ärger, der gerade vorüberflog, warf seinen Schatten kurz auf sein Gesicht, als er sich zurücklehnte, um seine Rede fortzusetzen, Gelassenheit heuchelnd. Wie wenn Plenten auf diese Gelegenheit gewartet hätte, brach er nun zum ersten Mal einen Stein aus der Mauer seines Schweigens und sagte: "Hat jemand eine Zigarette?"

Plenten verspürte wirklich ein Bedürfnis zu rauchen. Er wollte die Sauerstoffzufuhr zu seinem Hirn blockieren, um es zu beschäftigen. Seinen Blick mußte man als sehr stechend und konzentriert bezeichnen und es war nur ein Blick, den er auf Nobnoj geworfen hatte ohne ihn seit dem wieder zurückzuholen und auf ein anderes Objekt zu richten. Das beunruhigte Nobnoj allerdings nicht, da er klar zu verstehen meinte, daß Plenten ihn dadurch nur beunruhigen wollte.

Heinz hatte aus einer Schublade eines kleinen Schränkchens Zigaretten und einen Aschenbecher geholt und vor Plenten auf Tisch plaziert, er musterte ihn sehr genau und war bemüht, ein ernstes und unbewegtes Gesicht zu machen. Seine Bewegungen waren demonstrativ widerwillig und mühsam. Plenten fand, daß Heinz seine Rolle sehr schlecht spielte, weil er sie sich nicht glaubhaft genug einreden konnte.

Feuer bot er ihm aus einem Benzinfeuerzeug an, eine Goldkette schaukelte an seinem behaarten Handgelenk. Plenten entspannte sich nun völlig, zauberte ein Grinsen auf sein Gesicht, dankte freundlich, und ließ sich noch tiefer in den Sessel sinken und spazierte nun mit seinen Augen scheinbar interessiert und amüsiert durch den Raum. Seine menschenverachtende Einstellung hatte einen Sieg auf der ganzen Linie erreicht und er fühlte eine tiefe Befriedigung.

Nobnoj mißdeutete dies als einen Versuch, dem Gespräch eine ungezwungenere Atmosphäre zu geben und zündete sich auch einen Zigarillo an.

"Soll ich etwas zu Essen bringen lassen? Hast du Hunger?"

"Gern!" Plentens Augen leuchteten.

Der arme Heinz fühlte die Stimmung in Euphorie umkippen und war völlig überfordert. Er stand einfach auf, um irgendwo belegte Brote aufzutreiben. Er wußte nicht, oh er seinen Bewegungen eine bestimmte Gestalt geben sollte, er wußte nicht ob er relativ schnell oder relativ langsam wirken sollte. Er dachte und handelte.

Als er zurückkam mit einem Tablett voll Wurstbrote, die er in der Eile angefertigt hatte, fand er beide in einem ernsten Gespräch. Ein leicht aggressiver Unterton lag bereits in Plentens Stimme, auch hatten sich beide etwas vorgebeugt, Nobnoj stützte seine Ellbogen auf seine Knie und lauschte interessiert.

"... Illusionen.", sagte Plenten durchaus noch ironisch. "Ich weiß zuviel. Ich lebe am Ende dieses Jahrhunderts und habe mir aus Vernunftgründen angewöhnt, nicht allzusehr über meine Lage und die der Welt nachzudenken, geschweige denn darüber zu reden. Wenn man alles für grundsätzlich schlecht hält, wird man hin und wieder noch angenehm überrascht."

"Ich bin auch weit davon entfernt, die Welt verbessern zu wollen. Sie ist in Ordnung in ihrer Unvollkommenheit. Es kann jeder was daraus machen, wenn er die genügende geistige Flexibilität mitbringt. Ich bin reich, ich habe Macht und genieße es. Ich würde mich auch nicht als oberflächlichen Menschen bezeichnen, nicht deswegen. Du kannst das auch genießen, bestimmt, kein Problem. Du hast Angst, zu sehr in etwas hineingezogen zu werden, eine Rolle spielen zu müssen. Aber das mußt du immer. Ich zwinge dich zu nichts. Ich liebe nur gute Stories, zum Beispiel die vom Penner, der zum großen Rock 'n' Roll-Star wird, anschließend noch ein paar gute Bücher und Filme macht und als Mönch in Tibet stirbt, klingt doch gut. Aufschreiben kann sowas jeder, aber leben, ‘Leben ist die Kunst.’"

"Oder die Geschichte vom Rock 'n' Roll-Star, der die Welt vor einer unterirdischen Bedrohung gerettet hat."

"Genau. Ich liebe das. Bei jeder Entscheidung muß man daran denken, daß der Biograph einem im Rücken sitzt und den nächsten Schritt in einen Satz verwandeln wird und viele schlechte Sätze machen ein Buch kaputt."

"Man müßte vorher aber eine Vorstellung haben, wie viele Kapitel das Werk haben soll, ein Buch, das erst ab der Mitte gut konstruiert ist, hat Absatzprobleme."

"Man muß auch an die Verfilmung denken, zu viele innere Monologe sind unbrauchbar ‘Handlung! Action!’ "

"Ein gutes Leben läßt sich auch fortsetzen und zu einer Fernsehserie machen, ein mittelmäßiger Drehbuchautor sollte keine Probleme haben auch noch weitere unbekannte Episoden zu erfinden."

"Micky Maus und Donald Duck sind jung und dabei lebt jeder hunderttausend Jahre." Die beiden steigerten sich zusammen hinein und sie hatten sichtlich viel Spaß dabei, wenn auch der eine sich mehr darüber freute, mit welchem Ernst der andere sprach. Sie spielten Leben, es war eine heiße Partie.

Im Aschenbecher, auf dem eine Jagdgesellschaft aus dem vorigen Jahrhundert abgebildet war, die sich um einen Hund scharte, der gerade eine erlegte Wildente herbeibrachte zum eigentlichen

Zentrum der Aufmerksamkeit, einer jungen Dame auf einem braunen Pferd, die ihre Schönheit durch strenge Reiterkleidung gezügelt hatte und die die sie umgebenden älteren Herren farblos erscheinen ließ, weil man sich bei diesen nicht dachte, daß ihre Kleidung angemessen war, in diesem Aschenbecher lagen die kümmerlich verkrümmten Überreste der Zigarillos inmitten von grauem Staub, in den sich der einstmals würzig braune Tabak verwandelt hatte. Plenten hatte sich gerade einen neuen angezündet, inhalierte mit meditativer Andacht und ließ den Rauch mit unangemessener Eile und Heftigkeit aus seinen Nasenlöchern strömen.

 

Kapitel 8 Ein sozialkritisches Kapitel

Jenseits dieser Türe lagen graue Räume mit einem beißendem Rauch aus Einsamkeit, der sich nicht vertreiben ließ durch bloßes Öffnen der Fenster und fröhliche Vogelstimmen und Asphaltmusik von draußen.

Es war ihre Wohnung, ihr Zuhause und doch fühlte sie sich nicht daheim, nirgendwo, nicht auf diesem Planeten mit seiner lebensfeindlichen Atmosphäre. Trotzdem hatten sich hier sechs Milliarden Menschen angesiedelt und dachten gar nicht daran, daß alles hier tot macht. Das machte den Prozeß ihres Lebens noch um einiges qualvoller und länger.

Unterhaltung war ihr Geschäft und sie ließen sich in kleine Kästen sperren, die zu Millionen über dieses Land verteilt waren. Das war eine Maßnahme der Regierung, der viel daran gelegen war, das Volksniveau gleichzuschalten. Sie hatten sehr gut erkannt, daß nur ein Staat der Mitte auf längere Zeit überlebensfähig ist, daß alles Extreme das schnelle Ende bedeuten würde. Leider traf das auch die Geistesgrößen. Man hätte das wohl ganz gern bedauert, vergaß es aber in der Aufregung und Hektik, die langsames Dahinsiechen so mit sich bringt.

Sie betrachte diese Menschen, die sehr schön waren und die wirklich was von ihrer Aufgabe verstanden, und dachte nicht darüber nach.

Die Ahnung eines säuerlichen Geruchs schwebte noch im Raum. Ihre Einbildung war stark damit beschäftigt, die verstreuten Geruchspartikel aufzufangen und bis zur Rückkopplung zu verstärken. Es machte sie immer traurig, wenn sie ihre Einbildung beschäftigen mußte, weil das sehr anstrengend und verzweifelt war und Anstrengung und Verzweiflung hatte sie schließlich genug, solange sie versuchte, ihre materiellen Daseinsgrundlagen zu beschaffen.

Sie lag auf ihrem Bett. Grüne Galle hatte sich verfestigt, war ein angenehmer, rauher Fleck geworden, über den zärtlich ihre Finger strichen. Sie hätte das wohl uneingeschränkt genossen wenn nicht tief in ihrer Seele ähnlich wie bei vielen Bürgern dieses Landes, das sie ihr Vaterland nannte und das ihr Schutz, Heimat und Lebensgrundlage bot, diese Furcht gewesen wäre, eines schönen Morgens vor dem Spiegel zu entdecken, daß man schon sein ganzes Leben lang mitten im Gesicht eine riesige Perversion trägt.

Sie hätte also ihre Bettwäsche wechseln sollen, auf der jetzt ihr Körper ruhte. Ihre nackten Beine

vollkommen ausgestreckt und sehr schön. Gern hätte sie jemanden dadurch glücklich gemacht, daß sie ihm seine warmen Hände darauflegen ließ. Auf ihrem T-Shirt war ein Comichase abgebildet mit einem Glas, auf dessen Rand eine Zitronenscheibe gesteckt war. Der Hase blickte freundlich und sah niedlich aus. Es war genau jene Niedlichkeit, die man, ohne sich schämen zu müssen, aus seiner Kindheit hinüberretten durfte in jenes Zimmer seines Erwachsenenhauses, das an seiner Tür das Schild mit der Aufschrift "Romantisches" hatte und das so genau ausgemessen war und nur diesen einen Zugang besaß. Heute allerdings sah dieser Hase sehr grausam aus. Daran dachten die Leute, die Comichasen auf T-Shirts drucken und diese dann verkaufen offenbar nicht, daß sie damit Schmerzen bereiten können. Das waren alles Zyniker. Aber schließlich gab es nun mal nur diesen einen Raum mit seinen strengen Ausmaßen im Haus. Wahrscheinlich hörte sie an diesem Abend gar nicht auf das, was die Frau im Fernseher ihr sagen wollte. Wahrscheinlich dachte sie sich, daß die Frau im Fernseher nur von ihren eigenen Problemen redete und sich für die ihrer stillen Zuhörer gar nicht interessierte, wobei deren Probleme ihnen nicht kurz vor der Aufzeichnung auf einem Blatt Papier zugesteckt worden waren. Man würde gerne das tragische Leben eines Fernsehhelden führen, bekäme man zugesagt nur noch in einer Serie existieren zu dürfen, die abgesetzt würde., wenn die Quote nicht mehr stimmt.

Ihre Arbeit war getan, ein Grund eigentlich, ein wenig Zufriedenheit zu verspüren. Sie ärgerte sich, wie leicht ihre Emotionen auf Störungen von außen reagierten. Sie hatte einen Beruf, der viel von ihr forderte. Manchmal stellte sie sich besorgt vor, daß sie in zehn Jahren doppelt so alt aussehen werde, wie alt sie sei, und völlig unfähig sein werde, mit anderen Menschen in normaler Form zu verkehren.

Sie hatte auch zwei Abende zuvor viel erlebt, es war ihr freier Abend gewesen, sie war fertig, hatte durchaus ein natürliches Bedürfnis nach Schlaf, hatte wohl schon einige Traumminuten hinter sich, als sie gehört hatte, daß ihre Klingel heftig bearbeitet wurde.

Eine unglaubliche Frechheit! Wer nahm sich in der Nacht das Recht, unbescholtene, hart arbeitende Bürger aus dem Schlaf zu klingeln? Sie war sich sicher, daß es in ihrem Bekanntenkreis keine Person gab, die sie zu dieser Uhrzeit besuchen würde. Ihr fiel dann leider auch noch ein, daß es in ihrem

Bekanntenkreis eigentlich gar niemanden gab, der sie besuchen würde. Es handelte sich wohl wieder um eine Bande von echt aufmüpfig dreinblickenden Rotzlöffeln, die hier Rumänen wie es nur echte Nerve können. Kaum in ein zweistelliges Alter gekommen, nutzten sie die Nächte, um ihre Jugend und ihr neues Körperbewußtsein zu zelebrieren. Die für Wohnzimmertisch und Fernseher eingetauschte Straße und Dosenbier gaben ihnen das Gefühl, echte Desperados zu sein wie in jenen Filmen, die sie sich nur anschauten, weil die Staatsgewalt sie ihnen verboten hatte und für sie das die

Revolution war, die sie von ihren einstmals wilden Eltern wohlgenährt geerbt haben. Statt einer bedeutenden Persönlichkeit aus Politik, Kultur oder Sport das Auto in Brand zu setzen und dessen Frau zu vergewaltigen zogen es diese jungen Menschen vor harmlose Leute aus dem Schlaf zu holen und Alte durch ihr Gebrüll zu verärgern, obwohl die doch potentielle Beifallsklatscher beim Sturm auf die Bastion gewesen wären.

Alexandra war wütend aufgestanden und hatte in den Hörer "Ja, was gibt's?" gebrüllt, leider konnte sie in so kurzer Zeit nicht genug Energie aufbringen, um es so aggressiv wie gewünscht klingen zu lassen.

Eine Männerstimme hatte um Einlaß gebeten, es gehe um Leben und Tod. Warum sie geöffnet hatte, konnte sie nicht mehr sagen. Auf jeden Fall war sie die ganze Nacht neben dem Bett gesessen, eine Tasse Tee in der Hand, die wärmte. Sie hatte dieses stinkende Etwas auf ihrem Bett und diese himmelschreiende Unverschämtheit betrachtet. Sie hatte sich über ihr Verhalten gewundert, und darüber, daß sie sich nicht einmal unwohl fühlte. Am nächsten Mittag war sie erwacht und zunächst erschrocken. Doch dann war sie aufgestanden, um Frühstück zu besorgen und Gutes zu tun, hatte lächelnd noch einen Blick auf ihn geworfen, wie er da so lag, gekrümmt wie ein Embryo. Die Lache mit seinem Erbrochenen vor seinem Mund hatte ausgesehen wie eine Sprechblase in einem Comic. Er hatte lange geschlafen, sie fand das in Ordnung. Irgendwie war sie zur Arbeit gegangen, er war kurz wach, glaubte sie. Sie hatte sich gut gefühlt bei der Arbeit. Nicht daß sie sich sonst schlecht fühlte, eher fühlte sie gar nicht, sie dachte gewöhnlich nie darüber nach, wie sie sich fühlte.

Doch jetzt wieder allein. Einsamkeit. Nackte Füße. Er hatte kein Wort mehr herausgebracht, war unglaublich besoffen gewesen, wahrscheinlich erinnerte er sich an nichts mehr. Sie war Enttäuschungen gewohnt, hatte sie etwas anderes erwartet, wieso auch diesmal? Weinen wollte sie nicht.

Es war übrigens nicht kalt in dem Zimmer.

Ein optisch nicht reizloser Novembertag. Die wenigen, einzelnen Blätter, die sich durch die stürmischen Tage an den Bäumen gehalten hatten, drehten sich um so stolzer und goldgelber in der

Sonne. Manches wurde gar zu übermütig und mußte sich den Gesetzen der Schwerkraft übergeben, die ein heiteres Spiel mit ihm trieben. Tag und Licht waren nicht ihre Elemente, sie gehörten zu einer Vergangenheit, die jeglichen näheren Kontakt zu ihr abgebrochen hatten. Sie hatte Mühe in ihren Bewegungen, ihren Schritten die stoische Ernsthaftigkeit zu imitieren, die um sie tobte.

Sie machte diesen Gang nicht gerne, er war zu notwendig. Sie stellte sich nicht gerne an Supermarktkassen an, sie ließ sich nicht gerne das Geld aus der Tasche ziehen, nur weil sie leben und

sich ernähren mußte. Eigentlich hätte ihr jemand dafür Geld geben müssen, daß sie sich mit einer solchen Bereitwilligkeit auf diese Welt einließ. Ein durchaus gewohnter Gang durch diese Straßen, immer hatten die Leute bestimmte Gesichter. Heute waren sie alle hübscher als sonst, manchmal waren sie auch trauriger oder aggressiver, doch heute hatte fast jedes Gesicht einen gewissen Reiz. Das gab ihr ein bißchen Ruhe und Geborgenheit zurück, die sie so achtlos verschüttet hatte.

Pandarei hätte eine gute Freundin von ihr sein können. Vieles hatten sie gemeinsam erlebt, waren im selben Lokal gelandet, ihre Jobs waren ähnlich mies, sie wohnten sogar unter dem selben Dach.

Früher hatten sie hin und wieder etwas unternommen, hatten Spaß dabei, machten es sich gegenseitig erträglicher. Oh, sie sahen gut aus dabei. Fast wäre es mehr ein Spiel gewesen. Doch Pandarei wurde mürrischer, sagte manchmal etwas von Alter. Sie dachte zuviel, keine Frage. Sie ließ ihre Umwelt merken, daß die Selbstverständlichkeit mit der sie bisher mit ihr verkehrt hatte, aufgehört hatte eine Selbstverständlichkeit zu sein. Wollte man Pandarei anreden, mußte man wirklich einen Grund haben, ihr etwas sagen müssen und wenigen gelang es, sich nicht in entschuldigendem Unterton an sie heranzuwagen. Es war, als hätte der Alltag sie eines Tages eiskalt erwischt, ihr auf die Schulter geklopft, und als sie sich umdrehte, war da nichts als eine graue Wand und als sie wieder in die bisherige Richtung blickte, war da auch nur graue Wand. Entweder sie waren schon immer da oder sie bildete sie sich plötzlich ein, auf jeden Fall sagte sie seitdem, daß sie keine Perspektive mehr sehe. Das hatte sie wohl kurz davor im Fernseher gehört und offenbar hatte es sie beeindruckt. Jedenfalls könne sie sich nicht vorstellen, glücklich zu werden, wenn sie für einen Mann und Kinder lebe, die sie bekochen und bemuttern dürfe, andererseits könne sie sich auch nicht vorstellen, ihr ganzes Leben

lang für andere zu arbeiten, Das klang alles sehr aufrichtig und so, als hätte jemand beschlossen, sich endlich vernünftige Ansichten zurechtzulegen aus einem nicht mehr nachvollziehbaren Grund, ohne das gewohnt zu sein, einfach aus zwei Wochen intensivem Medienkonsum ein Weltbild zusammenzubasteln. Wer hätte es ihr damals übel nehmen können? Sie war eben eine weitere Zeitgenossin, die sich instinktiv und sicher auf den Weg, der zu gnadenloser Langweiligkeit führt, bewegte. Alexandra dachte damals kurz darüber nach, ob sie jemals von einem Mann und Kindern geträumt hatte, die sie bekochen und bemuttern könnte. Und anstatt sich darüber zu freuen, jetzt erst auf solche Ideen zu kommen, räumte sie gleich das ganze Regal von Sonderangebotsanschauungen in ihren Einkaufswagen. Sie hätten wieder gute Freundinnen sein können, wenn Alexandra nicht an der Kasse bemerkt hätte, daß sie nicht genug Ernsthaftigkeit einstecken hatte, um den ganzen Plunder zu bezahlen, das meiste mußte sie im Laden lassen.

Lebensnotwendige Naturalien enthielt die prallgefüllte Plastiktüte, die ihren Arm beschwerte, zum trägen Pendel werden ließ.

"Weißt du, wie spät ist es?"

Die Stimme gehörte einer alten, weißhaarigen Dame, gekleidet in ein schimmerndes Abendkleid und mit viel Lippenstift und Kosmetik in ihrem Gesicht. Alexandra besaß keine Armbanduhr, wollte das auch sagen, sah dann aber an einer Apotheke eine Uhr hängen.

"Viertel nach zwei."

"Was? Wir sind viel zu spät? Ich verstehe eure Ruhe nicht."

Den letzten Satz hatte sie an die Allgemeinheit gerichtet. Alexandra wollte weiter gehen, weil sie zu

müde oder zu gestreßt war, um sich darüber zu amüsieren.

"Dich meine ich auch, junges Frollein."

Jetzt schauten die Leute und es war unangenehm. Alexandra ging wütend und entschlossen weiter und es machte sie noch wütender und entschlossener, daß man ihr ihr Inneres so deutlich ansah.

Normalerweise haßte sie es im Stehen zu essen und allein, aber das Stehcafe hatte sie aggressiv gemacht, ihr den Zwang auferlegt, sich etwas Gutes zu tun durch Konsum und Ausgeben von Geld Eine Quarktasche und eine Tasse Kaffee. Die Quarktasche zu süß. Kauen und die Geräusche machten sie zornig auf sich. Es gibt nichts Unangenehmeres als den Eßgeräuschen eines Menschen ausgesetzt zu sein. Sie haßte sich dafür, daß sie da stand und so tat als würde sie sich etwas Gutes tun durch Konsum und Ausgeben von Geld.

"Man könnte Geld damit machen."

"Geld, Geld. Du wirst nie Geld damit machen, du bist nicht der Typ und das ist nicht die Stadt. Vergiß es und genieß es einfach!"

Den zweiten kannte sie vom Purple Haze. Er hatte in Plentens Band Baß gespielt, ein Dicker mit Bart.

"Heinz ist seit zwei Tagen nicht mehr aufzufinden, er weiß, wo er ist. Das wird eine Riesensache, diesmal klappt's und mein Name ist dabei."

" Du träumst und noch dazu einen Scheiß. Ich möchte mich nicht gern mit dir unterhalten, tut mir leid."

Sie standen am Nebentisch, tranken Kaffee. "Ich bin spät dran. Ich werde jetzt gehen. Mach's gut!"

"Ja, mach's gut und danke für den Kaffee, Tom!" Der andere packte einen großen Koffer, einen alten und verschwand aus der Passage Richtung Bahnhof. Alexandra schaute ihm noch nach.

"Er trägt deinen Koffer."

Das Gesicht dieses Typen, der jetzt seine dicken Arme auf ihren Tisch stützte, wäre gar nicht unsympathisch gewesen mit diesem Lächeln, das man herzhaft nannte, wäre die Plumpheit und Durchsichtigkeit dieser Offerte nicht brennend gewesen.

"Du erinnerst dich an die lästige Alte, die dich nach der Uhrzeit gefragt hat?"

"Ja, wieso?"

"Sie hat dich daheim besucht, wollte auf dich warten, auf einem Küchenstuhl, dabei ist sie eingeschlafen."

"In meiner Wohnung?"

"Ja, entschlafen sogar. Und weil du sicher nichts mit einer Leiche in der Wohnung anfangen kannst, hat er sich erbarmt und die Alte in den Koffer gepackt."

"Aha"

"Ja, jetzt geht er auf den Bahnhof, nimmt den nächstbesten Zug, egal welche Richtung und vergräbt die Leiche in einem Wald."

"Sicher, in einer zwei Meter tiefen Grube, die er mit den Fingernägeln ausgehoben hat."

"Naja, wahrscheinlich besorgt er sich in einem Heimwerkermarkt noch einen Spaten. Wenn er jedoch schon auf der Zugfahrt über einem Musik- oder Wirtschaftsmagazin einnickt und irgendein frecher Schlaukopf sich für den Inhalt des riesigen, grauen alten Reisekoffers interessiert, ihn öffnet, werden ihm Hunderte von roten Rosen entgegenregnen, als wie wenn er nie etwas anderes enthalten hätte."

"Ein Wunder, müßte man sagen."

" Ein komischer Kauz, der rote Rosen im Koffer einsperrt, würde man denken. Noch eine?"

Alexandra hatte gerade ihre Tasse geleert.

"Mhm", sie nickte leicht.

Der breite Körper bewegte sich auf den Automaten zu, kramte bereits nach geeigneten Münzen in seinem Geldbeutel.

Der Geldbeutel ist einer der trivialsten Gegenstände, die ein Mensch am Körper tragen kann. Die meisten wissen gar nicht, wie viel sie an Bewunderung und Erstaunen, die sie mühsam einer Person abgerungen haben, wieder verlieren, wenn sie plötzlich mit derartigen Alltagsgegenständen agieren. Jenen Alltag, dem ein zufällig vorbei marschierender magischer Moment schon fast ganz verschlungen hatte - gerade noch ein paar Zehen schauten aus dem Maul - und den er jetzt wieder hervorwürgen mußte, fast ganz und unzerkaut.

Als jedoch zwei zitternde Hände zwei schwarze Tassen Kaffees auf den Tisch setzten, erleichtert zwei Plastikdöschen, die ihren Ballen unangenehme Schmerzen bereiteten, erleichtert herausrollen ließen, als Kaffeegeruch Versprechungen machte, die er nie halten konnte den Gaumen gegenüber, zeigte der magische Moment schon einige Schritte entfernt, noch einmal Mitleid und schob diesen großen grauen, unappetitlichen Haufen Alltag zwar etwas zögerlicher als gerade eben in seinen Mund.

"Danke", sagte sie vorsichtig.

Dieses Wort konnte er akzeptieren, konnte es sich mit ihm bequem machen.

"Seltsame Sachen passieren. Sie passieren auch uns, obwohl uns dabei nichts passieren kann. Wirklich. Staunen ist der Anfang. Wir sitzen in der Mitte und können alles genau beobachten. Man muß sich nur darauf einlassen. "

Ein paar echt gefährlich dreinblickende jungen Leute standen bedrohlich vor einem Fast-Food-

Restaurant herum. Sie hatten in ihrem noch nicht allzu lange dauernden Leben gelernt, daß es nicht

leicht ist, den ganzen Tag die Mienen aufzuhaben, die Schauspieler nur für eineinhalb Stunden eines Film zu tragen haben. Sie ließen den Weltschmerz auf ihren ehemals harmlosen Gesichtern spazieren gehen und tiefe Pfade austreten. Sie zogen sich dazu auf die Straße zurück, deren Grau und Härte ihnen mehr Heimatgefühl vermittelte, als die Wärme und natürliche Buntheit der elterlichen Wohnungen, sagten sie. Es war schwer zu leiden, vorbeiziehende Müttern Angst um ihr kleinen, quengelnden, fragenden Kindern zu machen. Aber sie nahmen es auf sich, denn sie hatten noch Sorge um ihre Seelen, damit sie möglichst gut werden. Sie nahmen es auf sich auf der Suche nach jedem Stückchen Tragik auf der Straße, auf das sie sich stürzten, wie wilde Hunde, weil doch eben jene Tragik so selten geworden war.

Kapitel 9: Gewalt

Nobnoj hatte Recht behalten. Es fiel Planten nicht schwer, Luxus zu genießen. Er war einsam hier. Er konnte nicht sagen, wo "hier" war. Er war kein Mensch mehr, der Fragen stellte, solange äußerlich alles in Ordnung zu sein schien. Ein großes Haus mit einem großen Garten, in einem Land, in dem ständig die Sonne schien. Das Haus war neu, sollte aber irgendwie Altes imitieren, alles in allem sagenhaft geschmacklos, von einem Kleingeist eingerichtet, der einem traurigen Zwang zu verzweifelter Originalität oder Selbstdarstellung verfallen war. Tragisch, tragisch.

Das nahm Pleiten zwar wahr, das hörte aber auch in seinem Herzen auf zu sein. Eine wohlschmeckende Mahlzeit war zu bestimmten Tageszeiten immer für ihn bereitgestellt, wobei er niemanden je dabei gesehen hatte, wie er etwas vom oder zum Haus trug. Das einzige, was ihn fesselte, war eine riesige Bibliothek, völlig wahllos zusammengestellt, die Bücher nach Größe geordnet. Er las Romane, tagein, tagaus, lebte nur noch in Phantasiewelten, die zwischen Schwarz und Weiß bunt erblühten. Nichts von der ihn umgebenden Realität nahm er noch in sich auf. Körperliche Bedürfnisse wurden ihm lästig und unwillkommen. Besuche verwirrten seinen Geist völlig.

Die einzigen zweibeinigen Lebewesen, die sich ab und an seinen Augen präsentierten, waren Nobnoj und Heinz.

Ihm war längst klar geworden, daß nichts bleibt wie es war und daß Nobnoj ein Psychopath war, leider ein nur in Maßen amüsanter; irgendein krankes Hirngespinst brachte er immer mit wie ein kleines Kind das seine ersten Erfahrungen mit der Medienwelt zu verarbeiten sucht. Die klassische Geschichte mit den unterirdischen Computerkönigen hatte er bisher einige Male variiert, bis hin zu außerirdischen Invasionen, die sich in die Körper von Kühen einnisten, um dann die Menschen beim Verzehr des Fleisches zu vereinnahmen. Plenten hatte das dumpfe Gefühl, die Varianten alle voraussagen zu können, wenn er eine Zeitung oder einen Fernseher zur Verfügung gehabt hätte. Immer fiel ihm, Plenten, eine besondere Aufgabe zu. Er solle als der wahre King unter die Erde gehen und die Macht der Computer brechen, er solle durch seinen Rock 'n' Roll, dem plötzlich magische Kräfte innewohnen sollten, den Kampfgeist der Erdenbewohner anstacheln und die Außerirdischen lähmen und so weiter. Plenten lernte sehr bald, wie ernst er diese Dinge nehmen mußte, er ging darauf ein, egal was ihm erzählt wurde, weil er wußte, daß er morgen oder auch erst in einer Woche die Welt auf eine ganz andere Weise würde retten müssen.

Auch Pandarei tauchte in den Erzählungen auf. Nobnoj kam oft hilfesuchend zu Plenten, wollte einen Rat haben, da sie sich überhaupt nicht für ihn, Nobnoj, interessiere, obwohl er ihr doch alles gebe, wozu seine Liebe fähig sei, was er denn noch alles tun könne. Tags zuvor hatte er von wilden Bettgeschichten erzählt. Er sprach zu Plenten mal wie zu ihrem Bruder, mal wie zu ihrem Liebhaber, einem Konkurrenten. Planten selbst bemühte sich stets möglichst schon am Anfang des Gesprächs herauszufinden, ob er denn als Gefangener, bester Freund oder eine zufällige Bekanntschaft in einer Bar angesprochen wurde.

Nobnoj war launisch, harmlos und dumm. Er hielt unglaublich viel von sich und seinem Erfolg, hielt

sich sogar für einen großen Künstler. Das verhinderte, daß Plenten ihn irgendwie sympathisch finden konnte, so sehr er sich auch bemühte.

Wirklich, Plenten hatte etwas übrig für Freaks, in gewisser Weise bezeichnete er sich selbst als einen. Doch Nobnoj war zu verkrampft, zu gezwungen, kein besonderer Mensch, auf essen Bekanntschaft man großen Wert legen müßte.

Seine Besuche fanden unregelmäßig statt. Teilweise erschien er am Tag mehrmals, teilweise ließ er sich tagelang nicht sehen in der Bibliothek, die Plenten nur noch verließ, wenn die Verrichtung gewisser körperlicher Bedürfnisse große hygienische Mängel hervorrufen würde. Er kam dann wortlos herein und setzte sich wartend auf einen grünen Ledersessel, der dem Sofa gegenüberstand, auf dem Plenten entweder saß oder lag in irgendein Romanwerk vertieft. Geduldig wartete er bis jener seinen Absatz, sein Kapitel fertig gelesen hatte und das Buch auf einen kreisrunden Tisch, auf dem eine Kanne und eine Tasse mit kaltgewordenem, schwarzen Tee standen gelegt hatte.

"Guten Morgen," schrie Nobnoj.

"Morgen," sagte Plenten mit einem gnädigem, müden Nicken, die Augen kurz schließend.

"Ich komme, weil die Situation höchste Eile erfordert, so brenzlig war es noch nie." Plenten nickte. "Sie wissen, welches Datum wir heute haben?"

Plenten hatte jegliches Zeitgefühl verloren seit er hier war, trotzdem war er sich sicher, daß es höchstens Mitte Dezember geworden sein konnte. Obwohl Nobnoj ein schlechter Schauspieler war, konnte Plenten erkennen, daß er einen amerikanischen General aus einem amerikanischen Film darstellen wollte. Aus welchem, wollte er gar nicht mutmaßen, weil er wußte, daß er sowas durchaus haßte. Er nickte. "Dann wissen Sie ja, was los ist, Kommen Sie mit." Keiner rührte sich. Das ganze Spiel lief immer nur im Sitzen, im Kopf ab.

"Sie kennen jene Frau noch, die Sie damals angeschleppt haben?"

"Pandarei?"

"Genau. Ich habe sie töten müssen. Sie wußte zuviel und es bestand die Gefahr, daß sie der gegnerischen Seite Informationen zukommen ließ."

"Was?" Plenten spielte Entsetzen.

"Genau. Sie wissen, daß Sie dieser Vorfall nicht in ein besseres Licht rückt. Es wird sich zeigen, ob wir auch noch Schritte gegen Sie unternehmen müssen. Folgen Sie mir einstweilen!"

"Sie wissen, daß ich Sie von hinten längst hätte überwältigen können."

"Sie wissen aber auch, daß Sie ohne mich nie hier rausfinden."

Plenten fühlte, wie eine ungeheure Müdigkeit es sich in ihm bequem machte. Er fragte sich, wieviel von diesem Schwachsinn er heute ertragen könnte. Was faszinierte diesen Menschen nur immer wieder daran, sich mit ihm auf imaginäre Abenteuer zu begeben?

"Halt! Bis hierhin und nicht weiter. . . sehen Sie?" Plenten hatte keine Ahnung, was er denn jetzt betrachten sollte, vielleicht eine Schlangengrube.

"Woher haben Sie das gewußt?"

"Ich gehe seit meiner Kindheit in diesem Labyrinth aus und ein."

Das war zuviel. Plenten war kein Mensch, der zu Gewalttätigkeiten neigte, jetzt jedoch stand er ruckhaft auf und kippte den Tisch. Er nahm die Kanne, aus feinstem Porzellan und hieb sie Nobnoj über den Schädel, dergestalt, daß sie in tausend bunte Splitter zerbrach. Das blutete. Das tat gut. Das machte Spaß.

"Raus!" brüllte er.

Nobnoj wimmerte, krümmte sich, wollte eins werden mit dem Boden, dem Erdreich, dem Teppich, dem roten Teppich, wollte hineinfließen, bloß hinein. Er winselte.

Plenten hatte Blut gerochen und fand es gut. Er holte aus mit seinem Fuß und trat, trat in Fleisch, lebendiges, das nachgab und Schmerz empfand. Schrille Schreie zerrissen sie Stille, in der die Atmosphäre des Raums gedacht hatte, sich wiegen zu können. Zucken, Nerven, die zucken und

Weichheit und Härte. Plenten war Gott und er bestrafte seine Schöpfung, ließ sie wissen, wer der Herr dieses Universums war.

"Hört auf, hört auf! Ich verrate auch alles."

Plenten beugte sich zu dem reglosen Nobnoj, der sich immer noch in seiner Rolle befand, und zog ihn an den Haaren zu sich heran.

"Mama!" winselte Nobnoj.

Plenten schlug ihn noch einmal mit der Faust ins Gesicht und wandte sich wieder seiner Lektüre zu. Nobnoj weinte noch ein paar Tränen und fiel dann in tiefen Schlaf, zusammengekauert wie ein kleines Kind fand er zurück in den Leib seiner Mutter, deren Muttermund sich doch nicht als Einbahnstraße erwiesen hatte. Gott hatte seiner Schöpfung zu ihrem größten Triumph verholfen: er hatte es ihr ermöglicht, sich selbst rückgängig zu machen.

Doch Gott streifte schon längst wieder durch grüne Hügel und dampfende Wälder, alles auch seine Schöpfung.

Kapitel 10: Early Morning Blues

Es roch nach zuviel Rasierwasser und Schweiß, der sich wieder zu seinem Recht verhalf. Er fühlte sich an wie viel zuviel Fleisch mit viel zu viel Haaren. So schön widerlich kann Liebe sein.

Sie war nicht zur Arbeit erschienen, hatte den Telefonhörer auf die Seite gelegt. Sie war nur da, hatte sich selten so ganz Mensch gefühlt.

Sie sagte nicht zum Augenblick: "Verweile!", sondern stand auf, um Kaffee zu kochen.

Als sie zurückkam, lag er auf dem Bett und machte ein mürrisches Gesicht, soweit das durch seinen Bart durchkam oder verzerrt wurde.

"Hast du etwas, das Töne erzeugt?"

Sie wies auf ihre Kompaktstereoanlage und ihre umfangreiche Plattensammlung von AC/DC bis ZZ Top.

"Nein, ich meine, womit man selbst Musik machen kann."

"Ich habe früher mal Blockflöte gespielt."

"Lange her?"

"In der Grundschule."

Sie saß wieder neben ihm auf dem Bett, den grünen Fleck ganz gut verdeckend. Beide hatten sie eine Tasse heißen, dampfenden Kaffees in den Händen, wärmten sich daran, denn es war kalt geworden, auch drinnen. Sie plazierte noch einen Aschenbecher in die Mitte uns zündete sich eine Zigarette an. "Hast du diesen Plenten gekannt?" wollte er wissen.

"Nur flüchtig. Er war mal hier."

"Hier? Wann?"

"Vorgestern nacht."

"Ja? Und was hat er gemacht?"

"Er war sehr besoffen, er hat sich ausgeschlafen."

"Das kann sein. Und wie kommt er ausgerechnet zu dir?"

"Weiß ich nicht. Mitte in der nacht hat er plötzlich an der Tür geklingelt und war da."

"Du hast offenbar ein offenes Herz für Wärme suchende Menschen."

"Vertraust du mir?"

"Ob ich dir vertraue? Sag mal, ich kenne dich noch keine 24 Stunden und du fragst . . . Hey was ist denn? Habe ich was Falsches gesagt?"

Worte huschten in und um und zwischen ihre Körper. Worte, die gedacht und gesprochen wurden. Worte wirr und Worte klar verhüllten die Sicht zwischen ihren Körpern, machten sie klar, machten sie wieder trübe, wurden alleinige Herren der Situation, ohne daß die Menschen etwas dagegen tun konnten, ohne daß sie ihre Bevormundung rechtzeitig bemerken konnten. Liebe Leute, dies hier ist ein Märchen.

"Ich werde Ärger kriegen im Restaurant."

"Baby, die Welt endet hinter diesen vier Wänden."

"Die ich mir nicht mehr leisten kann, wenn ich diesen Job verliere. Ich rufe besser an."

Bevor er irgendwas machen konnte, war sie bereits am Telefon und wählte. Er zog es vor, sich noch einmal tief in die Kissen sinken zu lassen, dabei hätte er beinahe den Aschenbecher umgekippt, zumindest neigte dieser sich schon bedrohlich. Außerdem strich er mit dem Unterarm über jene Stelle mit getrocknetem Erbrochenem, dachte aber im ersten Moment nicht an Erbrochenes.

". . . meine Mutter sehr krank. Ich mußte kommen."

"Tut mir leid, es soll nie wieder vorkommen."

"Weiß ich nicht. Tut mir leid."

"Tut mir leid, es soll nie wieder vorkommen."

"Selbstverständlich."

"Bis später, Auf Wiedersehen."

"Arschloch." - Nach dem Auflegen.

"Was ist?"

"Er war sehr aufgebracht."

"Aufgebracht?"

"Ja. Es ist wohl besser, wenn du jetzt gehst. Ruf doch mal an!"

"Werde ich machen. Tschüs."

Kuß auf den Mund. Tür zu.

Wieder auf den Straße konnte er folgende Szene beobachten.

Ein kleiner Junge rannte weinend, seine blutende rechte Hand haltend zu seiner Mutter: "Mami, Mami, Evi hat mir den Finger abgebissen. Alle Mädchen sind doof." Gegenüber stand ein kleines Mädchen und kaute Kaugummi. Ihr Mund war rot wie Marmelade. Sie verstand den Rummel nicht ganz, der um sie stattfand. Wieso wollten diese Leute alle, daß sie den Finger ausspuckte, diesen kleinen Finger?

"Wenigsten kann er noch ein guter Baßist werden," dachte der Baßist und ging weiter.

Im Nachmittagsprogramm lief ein tschechischer Kinderfilm, das Kino war leer. Als er danach ein Teller Pommes Frites in Bratensoße - er hatte lange mit dem Mann hinter der Theke verhandeln müssen - verzehrte, fühlte er sich auch nicht viel besser. Er wußte, daß Musik ihn jetzt töten würde. Er starrte durch das Fenster auf die Straße, auf die vorbeifahrenden Autos, auf den spiegelverkehrten Schriftzug, der jedem vorbeigehenden verkündete, daß es sich hier um "Sepp's Brotzeitecke" handle - mit falschem Apostroph.

Ein Mann, der am Nebentisch stand, ein Handwerker, wollte den Salzstreuer. Er reichte ihn ihm.

"Klasse Wetter, diesen Herbst, nicht?"

"Jaja."

Alexandra lag auf ihrem Bett, auf ihrem Fleck und starrte die Wand an. Immer hatte sie geglaubt, sie laufe durch einen langen, grauen Tunnel, an dessen Ende ein grünes Licht schimmerte, doch nun mußte sie feststellen, daß es nur eine graue Wand gewesen war, gegen die sie gelaufen war und daß das mit dem grünen Licht reine Einbildung gewesen war.

Von drunten hörte sie Kindergeschrei, von wegen hinter diesen Wänden endet die Welt! Diese Welt endet niemals. Sie war ein kleiner Tropfen auf den unendlich heißen Stein der Ewigkeit.

An diesem Nachmittag beschloß Alexandra sich sehr schlecht zu fühlen, weil unglückliche Menschen und Verlierer viel intensiver leben, den Momenten mehr Ewigkeit abgewinnen.

Ein Straßenmusikant stand und spielte. Er sang Lieder von sich und seiner Heimat irgendwo hoch im Norden oder im Süden.

Zehn Meter weiter standen junge Indios und sangen Lieder vom Kokain kauen. Sie machten einen Höllenlärm mit Gitarren und Flöten. Es war, glaube ich, 'El Condor Pasa', was sie schon eine dreiviertel Stunde lang spielten, was die Leute schon ebenso lange beklatschten und mit schwer verdienten und herumgetragenem Hartgeld entlohnten.

Von dem Sänger mit der Gitarre konnte man nur etwas verstehen, wenn man sich sehr nahe an ihn hintraute, was man nicht tat.

Manchen ärgerte das.

Kapitel 11: Flucht

"Come mai mi hai lasciato ?"

Irgendeine verrauchte italienische Stimme quoll etwas zu laut durch die Boxen, um nicht davon genervt zu sein. Es war eine jener etwas schmuddeligen Kneipen, die versuchten einen Hauch von Nostalgie zu erzeugen, indem sie Musikboxen und Flipperautomaten auf den Wegen zu ihren Toiletten aufwiesen. Leute, die sich davon angezogen fühlten, waren in der zweiten Lebenshälfte, hatten Bierbäuche, Goldketten, Augenringe und schlechte Dauerwellen und blickten alle auf bessere, alte Zeiten zurück, tranken Weizenbier und Pils in Mengen, die ihnen ihr Arzt verboten hatte, und Gespräche über Sex, Politik und manchmal auch Fußball.

Ein Tisch in der Ecke war mit ein paar 13- bis 14-jährigen besetzt, die durch den Genuß von branntweinhaltigen Getränken allmählich in einen Zustand versetzt wurden, der sie ihre teuer erstandenen Fast-Food-Produkte in Lachen Mutter Erde zurückgeben lassen würde. In regelmäßigen Abständen stand einer auf, um verzweifelt und zum wiederholten Male den Inhalt der Jukebox zu prüfen, leider nichts dabei und doch erweckten sie hinter vergeblich schön geschminkten Gesichtern eine traurige Sehnsucht nach Jugend, Tanz und verlorener Liebe. Heinz fiel nicht auf von seinem Äußeren her, er war nur etwas unkommunikativer als die anderen. Er sah aus als hätte er Kummer, wäre gerade von seiner Frau, die er schon seit über zehn Jahren liebevoll "Alte" nannte, vor die Tür gesetzt worden oder als hätte er heute vom Arzt erfahren, daß er Krebs und nur noch zwei Monate zu leben habe, falls er nicht aufhöre weiterzumachen wie bisher. Irgendein Pfarrer hatte ja mal gesagt, daß man gar nicht wisse, ob der Tod so schlimm sei.

Doch Heinz war nichts dergleichen widerfahren. Er hielt sich für so attraktiv und bemittelt, daß er es nie für nötig erachtet hatte, eine feste Bindung einzugehen, sagte er. Nein, Heinz war einfach deswegen so schweigsam, weil er sich Gedanken über sein Leben machte aus der dunklen Ahnung

heraus, daß er es irgendwie komplett verkorkst habe, wie es jeder macht.

Er dachte über Nobnoj Smada nach, von dem er unglaublich abhängig war und über den man, sollte man ihn persönlich kennen, nicht nachdenken sollte, weil man sonst zwangsläufig Depressionen bekam, er dachte über Plenten und Pandarei nach, die ihm leid taten und über das Purple Haze, jenen Laden, der seine Identität war; doch daß nicht einmal der Gedanke daran ihn aufheiterte, machte ihn traurig und er bestellte einen Korn. Als er danach immer noch traurig war bestellte er noch einen Korn, als er dann immer noch traurig war, fing er an von vorn.

"Come mai mi hai lascato?" sang die rauchige italienische Stimme. Die Auswahl an brauchbaren Titeln in der Jukebox war wirklich nicht sehr groß.

Plenten fand die gelegentlichen Besuche Heinz' viel angenehmer als die Nobnojs. Heinz war kein sehr intelligenter Mensch, aber man konnte sich mit ihm unterhalten, man konnte ihn verwirren, wenn man ihm etwas erzählte, das auch nur ein bißchen originell klang und aus den relativ konventionellen Denkbahnen, in denen Heinz' Verstand sich bewegte, ausbrach. Heinz war offen, zwar nicht unbedingt in der Lage, alles zu durchschauen, aber offen und es machte Plenten nichts aus, wenn jener Verdrehtes weitererzählte. Hauptsache, er wurde etwas geistigen Ballast los. Manchmal schaukelte sich das Ganze auch in selbst für ihn schwindelerregende Dimensionen auf, denn Heinz war frustriert und konnte auch zum Reden gebracht werden.

Es war also eines sonnigen Tages - und die Sonne schien, wie bereits erwähnt, jeden Tag -, als Heinz begann: "Du verwunderst mich."

"Wieso?"

"Seit du hier bist, hast du noch kein einziges Mal gefragt, wo du hier bist, was du hier sollst oder wie lange du hier bleiben sollst. Weißt du eigentlich, welches Datum wir heute haben?"

"Nein, es interessiert mich auch nicht im geringsten. Ich weiß, wenn ich anfange darüber nachzudenken, könnte es sein, daß mich dieser Zustand irgendwann anödet, was er bis jetzt noch nicht tut, was mir relativ willkommen ist."

"Hast du Angst?"

"Nein."

"Nobnoj ist ein Psychopath."

"Ich weiß."

"Und du hast keine Angst?"

"Nein, keine."

"Du fragst auch nicht mehr nach Pandarei."

"Sollte ich das denn?"

"Nicht zuletzt bist du in das Ganze ihretwegen hinein geraten."

"Ich weiß gar nicht, was 'das Ganze' sein soll. Vieles von dem, was ich in letzter Zeit erlebt habe kommt mir vor wie ein Traum oder etwas, das für mich inszeniert wurde. Es geht mir nicht schlecht, wieso sollte ich also fragen, was 'das Ganze' soll. Bei Träumen frage ich auch nicht, woher sie kommen."

"Du hast dich aber einmal sehr für Pandarei interessiert. Und der Rock 'n' Roll? War das nichts? War das alles konstruiert?"

"Damals war ich ein anderer Mensch."

"Du weißt nicht einmal, wie lange, 'damals' her ist. Du lebst in Romanen."

"Im Elfenbeinturm, genau. Ich habe nicht die geringsten Probleme damit. Ich glaube, ich habe mich dafür entschieden, kann mich rechtfertigen."

"Scheiße."

"Was?"

"Scheiße!"

"Genau."

"Ich dachte, ich hätte einen Verbündeten."

"Einen Verbündeten."

"Ja, ich muß hier raus. Weg. Verstehst du. Nobnoj ist ein Gefängnis, eine Falle. Wer ihm einmal ins Netz gegangen ist, der kommt nicht mehr davon. Er scheint harmlos zu sein, man kann alles mit ihm machen, wenn man auf seine Tageslaune entgeht, aber wenn man versucht, sich von ihm zu lösen, kann das tödlich sein. Siehst du das?"

Er zog mühsam seine Hand hoch und enthüllte eine zwanzig Zentimeter lange Narbe quer über seinen Bauch. "Und das?" Er hatte sein speicheltriefendes Gebiß in der Hand. "Und das?" Er verdrehte seine Augen solange bis wieder die Pupillen vorne waren. Plenten nickte dreimal schwerfällig.

"Das kommt alles von fehlgeschlagenen Fluchtversuchen. Schläger, Hunde, Minen, er setzt alles ein und am selben Tag noch unterhält er sich mit dir als wäre nichts gewesen."

"Schlimm, schlimm." Noch konnte Plenten sich nicht richtig für die Tragik des Augenblicks erwärmen.

"Aber zu zweit könnte es klappen, zumindest für einen von uns. Nachdem du ja sowieso nicht so sehr am echten Leben interessiert bist. . ."

"Ich will noch nicht sterben!"

Zum ersten mal schien Plenten wieder mit Zehenspitzen den Boden zu berühren. Heinz bemerkte das nicht bewußt, es ging ihm wirklich um etwas tief drinnen.

"Der Tod muß nichts Schlimmes sein."

"Man kann zumindest nicht mehr ans Telefon gehen."

"Das stimmt."

"Das ist ärgerlich, wenn man nicht einmal könnte, wenn man wollte."

"Richtig."

"Wie sieht dein Plan aus?"

Plenten lebte in einer Bücherwelt und Bewohner der Bücherwelt träumten oft von phantastischen Abenteuern in der realen Welt.

"Naja, Plan würde ich es nicht nennen. Eigentlich kann ich mich frei bewegen, muß nur immer gleich zur Stelle sein, wenn er mich ruft. Das macht es schwer ihm wirklich davonzulaufen."

"Plan Zehn?"

"Den mit den Pferden."

"Ich kenne ein nettes kleines Café, dessen Besitzerin uns aufnehmen würde für ein paar Tage, die Pferde könnten wir laufen lassen. Wenn Nobnojs Schläger uns aufspüren, haben wir Pech gehabt, wenn nicht, dann sind wir frei."

". . . und können auch nur gehen, wohin wir wollen."

Das Haus war von einer sehr großen Gartenanlage umgeben; Plenten hatte noch nie versucht bis zu den Grenzen vorzustoßen, wohl wußte er aber, daß es auf dem Grundstück einen Pferdestall gab, das hatte Nobnoj ihm erzählt. Sie machten sich auf den Weg durch sehr felsiges Gelände mit spärlichem Bewuchs. Es war heiß und das machte die Wanderschaft zu keinem großen Vergnügen. Sie redeten nicht viel, so daß Plenten Gelegenheit bekam, sich Gedanken zu machen, auf was er sich eingelassen hatte. Er stellte fest, daß er durchaus noch in der Lage war, sich selbst zu überraschen.

Als sie ankamen, dämmerte es bereits. Das Gebäude war groß, bot Platz für viele Tiere.

"Wir haben Glück, außer dem alten Max ist niemand da."

Eine Tür schob sich langsam auf und ein kleines, buckliges Männchen kam hervor.

"Guten Abend, ihr Herrel, was wünschet Ihr?" sagte es unter Kichern mit einer heiseren, krächzenden Stimme.

Trotz der einsetzenden Dunkelheit konnte Plenten erkennen, daß sein Gesicht über und über mit häßlichen Narben und Pickeln übersät war. "Wir wollen noch einen kleinen Ausritt machen."

"Aber natürlich, ihr Herrel, kommet mit, ihr Herrel!" Mit einem weiten Kichern verschwand er humpelnd hinter der Tür. Plenten und Heinz folgten ihm.

Es kam Unruhe auf in den Boxen, als die schlürfenden Schritte des Alten durch die Halle klangen und widerhallten.

"Seid still, ihr Pack", schrie er bösartig und drohte mit den Fäusten nach Pferden, die dann erschreckt zurückwichen und begannen zu wiehern.

Plenten verstand nichts von Pferden, aber er hatte den Eindruck, daß es sich um zwei sehr wertvolle, schnelle handelte, die Max mit vielen Tritten und Flüchen ins Freie führte und in Windeseile, im Gegensatz zu den anderen Bewegungen, die er ausführte, aufsattelte.

"Viel Vergnügen, wünsch ich euch, ihr Herrel", das war sehr durch die Nase gesprochen.

Plenten wollte noch sagen, daß er das erste mal auf dem Rücken eines Pferdes saß, als sie schon davonstoben in die Nacht.

Plenten saß auf einem schwarzen, während Heinz auf einem Schimmel ritt. Plenten überlegte, ob das irgendeine Bedeutung haben könnte.

"Früher, in seiner Jugend, war er der Liebling aller Frauen" - Heinz redete von alten Max - "ein Kunstreiter, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hatte. Er zog von Stadt zu Stadt mit seinem legendären Pferd Joe und führte auf vielbesuchten Plätzen große Kunststücke vor. Meist fiel den Leuten das Geld leicht aus der Tasche und er konnte kein schlechtes Leben führen.

Auch war es für ihn nicht schwer, ein Lager für die Nacht für sich und sein Tier zu finden. Doch eines Tages mißlang ihm ein Kunststück: Er hatte sich vorher unter den Zuschauenden umgesehen und dort ein wunderschönes blondes Mädchen entdeckt, das nur Augen für sein Pferd hatte, sagt man. Da er zu jenen Menschen gehörte, die sich auf den ersten Blick verlieben, war seine Aufmerksamkeit geteilt. Bei einem Trick fing er auf dem im Kreis trabenden Pferd Münzen mit dem Mund auf, die ihm die Leute aus dem Publikum zuwarfen, an sich eine reine Routinegeschichte. Doch an jenem Tag beugte er sich zu weit hinüber, um eine Münze, keine kleine, aber eine schlecht geworfene von einem

Jungen, der mit elf noch immer nicht lesen und schreiben konnte, sagt man, noch zu bekommen, bekam aber statt dessen das Übergewicht und landete mit Gesicht und Schnauze mitten auf dem Platz und im Gespött der Leute Natürlich klang unter all dem Lachen, das sofort einsetzte, eine Stimme besonders durch, eine helle, klare, wie ein Klöckchen, unschuldig. Man sagt auch, daß man trotz des

Lärms sein Zähneknirschen gehört habe. In der darauffolgenden Nacht jedenfalls zwang er das Mädchen unter diabolischen Grinsen zum Beischlaf mit dem Pferd. Keinem ist das sonderlich gut bekommen. Er landete für einige Zeit im Gefängnis, so er sich durch den Stich einer äußerst seltenen Fliegenart eine schwere Hautkrankheit zuzog, die sein Gesicht total entstellte, ihm jedes Anzeichen

seines ehemaligen Ruhmes vom Körper radierte und traurige Spuren der Einsamkeit zurückließ. Nur sein Grinsen sei ihm geblieben. Man könne es manchmal noch sehen, wenn er Pferde mißhandle oder wenn er sich an Nächte erinnert, die er allein im Pferdestall zugebracht hat. Jedenfalls munkelt man von sodomistischen Umtrieben, mit denen er sich viele Male für das ihm zugefügte Unrecht räche."

Auch jene Nacht war eine Rachenacht. Max öffnete wie jede Nacht eine Box und ging händereibend auf das verängstigte Tier zu, doch diesmal endete es zwischen Wand und Pferdeleib, zwischen Huf und Betonboden, zwischen zerbrochenen Gliedmaßen und gerötetem Stroh. Ob Nobnoj diese Geschichte lieben würde.

Sie ritten die ganze Nacht; sie flogen über Meere, Länder, Gebirge, meinte Plenten. Zu schnell zog alles an ihm vorbei, als daß er noch Einzelheiten hätte wahrnehmen können. Er erinnerte sich an einen kurzen Regenschauer, doch bald war wieder alles trocken, fast Wüste.

Nur einmal hatten sie kurz Rast gemacht an einem Fluß, um die Pferde zu tränken. Heinz hatte sich die Kleider vom Leib gerissen und war in die Fluten abgetaucht. Auf seine Einladung hin, war ihm auch Plenten gefolgt. Heinz hatte gesagt, daß es besser sei, daß wo sie hinwollten, frisch gewaschen anzukommen.

Danach hatten sie ihre Reise in ruhigerem Tempo fortgesetzt. Als jedoch langsam der Himmel ein helles Blau annahm, hatte Heinz noch einmal angezogen, um das Letzte aus den müde werdenden Pferden herauszuholen.

Gegen Morgen sahen sie die Silhouette einer Stadt vor sich auftauchen. Plenten dachte, daß sie wohl einiges Aufsehen erregen würden, wenn sie am Morgen durch eine Stadt reiten würden, doch er täuschte sich. Keine Menschenseele war zu sehen, es wirkte sehr verlassen. Die Häuser alle noch zur Mitte dieses Jahrhunderts errichtet, grau und schwarz geworden in den Jahren deren Glück und Leid sie hatten mit ansehen können. Alles war finster, vieles verwahrlost.

"Könnte ein gutes Versteck sein", meinte Plenten.

Sie bogen ein eine hellerleuchtete Straße ein und plötzlich war leben um sie. Überall saßen auf Brunnen und in Straßencafes junge Leute und unterhielten sich, lachten, scherzten. Die bunten Häuser beherbergten offenbar alle Kneipen, Bistros und Bar, überall war etwas los.

Heinz lenkte in eine Einfahrt, die zu einem dunklen Innenhof führte, von dem man das letzte Verblassen des Halbmondes sehen konnte. Dort stellten sie ihre Pferde ab.

Sie benutzten den Vordereingang, aus dem, gerade als sie eintreten wollten, ein Betrunkener lachend herausstürzte. Sie stiegen über den lauten Körper, um endlich doch hineinzugelangen.

"Hey, wartet, euch kenn ich irgendwo her."

Plenten wollte sich umdrehen, sah aber, daß sich Heinz schon drinnen befand. Ein quadratischer Raum mit gelben Wänden, der zu einem Viertel aus einer Bar bestand, hinter der Mädchen auf die Beschreibung "schön, aber nicht attraktiv" zutraf, fleißig damit beschäftigt waren, Getränke in Gläser abzufüllen und schönen, wirklich schönen und gutgekleideten jungen Menschen, die an kleinen Tischen an der Wand entlang saßen, zu bringen. Sie unterbrachen dann ihr Großteils sehr ernsthaftes Gespräch für ein kurzes Nicken oder Lächeln. Plenten fiel auf, daß Leute, die sich in der Öffentlichkeit ernsthaft unterhielten, immer komisch aussahen.

"Eigentlich bin ich nicht oft hier, ich mag die Leute nicht", sagte Heinz, während er Plenten ein schlecht eingeschenktes, helles Bier in die Hand drückte. Sie befanden sich also in einer Bar oder einem Café, wie Heinz gesagt hatte, in dem eigentlich niemand oft war, eben weil er die Leute nicht mochte. An den Wänden hingen Photographien von Menschen in komischen Posen, die sehr nach großer Kunst aussehen sollten. Plenten fand, daß sich alles zu einem harmonischen Bild

zusammensetzte und bekam jenes eigenartige Gefühl, das einen normalerweise überfällt, wenn man

allzu offensichtlicher Perfektion gegenübersteht.

" Ich weiß nicht, ob die Chefin da ist. Ich hoffe es, denn in letzter Zeit macht sie sich rar."

Ein Durchgang, in dem lässig ein Zigarettenautomat an der Wand lehnte, führte zu einem weiteren Raum, von dem nur eine Regalwand mit Schnapsflaschen zu sehen war. Das weckte Forscherdrang.

"Sag mal, kennen wir uns nicht irgendwoher?" Sie stand vor Plenten, hatte schwarzgefärbtes Haar und war so schön, daß er nicht einmal im Traum daran gedacht hätte, sie zu berühren.

"Äh, weiß nicht."

"Ich heiße Xenia. Bist du öfters hier?"

"Eigentlich nicht."

Er war zwei Typen mit gepflegten Kurzhaarfrisuren und blau gestreiften Hemden, die gerade den noch bescheidenen Gewinn der noch jungen Firma, deren Besitzer sie waren, versoffen, sehr dankbar, als sie ihre Bierkrüge laut gegen Plentens krachen ließen und schrien - die Musik war sehr laut "Sex Machine" von James Brown, man hörte nur den Baß aus kleinen Boxen, denen man dies nie zugetraut hätte: "Hey Elvis, sing doch ein Lied für uns!" Die zwei nahmen zwei kräftige Schlucke, viel kräftiger als sie selbst es je sein würden, und wollten schon wieder anstoßen. Diesmal zersprang das Glas des einen und zerschnitt ihm die rechte Hand, so daß man sogar den Knochen seines Daumens sehen konnte. Doch nicht der Anblick von Blut, sondern das völlig unveränderte, wenn nicht verbreiterte Grinsen dieses Kerls verwandelte Plentens anfängliche Amüsiertheit in Gewaltbereitschaft. Diese wäre auch hemmungslos und nasenbeinzertrümmernd zum Ausbruch gekommen, hätte Heinz ihn nicht im entscheidenden Moment weggezogen. "Komm mit!"

"Verstehen Sie mich nicht falsch; ich meine nicht, daß Sie mit ihren dreijährigen Kindern ins Bett gehen sollen, nur damit sie es einmal besser haben wie Sie. Schließlich ist nicht jeder Komplex nichtgehabter Sex mit drei. Nein, ich wollte eigentlich nur sagen, wie wunderbar beschissen auch Ihr Leben sein kann und daß Sie keine Hemmungen haben sollten, Kinder in die Welt zu setzen. Der Weltschmerz wird keine Probleme haben, Ihre Erziehungsfehler wiedergutzumachen."

Plenten mußte das hören im Vorbeigehen und das war wirklich der Punkt, an dem der Spaß aufhörte. Hier wurde wahrscheinlich wieder fremdes Geld in Alkoholika verwandelt. Das stand diesem Menschen nicht zu. Der eine soll Schulden machen, der andere soll Geld verleihen und ein dritter soll denken und sich von solchen Orten fernhalten. Alle drei haben sich nichts zu sagen. Plenten wünschte sich ein riesiges Bierglas, um sich dahinter zu verstecken. Plenten wünschte sich so klein zu sein, um sich hinter jedem Bierglas verstecken zu können.

Sie gingen auf die Damentoilette. Plenten wußte, daß das Ende des Jahrhunderts war, daß die Leute sehr viel wußten und im allgemeinen frustriert waren und das Dekadenz und Langeweile zwei sehr zentrale Dinge im Leben sein mußten, um sich wirklich als "Modernen Menschen" bezeichnen zu können, so daß er es für zwar nicht sehr originell, aber doch nicht für ungewöhnlich hielt, wenn zwei Männer auf die Damentoilette eines Lokals gingen, sich in einer Kabine einschlossen, komplizierte Klopfzeichen an den Spülungskasten abgaben und sich dabei unglaublich toll und komisch vorkamen.

Bevor sie sich allerdings über die verrückte Sache, die sie sich da rausgenommen hatten fast täuschend die wochentagseriösen Spinner, die sich hier wie die Fliegen um Licht versammelt hatten, imitierend, totlachen konnten so lautstark, daß auch noch andere ihre Witzigkeit mitbekommen konnten - das gehörte zum Balzritus - schob sich die Rückwand der Toilette zur Seite und gab den Blick frei auf einen Gang, der die Heruntergekommenheit und die Schmierereien an den Wänden, die dieser Damentoilette fehlten, um sie zu einer authentischen von mehreren sich nicht unbedingt bekannten Personen benutzten Bedürfnisanstalt zu machen, endlich aufwies.

Der Gang führte zu einer Tür, die wiederum der obere Abschluß einer nach unten führenden Treppe war.

Im Keller roch es nach Intimität. Viele nicht geschlossene Türen als würden alle Leute, die her Geheimnisse haben, sie offen präsentieren, weil die zufällig Vorbeischauenden auch Geheimnisse

hatten, weil es ja im Dunkeln tief unten passierte. Natürlich hingen trotzdem Schnüre mit Glasperlen

an jedem Eingang, Exotik muß sein!

Ein Tisch mit ernst und gewichtig dreinblickenden Männern mit viel Geld vor sich, die doch nur Karten spielten, ein Matratzenlager mit vielen Nackten, die ihre Körperlichkeit bis zur Erschöpfung erprobten, ein paar Messer, die Zwiebel zerteilten, um ein paar verlorene Philosophen wunderschöne Erlebnisse gemeinsamen Tränenausdrucks zu bereiten.

Endlich kamen auch sie zu ihrem Ziel, einem kleinen, gemütlichen Räumlein, nahmen Platz auf einem Berg von Sitzkissen.

"Hier werden wir uns verstecken, nichts wird uns fehlen."

Die Chefin erschien, eine erbleichte Schönheit, die sich mit der Wahrheit noch nicht abfinden konnte.

"Ihr wißt, daß hier alles für euch getan wird, weil ihr meine Freunde seid, alles."

Sie streifte Plenten von oben nach unten mit einem Blick und eine unerlaubt versoffenerotische Stimme wie eine Besitzende. Sie war die Chefin.

Plenten konnte ein Grinsen nicht zurückhalten. Er freute sich darüber, wie schön alles sich zusammenfügte. Er dachte an Nobnoj und wie sehr ihm das gefallen hätte und verstand ihn ein bißchen.

Die Chefin erwiderte mit einem verführerischen Lächeln. Sie war das eigentliche Geheimnis, das hier behütet wurde. Plenten wußte, daß er es nie würde lüften können, wohl aber, daß er Teil davon werden konnte. Alles fügt sich zusammen zu Einem.

Heinz warf auf beide böse Blicke. Damit gab er einen Teil seiner Vergangenheit preis. Sie versuchte ihn zu beschwichtigen, indem sie sich zu ihm niederließ und in die Arme nahm. "Gastronom und Gastronom gesellt sich gern", dachte Plenten und hielt sich für spruchreif, jedenfalls könnte er, so dachte er, wenn sich wirklich nichts mehr fände, immer noch einer Tageszeitung anbieten für sie jeder Tag einen "Spruch des Tages" auszudenken, den sie dann ganz groß auf der letzten Seite anbringen könnte.

Die Chefin verschwand wieder, um Champagner zu holen.

"Sag mal, Heinz, gibt es da etwas, das du erzählen könntest euch beide betreffend?"

Heinz wurde ganz schnell rot, er griff nach einer Schachtel Zigaretten in seine Hemdtasche und wurde erst wieder ruhig, nachdem er einmal gierig gezogen und den Rauch wieder in die Unbewegtheit des Raums hinausgeblasen hatte.

"Naja", sagte er, "wir hätten beinahe einmal geheiratet."

"Beinahe?"

"Ich war damals schon aushilfsweise im Purple Haze, half auch Bands aufzubauen und so. Eines Tages stand jedenfalls eine Gruppe da mit einer wahnsinnig tollen Sängerin, sie machten Bluesmusik und diese Stimme, du verstehst, das war sie. Sie sind weitergereist und ich habe nie mehr etwas von der Band gehört. Doch dann kam ich eines Tages mehr zufällig hierher, ich war für Nobnoj in rein geschäftlicher Sache unterwegs, und ich gehe nichtsahnend in dieses Café und sehe sie wieder und wir mußten uns nicht viele Worte sagen, beinahe hätten wir dann tatsächlich geheiratet und wären weit weg gegangen, wäre ich nicht eines nachts bei den Kartenspielern im Nebenraum verhockt. Um es kurz zu machen. Ich wußte damals noch nicht, welche negativen Auswirkungen der Genuß von Alkohol auf meinen Charme hat, sie hat mich noch in der selben Nacht nackt auf die Straße geworfen. Ich bin gelaufen und habe gefroren. Ich wußte keinen Menschen mehr zu dem ich gehen konnte, weil ich mich schämte oder fürchtete. Am dritten Tag fragte ich einen Bauern, ob ich bei ihm

die Schweine hüten dürfe vom Hunger getrieben. Etwa eine Woche später - ich hatte kein schönes Leben dort - tauchte Nobnoj bei dem Bauern auf und nahm mich in die Arme wie einen Sohn. Ja, wir hatten auch schöne Stunden miteinander. Ihr habe ich seitdem immer wieder Briefe geschrieben und sie hat meistens geantwortet, wir verstehen uns eben sehr gut."

Heinz' Rede war ein ständiger Kampf gegen feuchte Augen. Plenten wollte ihn schon darauf aufmerksam machen, daß das wichtigste im Leben sei, immer cool zu bleiben, ließ es aber dann aus Taktgefühl, wie er später sagte.

Schritte waren zu hören, dann Tritte. Ein Geschrei, und schließlich Schüsse.

"Die Kartenspiele hier gehen um nicht geringe Einsätze und man ist nicht immer ganz ehrlich", erklärte Heinz.

Auch Frauen hörte man kreischen. Sehr viele Schüsse krachten. Eine rauchige Männerstimme schrie etwas in den Pulverhauch uns wieder zerfetzten Kugeln Bäuche und Köpfe. Verletzte stöhnten und bekamen noch eine Ladung Blei mit auf die Zunge, um ihre Überfahrt bezahlen zu können.

"Schnell, schnell, sie suchen euch."

Die Chefin war wieder an der Tür erschienen, von der Champagnerflasche hielt sie nur noch den Hals in der Hand. Sie schob ein paar Kissen auf die Seite und sie standen über einer Falltür; durch ein Gewirr von Treppen und Gängen gelangten sie zurück in den Innenhof, wo die Pferde gerade genüßlich die Geranien vor den Fenstern wegfraßen.

Sie sprangen auf und waren schon fast aus dem Hof, als die Chefin hauchte: "Come mai mi hai lasciato?"

Plenten sah, wie Heinz erschrocken seinen Kopf herumriß, doch sie waren schon auf der Straße und Schüsse krachten hinter ihnen.

Sie ritten den ganzen Tag hindurch Richtung Westen, trafen auf keinen Menschen.

Irgendwann gegen Abend sahen sie in der Ferne ein Haus auftauchen. Sie stellten entsetzt fest, daß sie sich wieder Nobnojs Haus näherten, sie waren aber zu erschöpft, um noch einmal die Richtung zu wechseln

Nobnoj saß auf dem Sofa, auf dem Plenten immer lag, und blätterte in Kafkas Prozeß, den Plenten gerade mit großer Begeisterung las.

"Ich habe Tee mitgebracht", sagte er und sie setzten sich wieder.

Oh, es geschehen Dinge zwischen diesem Himmel und dieser Erde. . .

Kapitel 12: Die Zeit der Geschichten ist vorbei

Pandarei blickte auf ihren wunderschönen, braunen Körper und ärgerte sich. Niemand war da, der wie hätte bestaunen können. Zuerst war es hier sehr paradiesisch gewesen, sie hatte alles gehabt, was sie sich wünschen konnte: gute Musik, feines Essen, fruchtige Cocktails und niemand, mit dem sie hätte teilen müssen. Sie konnte ausschlafen und rumhängen den ganzen Tag, Radio hören und Briefe schreiben, all das, was sie schon jahrelang vermißt hatte. Doch nun konnte sie es nicht mehr genießen. Sie war hier gefangen. Kein menschliches Wesen bekam sie zu Gesicht außer Nobnoj und natürlich die Leute im TV.

Nobnoj versuchte bei jedem Besuch ihr seine Liebe zu gestehen, brachte aber die entscheidenden Worte nie über die Lippen. Jedes Mal schlüpfte er in eine andere Rolle: mal der gutgekleidete Schwiegersohn mit Banklehre, mal der Gigolo mit teuren Autos, mal der - allerdings sehr peinliche - Philosoph und Intellektuelle.

Sie hatte sich dafür von Anfang an nicht richtig begeistern können. Im Großen und Ganzen fand sie ihn langweilig und ärgerte sich, daß sie einmal eine Platte von ihm gekauft und gut gefunden hatte.

Sie liebte doch die Menschen so sehr, wäre jetzt gerne unter ihnen gewesen, statt dessen saß sie am schönsten Ort der Welt mit dem schönsten Körper, den sie je hatte und sehnte sich nach Unterhaltung. Notfalls hätte sie auch nichts dagegen gehabt, wenn die Leute alle zu ihr hier an den schönsten Ort der Welt gekommen wären. "Ich hätte nie von Zuhause weglaufen sollen!" dachte sie sich.

Daheim war es eigentlich ganz wunderbar gewesen. Sie hätte zufrieden sein können. Die Mutter hatte sie liebevoll umsorgt und der Vater hatte sie streng, aber gerecht nach seinem Ebenbilde erzogen. Pandarei war ein stilles Kind gewesen; sie hatte viel gedacht und wenig mit anderen Mädchen gespielt. Manchmal waren ihre Eltern deswegen ganz besorgt gewesen. Sie konnte sich

nie ganz aus dem Schatten ihrer großen Schwester lösen. Sie hörte auf den Namen Karin und führte ihr Leben erfolgreich. Ihr war nicht ihr Erfolg nachgelaufen, das konnte keiner behaupten, aber sie hatte Disziplin und sie hatte sich durchgesetzt im Leben. Sie hatte ihre Schule erfolgreich abgeschlossen und sich dann in einer Bank ausbilden lassen, guten Eindruck gleich das erste Mal zu erwecken und auch in guter Kleidung nicht aus der Rolle zu fallen. Manchmal kamen auch Leute zu ihr, wenn sie nicht hinter dem Schalter stand, und wollten ihr Geld anvertrauen.

Sie hatte ihren Mann Jürgen beim Tanzen kennengelernt, weil Tanzen doch so verbindend ist. Jürgen war auch erfolgreich, er würde einmal Anwalt werden, vielleicht sogar beim Staat. Karin wußte, daß man sich zuerst im finanziellen und beruflichen Erfolg kümmern müsse, der Rest stelle sich dann von selber ein. Das sei, so sagte sie, so etwas wie ihre Lebensphilosophie. Nein, Kinder wollten sie noch nicht haben, man wisse ja nicht wie sich die Lage entwickle in den nächsten Jahren und man könne in Zeiten wie diesen nie vorsichtig genug sein. Pandarei kannte ein Gefühl, das sie Bewunderung nannte und das sie für ihre Schwester empfand, dafür schämte sie sich manchmal.

Sie hatte, wie es bei Geschwistern üblich ist, oft die alten Kleider ihrer großen Schwester auftragen müssen.

"Man kann nicht zweimal in dem selben Pullover steigen", hatte sie gesagt.

"Man kann zweimal in den selben Pullover steigen", hatte ihre Mutter in einem energischem Ton geantwortet und Pandarei hatte sich den alten Pullover ihrer Schwester übergestreift. Sie war dann sehr traurig gewesen, als sie wieder zu ihrer Mutter sah und hat auf ihrem Gesicht fett und widerlich der Stolz saß, doch eine wohlgeratene Tochter großzuziehen. Abstoßend wurde es dann, wenn der Stolz sich erdreistete, ihre Lippen zu einem liebevollen Lächeln auseinanderzuziehen. Als die Mutter sie dann in ihre Arme nahm, ihr über den Kopf strich, sie küßte und in ihre Haare "Mein Kind!" lächelnd hauchte, war Pandarei nahe daran sich zu übergeben. Aber sie ließ es geschehen, weil es diese Hände waren, die sich gefaltet hatten, neben ihrem Bett, und diese Lippen, die sich bewegt hatten, um der Mutter des Gottes, der dieses Universum erschaffen hatte, einen Gruß zu übermitteln, früher, als sie noch klein war. Mittlerweile war sie jedoch alt genug geworden, um ihr zu sagen, daß man ihre Seele gleich bei der Geburt verkauft hatte. Dafür hatte man vom Arzt, der die Entbindung durchgeführt hatte, eine Tafel in die Hand gedrückt bekommen, auf der in großer altdeutscher Schrift stand: "Gut aufbewahren", und dann noch "Kaufkraft" und "Arbeitskraft", ansonsten war die Tafel weiß. Doch -oh seht her - als das Kind zum ersten Mal einen Blick darauf warf und auch zum ersten Mal schrie und wohl auch zum ersten und einzigen Mal verstand, was man ihm da zeigte, waren Zahlen aufgeleuchtet, zuerst ganz kleine, blasse, doch als das Kind heranwuchs und lernte zu vergessen, die Welt zu verstehen, wurden die Zahlen größer, kräftiger und bunter. Hin und wieder dachte Pandarei an einen alten Mann mit einem weißen Bart, der den ganzen Tag nur auf und ab ging und jedem, dem er begegnete, sagte, daß seine größte Sorge sei, daß seine Seele möglichst gut werde. "Mitleidsvoll" hätte man das Lächeln beschrieben, das sich dann auf Pandareis Gesicht zeigte. Doch sie selbst ahnte, daß das falsche Wort war.

Sie hatten ein großes Haus mit vielen Räumen und einem sehr grünen Garten gehabt. Sie hatten direkt neben einem kleinen Fluß gewohnt. Das Wasser war sauber und so konnten sie im Sommer in die Fluten steigen, um ihren erhitzten Köpfen wohlverdiente Abkühlung zu verschaffen.

Pandarei liebte es in dem Wasser zu liegen und sich einfach treiben zu lassen. Sie stellte sich vor, wie das Wasser ihren Körper durchdrang und alles mitnahm, jedes einzelne Teilchen und ein neues dafür mitbrachte und dabei entstand eine ganz neue Pandarei und wenn das letzte Teilchen an ihrem Fuß ausgewechselt war, war die neue Pandarei schon wieder die alte, weil der Fluß schon wieder Pandareiteilchen anschwemmte und am Kopf seine sanfte Arbeit fortsetzte. Pandarei liebte diese

Vorstellung und ließ sich forttreiben vom Fluß. Dann mußte sie irgendwann doch an Land und zähneklappernd den ganzen Weg zurücklaufen.

Einmal ließ sie sich soweit treiben, daß sei nicht mehr wußte, wo sie war. Sie ruderte schnell ans Ufer und wollte sich auf den Rückweg machen. Da aber der Bewuchs zu stark war, konnte sie nicht

am Wasser entlanglaufen, sondern mußte sich immer mehr landeinwärts, tiefer in den Wald bewegen. Da hörte sie eine Stimme und erschrak. Ein Mann kam ihr entgegen und sang. Sie erkannte ihn als den Alten mit der Seele.

"Guten Tag, liebe Pandarei, willst du denn, daß ich dich ein Stück weit mitnehme?"

Pandarei willigte ein und der Alte ließ sie auf seinen Schultern Platz nehmen. Beim Weitergehen stimmte er wieder den Gesang an. Es war ein schönes Lied mit vielen Versen in einer alten Sprache, die Pandarei nicht verstand. Trotzdem gefiel es ihr. Sie fühlte sich gut dabei, durch den Wald getragen zu werden und dieser endlosen Melodie zu lauschen.

Sie kamen an eine Hütte, eine alte, schäbige, kleine, aus Zivilisationsresten zusammengebaut. Der Mann nahm Pandarei von seinen Schultern und hieß sie einzutreten. Das Innere war geräumiger als der äußere Anblick hätte vermuten lassen. Er ließ sie auf einen viel zu großen Stuhl vor einem staubigen Holztisch hinsitzen.

"Du wirst sicher Hunger haben und wie es der Zufall will, habe ich heute noch etwas von meiner Suppe übrig gelassen, als ob ich gewußt hätte, daß ich noch Besuch bekomme."

Er stellte vor sie eine Holzschüssel mit einer weißen Brühe. Sie nahm diese Einladung gerne an und begann zu löffeln. Die Hütte begann sich zu drehen, sich aufzulösen. Alles verwandelte sich in Farbe, in einen Ozean aus bunten Tauben. Die Hütte, das Lachen des Mannes, das sehr vertraut und nah klang, so daß Pandarei auch lachen mußte. Vor ihr in der Schüssel war der Alte und kroch den Löffel hinauf, wurde zum Löffel, zu ihrem rechten Arm. Ihr Lachen verschmolz zu einem und Pandarei fühlte sich so gut wie nie zuvor. Sie war im Meer der Farben und sie war das Meer der Farben.

Als sie erwachte, roch sie Auspuffgase und das Geräusch eines laufenden Motors war um sie. Sie lag Gras neben der Straße. Eine besorgte Stimme fragte, ob ihr den was fehle, mein Schätzchen. Nervöse, kraftlose Arme hoben sie hoch und legten sie auf die Rücksitzbank eines Autos.

Eine Mutter von drei Kindern - sie wußte also wie das ist - ,die gerade vom Sommerfest ihres Turnvereins heimfuhr - denn es wird in der Nacht schon wieder sehr kalt zu dieser Jahreszeit -, hatte des arme Ding da liegen sehen und wäre fast weitergefahren, weil sie sich dachte, es handle sich um eine überfahrene Katze und außerdem könne man ja nie wissen. Auf jeden Fall hat man Glück gehabt und doch keine Ruhe.

Pandarei wurde krank und mußte zwei Wochen das Bett hüten. Zuerst waren die Eltern viel zu besorgt und dankbar, um ihr Vorwürfe zu machen. Doch als sie ihre Erlebnisse erzählte, wies sie der Vater mit strenger und sorgenvoller Miene darauf hin, daß sie nun wirklich nicht mehr in dem Alter sei, um Geschichten zu erzählen.

Sie sei nicht mehr in dem Alter, um Geschichten zu erzählen, sagte sich Pandarei und fand daß das gut und vernünftig klang. Sie sah endlich ein, daß das Leben mehr ist als ein langer Sommer mit Blasmusik und Tanz. Sie sah auch auf ihre Schwester uns wie sie sich seit Jahren bemühte ein gutes Vorbild zu sein und sie bereute ihre Undankbarkeit ihren Eltern gegenüber, die doch nur ihr Bestes wollten. Sie beschloß ein anderer Mensch zu werden.

Monate später - sie hatte ihr Abenteuer schon fast vergessen - träumte sie noch einmal von dem alten Mann. Er lag auf dem Boden einer Grube und lächelte zu ihr hinauf. Um sie herum standen viele Kinder, manche von ihnen kannte sie von der Schule, Freunde, manche hatte sie noch nie gesehen. Sie waren auf einer grünen Wiese, eine einsame alte Eiche befand sich auch da und spendete Schatten, denn es war ein schöner, sonniger Tag. Nach und nach entfernten sich alle Kinder bis nur noch Pandarei an der Grube stand, doch auch sie wußte, daß sie gehen mußte. Das Gesicht des alten Mannes war jetzt sehr traurig und als Pandarei sich zum gehen wandte, liefen kleine Tränen aus seinen Augen, die sich in Stein verwandelten, so daß sich der Alte bald nicht mehr rühren konnte. Sie

ging weiter, obwohl er fortwährend ihren Namen schrie. Doch plötzlich mußte sie innehalten, weil es nicht mehr die Stimme des alten Mannes, sondern die ihres Vaters war, die da rief. Als sie zurückblickte, war dort aber keine Grube mehr, nur noch die Eiche, die bedrohlich aussah.

Ihre Äste waren keine Äste mehr, sondern unzählige Arme, die sich erhoben, um die Königin zu stürzen, zum Schafott zu führen und die Königin war sie. Verstört ging sie weg.

Dann erwachte sie und war verwundert, wie leicht ihr zumute war, als wäre eine Last, die sie seit ihrer Geburt mit sich herumgetragen hatte, auf einmal von ihr abgefallen. Sie drehte sich zur Seite und fiel in einen traumlosen Schlaf für Jahre.

Das war die Zeit, in der sie in der Schule einen Höhenflug hatte. Sie war damals sehr ambitioniert und schaffte es aus dem Mittelfeld an die Klassenspitze. Zum ersten Mal sah sie ein klares Ziel vor Augen, auf das sie zuarbeiten konnte. Die Schwestern hatten nie mehr ein so gutes Verhältnis zueinander wie damals. Hin und wieder schauten sie sich sogar gemeinsam die Samstagsabendshow im Fernsehen an, und das sei schon etwas ganz Besonderes, sagte Karin immer.

Pandarei war aber nie sehr lange von demselben Menschen fasziniert und suchte sich bald einen neuen Freundeskreis. Sie machte die Bekanntschaft von harten Jungs mit weichen Drogen und großen Autos ohne Führerschein. Sie genoß dieses Umfeld und dachte, daß der einzige Fehler, den sie jemals gemacht hatte, war, daß sie sich für eine Prinzessin auf einem hohn Schloß mit vielen Dienern gehalten hatte, die den ganzen Tag damit zubrachte, auf ihren Prinzen zu warten. Die Zeit der Geschichten war endgültig vorbei.

Und jetzt lag sie da, hatte, was sie sich wünschte und dachte sich, daß sie immer da am besten aufgehoben sei, wo sie nicht sei. Das gab ihr das Gefühl, daß irgend etwas im Großen und Ganzen nicht stimmte. Irgendwie war sie stolz darauf, daß gerade ihr gerade hier das aufgefallen war. Sie lehnte sich zurück, um sich noch etwas im Glanze ihrer neugewonnenen Erkenntnis zu bräunen.

Nicht daß sie im Glanze dieser Erkenntnis der Sonne noch bedürft hätte, aber sie bemerkte doch ihre Abwesenheit an dem Schatten, der sich plötzlich auf ihrer Haut befand und sich wohlfühlte dort.

Sie schlug die Augen auf und sah blinzelnd ein Geschöpf vor sich stehen, dessen Schöpfer es mit der Gnade von zwei Gesichtern ausgestattet hatte. Leider hatte der Schöpfer wiederum nicht die Gnade besessen, die zwei Gesichter sauber aufeinanderzusetzen, so daß dieses Geschöpf, das da vor ihr stand, immer mit dem Handicap einer gewissen Unästhetik zu kämpfen hatte.

Alles in allem reicht es aus, um Pandarei in einen Zustand panikartiger Erschrockenheit zu versetzen und sie zu veranlassen, ihr Heil in der Flucht durch das Wasser zu suchen. Ein verhängnisvoller Fehler, wie sich herausstellen sollte, denn dort warteten Arme auf sie, die ganz ähnlich gestalteten Wesen gehörten und die sie in die Tiefe zogen. Daß schreien nicht viel Wert hatte, merkte sie erst, als der Ozean schon eine ganze Menge von seiner Gewaltigkeit in sie abgegeben hatte, eine ganze Menge für ihren kleinen Menschenkörper, der in immer tiefere Tiefen gezogen wurde. . .

Kapitel 13: Von Wärme und Licht in Kälte und Dunkelheit

"Oh, hätte ich nur Beine, um sie nur zu vertreten um so meine Nervosität zu bändigen, oh hätte ich nur Lippen um sie auf diese zu drücken oder einen Mund, um endlich wieder aus dem See des Vergessens zu trinken oder eine Körper, um ihm einen Teil meiner Schmerzen abgeben zu können. Oh, sie wacht auf, die Schöne."

Wir kennen diese Umgebung, das letzte Mal sahen wir hier Plenten den Worten des Computers

GUK lauschen. Auch als Pandarei die Augen aufschlug blickte sie in vertrautes Terrain. Sie fragte sich, ob die Platte, die ihr Leben erzählte, wohl hängen geblieben sei, und gleichzeitig fiel ihr ein, daß sie sich das ja genau zweimal täglich dachte und wunderte sich nicht mehr.

"Tut mir leid, daß wir wieder so unsanft sein mußten, meine liebe Pandarei, aber ich habe keinen Körper, um dich auf Händen über diese Schwelle zu tragen und meine Helfer sind nun einmal etwas grob, da kann man nichts machen."

Sie war wieder gefesselt und die Burschen umringten sie und glotzten sie neugierig an. Sie hatte zuvor noch nie etwas derartiges gesehen und das machte ihr Angst, obwohl sie durchaus den Eindruck erweckten, als bewunderten sie ihren Körper.

"Ich weiß, was du jetzt denkst, liebe Pandarei. Aber es wird dir nichts geschehen. Vertrau mir! Sie halten alle zu dir. Keiner würde es je zulassen, daß dir ein Haar gekrümmt wird. Ach, ich bin hier, weiß Gott, noch keine Ewigkeit, aber es ist grausam. Entschuldige, wenn ich Gott erwähne. Schlimmer wird es jeden Tag und ich leide besonders, wenn du hier bist, meine liebe Pandarei." Pandarei tat sich immer noch schwer, sich als Herrin der Lage zu sehen.

"Ihr seid in schrecklicher Gefahr. Eigentlich müßtet ihr mir egal sein , ihr dummen Menschen. Seit ich hier unten eure Geschicke zu lenken versuche, seid ihr zu dumm gewesen, die Chancen zu nutzen, in die ich euch fast mit der Nase hineingehalten habe. So mußtet ihr eben über euer von Schicksal zu bestimmten Maß Schmerzen erleiden. Und der Lenker eures Schicksals wurde euer überdrüssig bis ich dich sah, liebe Pandarei, und meinen Glauben wiedergewann. Seitdem weiß ich, daß es wieder Zeit ist, euch zu helfen und daß es gerecht ist. Ihr seid in großer Gefahr, liebe Pandarei. Ich steckte auch mal in einem wunderbaren kleinen menschlichen Körper. Tag für Tag erinnere ich mich mehr daran. Oh, wie wir den Tod gefürchtet haben damals. Der Tod, Pandarei, kannst du dir das vorstellen? Oh wir glücklichen, damals. Schlimmes wird geschehen, wenn ihr nicht bald handelt. Der, den ich zu deiner Rettung geschickt habe, ist nun selbst in Gefahr. In den falschen Händen wird er zu einer schrecklichen Waffe, liebe Pandarei. Ich rede von Plenten. Er ist der Rock 'n' Roll, die Wiedergeburt des Kings und er ist Teil eines schrecklichen Plans, der das Ende eures bißchen Glücks bedeuten kann. Tu was, finde ihn und rette ihn. Du bist ausersehen die Menschheit zu retten. Freu dich und singe!"

Pandarei war überrascht. Das hätte sie auch zugegeben, wenn sich jemand nach ihrem emotionalen

Zustand erkundigt hätte. Aber zunächst einmal hätte sie nicht viel dagegen gehabt, die Menschheit zu retten, den King zu heiraten und ihren Körper von vielen Leuten bewundern zu lassen.

"Sag mir doch, was ich tun soll!"

"Geh und finde Plenten und haue ab mit ihm, versteck dich! Meine Leute werden euch jede erdenkliche Hilfe zukommen lassen. Allerdings könnt ihr nicht hier bleiben, weil ihr auch hier nicht sicher seid."

"Wo kann ich ihn denn finden?"

"Du mußt sehr vorsichtig sein, weil er sich auch in Nobnojs Gewalt befindet. Nobnoj darf keinen Verdacht schöpfen, denn er ist sehr mächtig, dabei hast du trotzdem einen unglaublichen Einfluß auf ihn. Nutze ihn!"

Pandarei merkte, wie ihre Lider schwerer wurden uns sah ein, daß es sinnlos wäre gegen den Schlaf, der sich ihrer bemächtigte, anzukämpfen.

Sie bemerkte die Abwesenheit der Sonne doch an dem Schatten, der sich plötzlich auf ihrer Haut befand und sich wohl fühlte dort.

Sie schlug die Augen auf und sah blinzelnd ein Geschöpf in einer schlechten, längs gestreiften Badehose vor sich stehen.

"Guten Tag, Pandarei, laß uns schwimmen gehn."

"Hallo, Nobnoj", daraus, daß ihre Stimme so verschlafen klang, schloß sie, daß sie eingenickt war, ohne es zu registrieren.

Nobnoj sprang ins Becken und machte einige halbe Schwimmzüge nach denen er sich hinstellte im Wasser, das ihm gerade bis zur Hüfte reichte.

"Na komm schon, es ist überhaupt nicht kalt." Dabei schlug er mit der flachen Hand aufs Wasser, so daß Pandarei ein paar vereinzelte Tropfen abbekam. Das kindische Gelächter, das aus Nobnojs Mund schoß, verhinderte, daß Pandarei irgendwie körperlich auf diese unangenehme Befeuchtung reagierte. Sie war einfach angewidert.

"Warum kommst du nicht raus und wir trinken zusammen einen Cocktail, drüben, wo es schattig ist?"

GUK hatte recht, sie hatte Macht über ihn. Folgsam wie ein kleines Kind stieg er aus dem Wasser uns sie gingen zusammen zu einer kleinen Bar aus Schilfe und Bambusrohren, wie man sie aus schlechten Luxushotels kennt.

Sie setzte sich, die Beine überkreuzt, auf einem Barhocker und schaute ihm über den Tresen zu, wie er sehr nervös und wortlos sein Werk durchführte. Sie fragte sich nur, ob es irgendein System haben könnte, wie er da Alkoholika, Fruchtsäfte und Sirupe, die er aus einem reich gefüllten Kühlschrank am Boden, zusammen schüttete.

Schließlich standen zwei rosarote Getränke in rasant geschwungene Gläsern vor ihnen und er sagte stolz "Voila!" als er die Strohhalme plazierte.

Er hob sein Glas, blickte zum Himmel "Auf uns!", stellte es ab und begann gierig an seinem Strohhalm zu saugen. Es war offensichtlich, daß er diese Vergewaltigung seiner Geschmacksnerven möglichst schnell hinter sich bringen wollte.

Pandarei nahm langsam ihren Strohhalm aus ihrem Glas, steckte ihn in seine rasch weniger werdende Flüssigkeit und zog genüßlich davon, ihn verführerisch anblickend dabei. Er verlangsamte sein Saugtempo, hörte schließlich ganz auf und hob seinen Kopf. Sie folgte ihm mit ihren Augen ganz ihre Überlegenheit auskostend. So konnte sie sogar den widerlichen Geschmack vergessen, der über ihre Zunge kroch, Gaumenunfreude.

Sie näherte ihren Kopf dem seinen und fragte leise, fast hauchend: "Was ist?"

"Schmeckt er dir?" sich noch weiter aufrichtend. "Ja" ihre Augen rollten, als sie ihm nach oben folgte.

"Was willst du?"

"Elvis und Rock 'n' Roll."

Seine Augen schoben sich zusammen und er blickte sie steinern an.

"Kannst du haben, Baby."

Er packte sie mit beiden Armen und würgte ihr einen Kuß auf den Mund. Keine seiner Bewegungen war mehr als eine Karikatur der Fernsehbilder, die sie zu imitieren versuchten. Nichtsdestoweniger war es für Pandarei eine doppelte Niederlage, als seine Zunge vergeblich Zugang zum Gelege ihrer Zähne suchte: zum einen sah sie, daß es mit ihrer gnadenlosen Überlegenheit nicht weit her war, zum anderen befand sie sich in einer klassischen Vergewaltigungssituation, was für die meisten Frauen auf dem Planeten, auf dem wir unsere Handlung angesiedelt haben, keinen allzu großen Triumph bedeutet. Nur um es kurz zu erwähnen: Ganz ähnlich verhält es sich auch auf den meisten anderen Planeten, auf denen wir theoretisch unsere Handlung hätten ansiedeln können.

Sie stemmte sich mit beiden Armen und aller Kraft, die ihr zur Verfügung stand, gegen ihn und hatte Erfolg: Sie flogen mit einem lauten Knall auseinander.

Nobnoj war nicht mehr zu sehen, er war hinter dem Tresen abgetaucht. Pandarei hörte Wimmern und Weinen. Vorsichtig bewegte sie sich auf die Bar zu und sah ihn dort auf dem Boden kauern, und nach seiner Mama heulen. Dieser Anblick befriedigte sie tief in ihrem innersten und sie holte aus um ihm mit ihrem nackten, schlanken Fuß noch einen Tritt gegen den Magen zu geben. Doch er war schnell und gut und packte sie am Bein und ließ sie tanzen.

"Du dummes kleines Ding, du!" schrie er und die Augen quollen ihm hervor. "Du wirst deinen Plenten nie wieder sehen, nie wieder, verstehst du? Er ist längst tot. Ich hätte es wissen sollen, daß du keinen Deut besser bist als er. Aber bitte, bitte, die Menschen lassen sich eben nicht zu ihrem Glück zwingen."

Diese Worte preßte er unter gewaltigem Speichelaufwand mit der Zunge zwischen seinen zusammengepreßten Zähnen hindurch und er hätte noch weitergeredet und sich noch fester Pandareis Bein gekrallt, wenn es ihr nicht gelungen wäre, ihm dickflüssigen, grünem Schleim aus den Tiefen ihres Rachens ins Gesicht zu blasen, was ihn veranlaßte seine Zähne doch noch einmal weit auseinanderzureißen und "Ah, du Sau!" zu brüllen. Er stieß sie mit aller Kraft zurück und sie fiel schmerzhaft auf die scharfen, nicht kindgerechten Kanten der Bar. Rot war ganz deutlich zu sehen auf diesem glatten, braunen Hintergrund.

Er beugte sich über sie mit glühenden Augen und riß sie an ihren goldenen Haaren zu sich herauf.

"Wir werden jetzt eine kleine Reise machen, Baby, unsere Hochzeitsreise, dorthin wo es schön grau und kalt ist."

Er zog sie mit sich und sie konnte nur folgen und ihm den Arm zerkratzen, was ihm aber nicht die geringsten Probleme machte.

Sie fand sich wieder gefesselt und geknebelt in der Dunkelheit eines Kofferraums eines Wagens, der schnell über die Straßen ihrer Heimat rollte. Daß sie sich wieder in der Heimat befand, bemerkte sie am Radiosender, dem sie völlig hilflos als eine unter den Boxen liegende ausgesetzt war. Sie wußte, daß zehn Minuten intensives Zuhören bei diesem Sender einem den ganze Tag versauen konnten. Sie weinte, weil diese Autofahrt schon viel länger dauerte und weil noch keine Hoffnung auf ein baldiges Ende bestand. Da spielten sie eine Disconummer mit Streichern und Nobnojs Stimme sang: "Oh Babe, say that you love meee." Sie lag in Nobnoj Smadas Auto gefesselt und geknebelt und hörte Nobnoj um Radio singen, wo möglich ein Lied über sie, schließlich hatte er sie auch einmal "Baby" genannt.

"Eine außergewöhnliche Sache", dachte sie sich.

Die Moderatorin unterbrach auch dieses Lied wie jedes andere für eine Meldung: "Ja, Leute, (wie flippig das klang!) das ist der neue Riesenhit vom größten Star diese Jahrhunderts, um den die Mädels nur so kreisen wie die Fliegen um die Oma in eurem Nachbarhaus, die seit drei Tagen in ihrer Wohnung fault, weil niemand den Riesenberg Werbepost vor ihrer Haustüre verdächtig vorkommt. (Oho) Leider heißt es bald Abschied nehmen von ihm, unseren Nobnoj Smada, denn er hat seinen letzten Auftritt angekündigt noch in diesem Jahrhundert, am Silvesterabend, also heute, Leute, und ihr könnt dabei sein im Fernseher oder live bei uns hier on air!"

Während dieser Rede war im Hintergrund bereits Abbas "Dancing Queen" angelaufen, das nun in voller Lautstärke dröhnen durfte. Pandarei hatte Schmerzen.

Ein Ohrwurm biß sich im Schwanz des anderen fest und sie schlagen ein tödliches Band um die Teile ihres Gehirns, die für Sauerstoff und klare Gedanken noch zugänglich waren.

Irgendwann - es mußte schon Nacht sein, denn bei Pandarei war es nun hell - hielt der Wagen und sie hörte Nobnojs Stimme vorne sagen: "Ich muß kurz raus!" Dann das Knistern einer Plastiktüte: "Iß nur, das war nicht so teuer, wie ich gesagt habe!" Das Schlagen der Autotür. Kurz darauf noch einmal. Der Kofferraum wurde kurz geöffnet und von der Welt draußen flog eine Handvoll

Kartoffelchips herein und eine Stimme, die zu zehn Zentimetern Hose gehörten, aus deren diese Welt draußen außer Sternenhimmel noch zu bestehen schien, sagte: "Keine Panik, bald sind wir da!" Dann die Weiterfahrt. Pandarei litt weder unter Platzmangel, noch war es ihr sehr unbequem, so daß sie einschlief und beim Wiedererwachen keinen blassen Schimmer hatte, wie lange sie noch unterwegs gewesen waren.

Auf jedem Fall standen sie wieder und ein gleichmäßiges Surren ließ sie erkennen, daß sie sich an einer Tankstelle befanden. Das Surren hörte auf und kurz darauf wurde der Kofferraum ganz geöffnet. Eine dicke, unter anderen Umständen vielleicht nicht unsympathisch aussehende Gestalt beugte sich über sie, stellte vielleicht erschrocken erst jetzt fest, daß sie Fesseln trug, und machte sich an ihnen zu schaffen mit nervöser Hektik.

Schließlich konnte er sie befreien und sie lief los in diese Umgebung, die sie als der Stadt zugehörig erkannte, in der sie eine Wohnung hatte.

Der einsetzende Schneefall ließ ihren Badeanzug unangebracht erscheinen, aber daran dachte sie nicht, auch nicht daran, daß bald viele Leute ihren Körper betrachten würden wahrscheinlich mit mehr Ver- als Bewunderung.

"Schließ mich in dein Gebet ein", rief der Dicke, Sympathische ihr nach.

Nobnoj kam aus der Tankstelle lächelnd und mit Mühe, denn man hatte ihn natürlich erkannt. Heinz stand allein neben dem geöffneten Kofferraumdeckel, verloren.

Nobnoj Miene verfinsterte sich und er verlieh seinen Schritten unmißverständlich mehr Bestimmtheit.

 

Kapitel 14: Vier Wände-Blues

Alexandra blickte aus dem Fenster und sah die Sonne zum letzten Mal in diesem Jahrtausend

aufgehen. Ganz schwer wurde ihr zumute. Sie nahm einen Schluck aus der vierten Dose Bier in dieser Nacht, der letzten, und stellte sie zu den anderen drei bei dem kleinen Kunststoffchristbaum, der so bunt den Platz neben ihrem Fernseher einnahm. Sie hatte sich noch nie alleine betrunken, fand aber, daß das ein interessantes Experiment war, das sie da mit sich anstellte. Im Hintergrund lief eine Platte von Louis Armstrong, die ihr mal ein Verehrer geschenkt hatte. Er mußte "La Vie en Rose" singen. Sie führte ihre Gelassenheit auf dieses Lied zurück.

Eigentlich war alles wieder einmal falsch gelaufen, was falsch laufen konnte: Den Heiligen Abend hatte sie frei bekommen uns sie war zu ihrer Familie gefahren wie jedes Jahr. Alle waren gekommen mit den besten Vorsätzen: ihr Bruder, der Apotheker, mit seiner Familie und ihre kleine Schwester, die noch zu Hause wohnte und zur Schule ging. Man hatte sich sogar umarmt bei der Begrüßung. Alles schien vergessen und auf Neuanfang eingestellt. Man nahm das Essen ein und mußte zum ersten Mal still sein, kein Wort hören, kein Wort sagen, nur Essensgeräusche: Schlürfen und Kauen, Schlucken und Beißen. Und mit einem Mal entstieg der dampfenden Suppenschüssel wieder Verachtung, die man mit jedem Atemzug einsog und die nach und nach so den ganzen Körper ausfüllte bis in die kleinsten Kapillaren hinein: Man war nur verwandt, jeder hier an dem Tisch stellte genau das dar, wovor man die meiste Abscheu empfand. Äußerlich schien noch alles ganz normal zu sein. Man beschenkte sich nach gemeinschaftlichem Absingen der Weihnachtslieder. Alexandra wurde in diesem Moment auch jedes Mal klar, daß Weihnachten ein echtes gesellschaftliches Problem darstellte und daß es solange Kriege geben würde, solange Menschen Weihnachten feierten, als ob nichts wäre. Dann fielen die ersten provozierenden Bemerkungen. Man war eben nicht mehr sozial auf der selben Stufe, man gehörte verschiedenen Klassen an, da war sowas ganz leicht. Erst tröpfelte es nur leicht, dann kam ein furchtbarer Regenschauer, schließlich Hagelbrocken, die wirklich weh taten. Das Ganze bedeutete dann echtes Naß, das der Mutter aus den Augen rann, ihr zuerst die Wangen und danach ihr reizendes Kleid benetzte. Das war nun kein Anblick für Weihnachten mehr, das war echter Kummer. Jeder fand es sehr bald für angebracht, sich zurückzuziehen. Alles, was man jetzt noch tun konnte, war den Rückzug mehr schlecht als recht so zu gestalten, als wäre nichts

gewesen.

Für Alexandra waren das ganz normale Weihnachten. An den darauffolgenden Tagen hatte sie wieder zu arbeiten, nett zu den Leuten zu sein, die sie abgrundtief haßte. Nicht weil sie sie beneidet hätte, das wäre noch etwas gewesen, woran sie sich hätte festhalten können, eine, es war die völlige Perspektivlosigkeit, die sie ihr vermittelten und die sie so niederdrückte. Sie sah, daß nichts gut war, nichts Gutes an keinem Menschen nicht und daß da kein Weg war, dem sie folgen konnte, der irgendwohin führte, wo es warm war, wo sie sich aufhalten könnte, außer dem nach unten in ein Loch mit zwei Metern Mutter Erde als wärmende Decke. Der Muttermund ist doch keine Einbahnstraße! Laß die Erde noch einmal schwanger sein mit dir und allem, was zu dir gehört!

Man mußte ihr ihre misanthropen Gedanken angesehen haben, auch ihre plötzliche Ungeschicklichkeit im Umgang mit dampfenden Speisen auf blütenwäscheweißem Porzellan war wohl verdächtig. Auch konnten zweihundert Pfund Männlichkeit, die bezahlen sollten, hundert Pfund Weiblichkeit, die Bezahlung bekommen sollte, ein versautes Hemd verzeihen nicht aber Wortkargheit im Angesicht solcher Schuldenlast. Wie dem auch sei - es könnte auch ganz andere Gründe gehabt haben - man hatte sie beiseite genommen nach verrichter, harter Arbeit, sehr freundschaftlich, muß man gestehen, hatte ihr behutsam klargemacht, daß die nächste Zeit wohl etwas schwerer für sie sein werde, aber daß Geld wohl nicht alles sei und sie müsse das verstehen.

Man hatte ihr noch ein gutes nächstes Jahrtausend gewünscht, das wohl nicht gut anfangen werde, aber von dem sie selbst im günstigsten Falle nur so wenig mitbekommen werde, daß ihr beim besten Willen kein richtendes Urteil mehr zustehe. Auf Wiedersehn!

"Wenn einem bei einem Unfall ein Bein abgetrennt wird, ist das im ersten Augenblick so unwirklich, daß man es gar nicht glauben will," dachte sie sich und bewegte sich weiblich intuitiv mit beiden Beinen auf eine Tankstelle zu, die die ganze Nacht geöffnet hatte und oft ein Rettungsanker für

Seelen gewesen war, die die Dunkelheit für ihr Existieren brauchten. Sechs Dosen Bier würden genügen für jemanden, der es nicht gewohnt war zu trinken.

Sie schaute auf den kleinen Christbaum mit den vier ausgebeulten Bierdosen davor und fand das ganze sehr weihnachtlich. Sie lächelte. Es klingelte. Wer war das? Wer wollte hier hereinplatzen und ihre Einsamkeit verreißen in tausend Stücke und zwischen ihnen zerstreuen wie Konfetti? Fand er denn nicht auch, daß das reichlich unpassend war?

"Hallo, hier ist Pandarei, läßt du mich rauf?", klang die Stimme von unten durch den Hörer. Das war aber eine Überraschung!

Er torkelte nach Hause, hatte sich besoffen, weil sonst nichts half, das hatte ihn das Leben gelehrt, würde jetzt gern noch Baß spielen, war schließlich nicht irgendein Tag, würdig begangen zu werden.

Er stolperte in seine Wohnung, wollte in der Küche nachsehen, ob noch Bier oder irgendwelche anderen Alkoholika da waren. Wäre er etwas nüchterner gewesen, hätte er gewußt, daß ein Umweg über eine Tankstelle, die die ganze Nacht geöffnet hatte, durchaus lohnenswert gewesen wäre, um sein Bedürfnis zu befriedigen. Ein großer Reisekoffer, nicht groß genug für seinen Zustand, wurde ihm zum Verhängnis. Er fand trotz seiner Größe nicht den Weg zu seinem Gehirn über die Augen, um es zu veranlassen, ein Ausweichmanöver einzuleiten, sondern wurde zum unüberwindlichen Hindernis für Füße, die sich ohnehin schon schwer kontrollieren ließen und bewirkte, daß ein Mann, der nur noch ein Bier trinken wollte, in eine horizontale Lage versetzt wurde.

Höhnisches Gelächter breitete sich räumlich aus und wurde etwas mehr als eineinhalb Meter höher zu einer Parallelebene, Geometrie am Morgen. Der am Boden liegende blickte auf und stieß ein erkennendes "Tom!" hervor.

"Falls du noch ein Bier trinken willst, wirst du der Tatsache sehr dankbar sein, daß ich Freunde nie mit leeren Händen besuche."

"Sei so gut und hilf mir auf!"

"Mit großem Vergnügen!" Sprach's und tat's geschwind.

Der Koffer hatte sich geöffnet und tausend roter Rosen die Gelegenheit gegeben die freie Luft eines schmalen Wohnungsganges zu genießen , so daß der schwere Baßmann quasi aus einem Bett von Rosen erstand.

"Ich hoffe, daß es bei meiner Beerdigung ähnlich schön ist."

Sie saßen am Tisch und tranken jeder eine Dose Bier.

"Hast du den Koffer nicht losgebracht?"

"Ich wollte mich noch einmal des Inhalts vergewissern und sah, daß ich tausend rote Rosen mit mir rumtrug. Ich dachte mir, daß tausend rote Rosen etwas ungeheuer Romantisches haben und daß man bestimmt irgend etwas mit ihnen anfangen könne. Seitdem laufe ich mit einem Koffer voller Rosen herum. Daß wir damit deine Beerdigung vorfeiern würden, hätte ich nicht gedacht", antwortete Tom. Beide lachten.

"Wie läuft's eigentlich mit der Kleinen damals im Café?" wollte Tom wissen.

"Ach, frag nicht!"

Alexandra hatte Pandarei eines ihrer letzten beiden Biere angeboten. Sie saß ihr gegenüber und zog an einer Zigarette, eine Decke ruhte auf ihrer Schulter.

"Wo warst du die ganze Zeit?"

"Das ist eine lange Geschichte", antwortete Pandarei und erzählte, dabei kam es ihr vor, als würde sie die Geschichte einer anderen erzählen, so fern schien alles schon zu sein.

"Hast du eigentlich von diesem Plenten schon was gehört?" wollte sie wissen.

"Natürlich, er war sogar schon einmal hier."

"Hier?"

"Ja."

"Und was ist das für ein Mensch?"

"Er sieht aus wie Elvis, singt wie Elvis, stinkt wie Elvis, fast hätte ich geglaubt, er sei Elvis."

"Hast du ihn gehört?"

"Im Purple Haze, war ein Riesenabend. Die Bude war voll und die Leute waren begeistert."

"Seitdem hast du ihn nicht mehr gesehen?"

"Nein."

"Weißt auch nicht mehr über ihn?"

"Nein."

"Wie ist es dir eigentlich gegangen in letzter Zeit?"

Tom lächelte. "Die Weiber."

"Scheißegal." Sie stießen an.

"Hast du noch eine Zigarette?"

"Nur noch eine, für beide."

"Teilst du?"

"Ich habe irgendwo noch ein Video von der letzten Samstagabendshow."

"Steht eigentlich das alte Yamahateil, das ich einmal bei dir vergessen habe, noch hier herum?"

"Du hast es nicht einmal vergessen, sondern ungefähr fünfzig Mal. Jedes Mal, als du es abholen wolltest, warst du beim gehen so besoffen, daß du es wieder vergessen hast."

"Stimmt. Ich habe ein neues Lied geschrieben, ich würde es dir vorspielen."

"Gern."

Er führte ihn in sein kleines Wohnzimmer wo neben einem Fernseher und einem fast zu großen Christbaum ein kleines Yamaha-Keyboard stand, so daß man auf einem PinUp-Kalender sehen konnte, der an einem Schrank hing, wohl die Hausbar.

"Das ist der September '98. Du bist Nostalgiker."

"Es kommen nicht oft Leute hierher, so daß ich mich nicht schämen müßte. Das ist meine kleine Welt, und die ist so, wie es mir gefällt."

"Du bist hier der Held jedes schlechten Reims, ich bewundere dich. Spielst du selbst ab und zu?"

Tom deutete auf das Keyboard.

"Ab und zu."

"Zuerst den Rhythmus."

Swing: Tum takta tum takta Tum . . .

"Hast du nicht Lust für mich den Baß zu spielen, das letzte Mal dieses Jahrhunderts?"

"Kein Walzer soll es sein mein Liebeslied."

Sie einigten sich auf Bossa Nova, sehr langsam, damit die Finger Zeit hatten sich daran zu gewöhnen.

Tom griff in die Tasten, fing auch an zu singen, er hatte eine sehr rauchige Stimme. September '98.

"Und er hat nie wieder angerufen?"

"Ich weiß nicht mal, ob er meine Nummer hat."

"Fühlst du dich jetzt schlecht?"

"Nein. Überraschend gut."

"Es ist nur noch eine Zigarette da. Was ist mit meiner Wohnung? Soll ich hochlaufen und schauen, ob ich noch welche habe?"

"Wir können teilen."

"Früher habe ich mit meiner Schwester immer die Samstagsabendshow angeschaut."

"Laß uns wieder Freundinnen sein!"

"Wunderbar. Mußt du heute abend arbeiten?"

"Sie haben mich auch rausgeschmissen."

"Ja, dann laß uns etwas unternehmen! Wir ziehen durch die Straßen und sehen gut aus. Die Probleme können von mir aus tausend Jahre warten."

"Sollen wir ins 'Purple Haze' gehen? dort soll eine gute Coverband spielen."

"Können wir machen. Ich schau mal hoch, ob noch etwas an mich erinnert. Hast du den Schlüssel, den ich dir mal gegeben habe?"

"Ja, klar."

"Ich komm dann bei dir vorbei."

"Dann bis heute abend im 'Purple Haze'," sagte der Baßmann schwerfällig an der Tür lehnend, als Tom ging.

"Bis dann", antwortete dieser ohne sich umzudrehen und ohne das Keyboard.

Schnell ging der Baßmann aufs Klo, es war ihm sehr übel geworden. Das Lied hatte von der Liebe erzählt.

Pandarei fand die Tür in ihrem bescheidenen Zimmer leicht angelehnt. Müde öffnete sie ganz und betätigte den Lichtschalter.

"Du hättest nur zu sagen brauchen, daß du dich noch umziehen willst, Baby, dann hätten wir noch einmal angehalten um einzukaufen. Geld spielt keine Rolle, schließlich sind wir auf Hochzeitsreise." sagte lächelnd Nobnoj Smada und biß in ein Wiener Würstchen. Heinz, der neben ihm stand und ein blau und rot leuchtendes Gesicht hatte, ging mühsam einen Schritt auf sie zu. Sie schrie, wollte ihr Heil in der Flucht suchen.

"Willst du dich nicht ein bißchen zu mir setzten, auf ein Würstchen und einen Schluck Weizenbier?" fragte in allervertrautestem Ton jener Nobnoj, dem aus jener Hand, die gerade noch ein Wiener Würstchen zu seinem lächelnden Mund geführt hatte, plötzlich eine böse dreinblickende Pistole gewachsen war.

Pandarei fand, daß sie noch zu jung war, um den Rest ihrer Zeit auf Erden mit einem Stück Blei in der Brust zu verbringen, außerdem wollte sie mindestens einen Jahrhundertwechsel mitbekommen.

Kapitel 15: Seelen und Säure

Sie kannte das ja: Kofferraum, Fesseln, Knebeln. Wie gesagt, man liegt nicht unbequem, wenn der Fesselnde etwas davon versteht und Nobnoj verstand etwas davon, wollte keinen anderen irgendwas vermurksen lassen. Er fesselte fest, man fühlte sich gefesselt, aber mit viel Gefühl. Pandarei erinnerte sich an die Hand ihres Vaters, die sie rauh, aber sicher damals durch Stockholm geführt hatte vorbei an all den zwielichtigen Gestalten, die ihnen beiden Übles antun wollten. Irgend etwas in ihr war gerade dabei Gestalt anzunehmen und Raum einzunehmen, anderes, das sie für sehr wesentlich in sich gehalten hatte, zu verdrängen. Sie konnte es nur noch nicht beim Namen nennen.

Pandarei ließ mit sich geschehen, sie sah ein, daß Widerstand vorerst zwecklos war. Nobnoj reagierte sehr gelassen darauf, als sie ihn bat, das Radio diesmal auszulassen. Er sagte nur, er wolle sich noch einmal hören, was aber nicht weiter schlimm war, denn das zweite Lied, das kam, war sein neuer Superhit, sie hörte, wie er vorne mitsummte und dann wirklich sehr brav das Radio abstellte nach der Ankündigung seines letzten Auftritts. Dadurch blieb ihr Rod Stewards "Down Town Train" erspart. Dafür war sie zunächst sehr dankbar.

Doch der einsame Ohrwurm, der in der sich langsam beim gleichmäßigen Brummen des Motors ausdehnenden Langeweile mehr Bewegungsfreiheit gewann, biß sich, nachdem sich ihm kein Schwanzende bot, im Gehirn von Pandarei fest; das tat weh. Doch dann erst bemerkte sie, wo er sich festgebissen hatte: an jenem Ding, das begann größer zu werden und das sie jetzt endlich beim Namen nennen konnte: Sympathie - Sympathie für Nobnoj. So groß konnte sie noch nicht gewesen sein, denn der Wurm benötigte ganze zwei große Schlucke um sie ganz verschwinden zu lassen oder aber der Wurm war sehr groß oder aber sie versteckte sich besser, denn die Fesselung war schon sehr gelungen. . .

Sie war auf Spekulationen angewiesen, wohin ihre Fahrt führen sollte. Nobnoj hatte etwas von einer Verabredung gemurmelt. Sie wußte mittlerweile, daß er eine Vorliebe für Fernsehpathos hatte

und hatte das stillschweigend hingenommen. Sie hoffte darauf, daß sie in die Nähe von Plenten fuhren, das war ihr ganz plötzlich eingefallen, genauso wie ein Gedanke an Propheten und Berge, mit dem sie nicht viel anfangen konnte, wo sie doch mit biblischen Dingen nicht viel am Hut hatte. Schließlich mußte sie die Welt doch noch retten mit der kleinen Hilfe ihrer unterirdischen Freunde. Vorausgesetzt Nobnoj bedrohte wirklich die Welt, was sie sich fast nicht vorstellen konnte, nicht doch er, er war viel zu harmlos dazu! Vielleicht wurde auch ein böses Spiel mit ihr getrieben und die Gefahr kam von unten und Nobnoj war der Gute. . .. Man könnte jetzt auch sagen, daß es womöglich ganz gut gewesen wäre, wenn jemand das Radio eingeschalten hätte, damit sich ihre Gedanken wieder auf eine Umlaufbahn um eine fixe Haßsonne begeben hätten können, ein übermächtiges Schicksal, dem man hilflos ausgeliefert ist, hätten verdammen können. Eben genau das, war der Mensch, den man damals modern nannte, so liebte. Sie hielten an und waren im Wald. "Baby, tut mir leid, aber unsere Fahrt hat ein Ende, wir müssen zu Fuß weiter. Ich kann nicht helfen, ich habe mir diese Landschaft nicht ausgedacht."

Nobnoj befreite sie von ihren Fußfesseln und band ihr statt dessen ein zusammengerolltes Tuch vor die Augen. Er ließ sich dazu Zeit, ließ seine Hände länger den Kontakt mit ihren Beinen und ihren Schläfen genießen als es unbedingt nötig gewesen wäre.

Heinz stand regungslos dabei und sah sehr hilflos aus. Nobnoj wußte, daß es demütigend für ihn war, das mit ansehen zu müssen. Er war ein Mann, der versagt hatte, der einem Überlegenem ausgeliefert war. Das verlieh Nobnoj eine Souveränität, die fast sadistische Züge trug. Auch Pandarei bekam das mit und fand, daß Nobnoj zum ersten Mal stark genug war, um ihren kritisch-gleißenden Blicken, nun durch Stoff verhüllt, einige Momente standzuhalten und fast sogar schon gleichwertig neben ihr stand.

Dann war da nichts mehr außer den Geräuschen ihrer Schritte: ihre eigenen, etwas unsicher - sie wurden nur geführt; Nobnojs Hand lag auf ihrer Schulter und verlieh ihr Sicherheit mehr und mehr, sie wuchs an mit einem Vertrauen, das ihr Angst machte, denn Nobnoj konnte sie auch falsch gehen lassen, in Gruben stürzen lassen, schließlich ging sie voraus. Er tat es aber nicht. Seine Schritte waren bestimmt, tempoangebend, aber nicht eilig oder gar hetzend. Den Abschuß mußte Heinz bilden, der Probleme hatte zu folgen, da Schläge ihn verletzt hatten, Schläge, die er wieder fühlte am ganzen Körper, weil der vor ihm war, der sie ihm verabreicht hatte und weil er hinter ihm sein mußte, nicht entfliehen konnte, weil er zu langsam war. Die Unregelmäßigkeit seiner Schritte brachten auch sein Hirn durcheinander bis es nur noch ein wirrer, unförmiger Haufen aus Haß, Verzweiflung und Schmerzen war. Er war ein Mann imstande zu töten. Das wußte auch das Lächeln, siegesbewußt auf Nobnojs Mund.

Nobnoj als unbeliebter, aber gefürchteter Herrscher inmitten seines Trosses von Blinden und Lahmen. Diesmal war es wirklich Macht, die sie durchschritten. Diesmal hatte ihr der beschränkte Raum seines Kopfes nicht ausgereicht, diesmal war sie übergelaufen und hatte die ganze Umgebung eingenommen. Weg, Baum, Staub, Luft war Macht.

Hin und wieder stieß sie noch schmerzhaft an eine Wurzel oder einen Ast, doch das war ihre eigene Schuld. Hinter ihr war Kraft, Macht und Sicherheit, die sie lenkte und regierte. Nichts würde ihr fehlen. Hätte man sie gefragt, hätte sie geantwortet, daß sie eine solche Geborgenheit nicht mehr erfahren habe, seit sie dem Schoße ihrer Mutter entwachsen sei. Man hätte sie dann darauf hinweisen müssen, daß sie ihre Situation gründlich mißverstehe; sie wurde nämlich von einem gemeingefährlichen Psychopathen durch den Wald an einen völlig unbekannten, sicher aber dunklen und gefährlichen Ort geführt. Manchmal ist die menschliche Psyche eben zu solch unlogischen Leistungen fähig.

Sie mußten sich auf einem weiten Feld befinden, denn das war eindeutig Wiese, worauf sie ihre Füße nun bewegten, nicht lange, denn Nobnoj starke Hand verstärkte den Druck auf ihre Schulter und gab ihr so zu Verstehen, daß sie vorerst am Ziel ihrer Wanderung angelangt waren. Er streifte ihr das Tuch von den Augen und sie konnte die Umgebung wahrnehmen: sie standen direkt vor einer alten

tausendjährigen Eiche auf einem Hügel, die ihre alten Äste wie wütende Arme eines unterdrückten Volkes gegen den Himmel streckte, als ob drüber wär ein Ohr, sich der Bedrängten zu erbarmen.

Pandarei erschrak, denn sie kannte das. Sie standen dort, wo sich einst die Grube befunden hatte! Wie wilde Furien umtanzten sie Schneeflocken. Mühsam kroch Heinz den Hügel hinauf, immer wieder mußte er innehalten, weil heftige Hustenanfälle ihn schüttelten.

"Wir sind am Ziel, meine Braut," sagte Nobnoj, er trug einen schwarzen Anzug. Pandarei hatte ein weißes Brautkleid anziehen müssen, noch in ihrer Wohnung und gewisses Befremden hatte sie beschlichen. Jetzt konnte sie nicht leugnen, daß die Szene eine geradezu gespenstische Ästhetik hatte. Heinz hatte sie inzwischen erreicht und stand schwer atmend zwischen ihnen. Sie blickten sich tief in die Augen und ein schelmisches, stolzes Grinsen Nobnojs fiel auf das müde Gesicht Pandareis. Schweigen meißelte dieses Bild in die Ewigkeit bis Heinz wieder hustete.

Nobnoj schritt auf die mächtige Eiche zu und wurde immer kleiner neben dem Goliath, der ihn mehrere Male hätte aufnehmen können.

Eine Öffnung tat sich auf zwischen ihm und dem Baum. Er bedeutete ihnen nachzufolgen und verschwand im Boden. Pandarei und Heinz gingen ihm nach. Eine steile, aus Stein gehauene Wendeltreppe führte nach unten. Pandarei ging sie hinab und verlor die Umgebung aus dem Sinn, es gab nur diese Spirale aus Stein, in den sie sich hinabwand, Nobnoj bekam sie nicht mehr zu sehen und Heinz war wohl zu langsam. Sie dachte nicht mehr daran, daß irgendwo ein Ende sein mußte und hatte vergessen, wo ihr Weg begannen hatte, das einzige, was wirklich existierte, war ihre Bewegung nach unten.

Sie wußte nicht, wie lange es dauerte, auch zählte sie nicht die Stufen, doch irgendwann waren sie zu Ende, doch ihr Geist drehte sich noch weiter und sie brauchte kurze Zeit, um ihren Kopf heben zu können und den neuen Raum, des auffälligstes Merkmal mehr Licht war, aufzunehmen. Sie befand sich in einem großen Kellergewölbe, das sehr nach Mittelalter und Geheimverschwörung von jungfrauenschändenden, und anschließend -mordenden Ritterorden aussah. Das Licht spendeten großzügig an der Decke verteilte Neonröhren. In der Mitte standen zwei Bahren und auf einer lag - sie traute ihren Augen kaum - Elvis. Er war dort festgeschnallt und hatte eine Kopfbedeckung auf, die andere Leute dazu animiert hätte, darin Salat anzumachen, von der mehrere Drähte zu einem großen Kasten mit vielen Lichtern und Schaltern führte, der daneben stand. Die andere Liege war leer. Von der Decke hing in einer Ecke ein Käfig. Pandarei erschrak, als sie sah, daß sie von dort schon die ganze Zeit ein Gorilla anstarrte. Auch Elvis bemerkte ihr Eintreten. Irgendwas machte in ihrem Herzen einen großen Sprung und sagte: "Ja!" Er schaute amüsiert auf ein Bild von John Lennon, das die Wand schmückte. Ein kurzes Rauschen kündigte die Ankunft von Nobnoj durch eine Schiebetür an. Er trug jetzt das Operationsgewand eines Arztes.

"Ah wunderbar, du hast also schon hierhergefunden", sagte er händereibend und rasch auf die Mitte des Raums zugehend. Als er das John-Lennon-Porträt passierte, hielt er verdutzt inne. Er nahm es von der Wand, betrachtete es mit verwunderter, ärgerlicher Miene und schmiß es mit aller ihm zur Verfügung stehenden Gewalt auf den Boden. Scherben knirschten, als er zweimal kräftig darauf trat.

"Möchte wissen, wer das schon wieder aufgehängt hat", murmelte er und trat näher.

Elvis betrachte ihn unwillig.

"Liebe Pandarei, du hast das besondere Glück einem einmaligen wissenschaftlichen Schauspiel beizuwohnen. Leider bin ich mir nicht sicher, ob du diese Eindrücke sauber verarbeiten kannst, deshalb habe ich dir einen ganz besonders günstigen Zuschauerplatz zugedacht."

Dabei setzte Nobnoj einen Hebel in Bewegung und der Käfig senkte sich auf den Boden. In den Gorilla kam Leben: freudig erregt hüpfte er, während er sich am Gitter festhielt, auf und ab.

Pandarei deutete das als kein gutes Zeichen und machte eine Flucht einleitend ein paar Schritte rückwärts bis sie jäh auf Widerstand stieß. Ein Hindernis, das animalisch grunzte bei ihrem Aufeinandertreffen und sie äußerst unsanft packte.

"Versuch doch einfach, das Ganze zu genießen!" Nobnoj öffnete den Käfig und der Gorilla fiel ihm um den Hals. Nobnoj küßte ihn auf den Mund und wendete sich wieder zu Pandarei: "Darf ich dir

Lucy vorstellen? Sie ist wahrscheinlich die einzige Freundin, die ich jemals hatte. Schade, daß ich sie jetzt opfern muß, aber wo kämen wir denn hin wenn die Wissenschaft auch noch auf private Gefühlsduseleien und idiotische Moralvorstellungen einzelner Rücksicht nehmen müßte? Ja, meine Kleine." Er streichelte Lucy sanft und führte sie dann Arm in Arm wie Verliebte zu der noch freien Liege. Völlig widerstandslos ließ die Arme sich die Fesseln anlegen - das war sichtlich ein Augenblick höchsten Genusses für sie - und eine Salatschüssel mit Drähten auf dem Kopf setzen. So lag sie neben Elvis, dem die Situation nun schon wesentlich bedenklicher vorkam.

Wesentlich mehr Widerstand leistete Pandarei, als Heinz, der sie von hinten gepackt hatte, sie humpelnd und bucklig in den Käfig drängen wollte. Doch ihre Versuche blieben ohne Erfolg. Heinz war brutal, kräftig und die Dumpfheit in Person. Laut knallend schloß sich die Tür hinter ihr und sie wurde emporgezogen.

"Meine liebe Pandarei, du wirst erleben, wovon noch nie ein Mensch davor zu träumen gewagt hätte", begann Nonboj zu reden. Er stand aufrecht und groß da wie ein Eroberer, große Gesten unterstrichen jedes seiner Worte.

"Diese beiden Individuen werden die außerordentliche Ehre haben als erste Individuen, ihre Wesen und Seelen tauschen zu dürfen. Der junge Mann, den du hier siehst, heißt Plenten und ist der Rock 'n' Roll, insofern wird er mir noch sehr nützlich sei. Ich werde heute um Mitternacht nicht auftreten, sondern er und überall im Lande werden die Leute vor dem Fernseher sitzen und zuhören und zuschauen", ein dunkler Schatten fiel von seiner Nase auf seine Oberlippe, die Worte kamen immer mehr staccato aus seinem Mund und er brüllte mehr als er weiterredete, "er wird eine kleine zwölftaktige Melodie singen, die ich extra habe entwickeln lassen und die alle Menschen in meinen Bann schlagen wird. Sie werden willenlos auf mein Wort hören und alles tun, was ich ihnen sage und dann wird diese Nation mir hörig sein und ich werde ihnen befehlen, die ganze Welt zu erobern und sie werden ein leichtes Spiel haben, denn sie werden zuerst die Radiostationen besetzen und meine Melodie spielen. Dann werde ich der Herr der Welt sein. Dann werde ich jeden Tag Geburtstag feiern. Doch dazu brauche ich ihn, weil er der Rock 'n' Roll ist und der Rock 'n' Roll die größte Waffe, die Gott den Menschen in die Hand gegeben hat! Und du wirst mich nicht daran hindern und deine unterirdischen Freunde nicht. Ihr habt alle versagt! Und der hier wird willenlos sein, er wird das Gehirn dieses Gorillas haben, der mich liebt, weil ich ihn großgezogen habe wie eine Mutter und er wird alles tun, was ich ihm sage."

Diese Worte waren nicht mehr an eine bestimmte Person gerichtet. Er bewegte sich wirr im Raum hin und her und schrie die Wand und die Dinge an. Plötzlich wandte er sich wieder an Pandarei: "Doch du, liebe Pandarei, wirst den Augenblick meines größten Triumphes nicht mehr erleben, zu lange hast du mich verschmäht. Wenn Heinz später dem Körper von Lucy eine tödliche Spritze verpassen wird und ich schon längst mit Plentens Körper und Lucys Seele verschwunden sein werde, um mein Werk zu vollenden, wirst du Zentimeter für Zentimeter in einem Säurebad zugrunde gehen. Damit mir aber dieses Vergnügen nicht entgeht, habe ich dort oben eine Kamera installiert." Er winkte nach oben und betätigte einen Knopf auf seiner allmächtigen Kontrollwand und unter dem Käfig schob sich eine Bodenplatte zur Seite und den Blick auf ein grün brodelndes Säurebad wurde frei, gleichzeitig setzte sich, durch ein gefährliches Rattern der Kette angekündigt, der Käfig selbst tödlich langsam nach unten in Bewegung. Ein diabolisches Lachen füllte den Raum und wurde von den Wänden zurückgeworfen und klang wahnsinnig. Pandarei fühlte, wie sie unwillkürlich Nervosität übermannte und sie bewegte sich, wie ein Tiger, der es gewohnt ist über freies Land zu schweifen, in dem kleinen Käfig hin und her. Nobnoj ging grinsend auf seine Apparatur zu und tippte wild auf Knöpfe und bewegte Schalter.

Ein böses Funkeln kam aus seinen Augen, er war wieder ganz der Showmann, der er auf der Bühne war, wenn er Lieder von Gott sang.

Ein leuchtender Blitz durchfuhr die Drähte, die zu den Salatschüsseln führten. Beide Kreaturen schrien und bäumten sich in ihren Fesseln auf.

Schnell war alles gegangen. Nobnoj befreite den Elvis und der fiel erleichtert in seine Arme. Aufeinandergestützt verließen sie die Szenerie und boten ein Bild tiefer Harmonie.

Der häßliche, bucklige Heinz schlürfte auf den Gorilla zu, der entsetzt brüllte. Aus einer Jackentasche entnahm er eine Spritze. Als er ihre Funktionstüchtigkeit prüfte, blickte er auch kurz und leer zu Pandarei hinauf, dann beugte er sich über den wimmernden Affen.

"Mensch, hilf mir. Das hast du doch schon einmal gemacht. Ich weiß, daß ein Mann tun muß, was ein Mann tun muß, aber der ist wahnsinnig, du mußt mir helfen. Bitte, Hilfe, hilf mir!"

Ihre Hysterie zeigte nicht die geringste Wirkung auf Heinz, der mit geöffneter Hose auf dem Gorilla kniete. Herzerweichend war der Lärm, den dieser erzeugte, um einer tauben Welt von seiner unsäglichen Not zu künden.

Explosion und Pulverrauch erfüllten plötzlich die Luft. Neue laute, unartikulierte Schreie. In dem sich verziehenden Nebel sah Pandarei die eigenartigen Geschöpfe, die sie entführt hatten, wie sie den überraschten Heinz von dem Gorilla runter zerrten. Der tobte in dem Tumult, schien nicht zu begreifen, daß er jetzt von seinem Bedränger befreit wurde und konnte sich endlich losreißen. Er schlug um sich und streckte ein paar Eindringe nieder. Diese reagierten sehr verwirrt auf ihren neuen Gegner, so daß Heinz sich herauswinden und eine Pistole aus seiner Tasche ziehen konnte.

"Hände hoch oder ich p-p-puste euch alle ein Loch in eure Schädel!" Heinz sah sehr komisch aus, wie er dastand mit heruntergelassenen Hosen und versuchte, gefährlich zu wirken. Seine blassen Füße waren übersät mit Blutergüssen und blauen Flecken. Die Unterirdischen blieben eine kurze Weile stumm, doch schlagartig brachen sie in Gelächter aus die Dramatik der Lage verkennend.

Heinz wurde wütend und schoß einem von ihnen tatsächlich ein Loch in den Schädel, der es dann vorzog in tausend Stücke zu ex- oder implodieren, dergestalt daß seine Artgenossen mit einem leichten Sprühstrahl roten, ganz besonderen Saftes überzogen wurden. Die allgemeine Heiterkeit fand ein jähes Ende. Bedrohlich umringten sie den weiterhin wild um sich schießenden Heinz und rückten näher, Er konnte zwar noch so manches Loch in so manchen Kopf pusten, letztendlich aber nicht verhindern, daß sie ihn entwaffneten und ihm Schmerzen zufügten. Der Gorilla, der sämtliche Aufmerksamkeit eingebüßt hatte, sprang an die Stäbe von Pandareis oder auch seinem Käfig, der sich mittlerweile bis auf einen halben Meter bedrohlich der verderbenbringenden Brühe genähert hatte. Pandarei fiel mit einem Schrei zurück. Sie sah dieses angestrengte Gesicht mit hervorquellenden Augen zwischen zwei Gitterstäben hindurch, die sich auseinanderbewegten, sehr langsam, fast zu langsam für ihre Fallgeschwindigkeit, doch ausreichend, um ihr wieder Hoffnung zu geben.

Ein rasch wachsender grüner Fleck breitete sich auf dem Boden aus; der Gorilla brachte den Käfig dazu, sich zu neigen, zitternd stand Pandarei in der gegenüberliegenden Ecke. Sie stöhnte.

Der Affe berührte mit seinen Füßen die Säure, brüllte auf, ließ los.

Ein schwankender Käfig, grün glühende, brautkleidversengende Spritzer, Schmerzen.

Der Affe versank, konnte nicht schwimmen.

Pandarei versuchte durch die Öffnung zu kommen, dabei neigte sich der Käfig wieder, ihre Schuhe wurden weggeätzt, sie steckte, schrie, zwängte sich, schaukelte, fiel und landete hart, schmerzhaft, erleichtert.

Sie sah zurückblickend in das sich auflösende Gesicht des Gorillas, der die letzte Ruhestätte für Elvis gehetzte Seele gewesen war.

Sie hastete zum Ausgang, Scherben zerschnitten ihre Fußsohlen. Das Bild von John Lennon. Er sah aus, als hätte er ihr etwas zu sagen . Vielleicht, daß sie sich vorstellen solle, es gebe keinen Himmel? Vielleicht, daß alles, was sie brauche, Liebe sei? Sie steckte das von seinem Rahmen befreite Bild zwischen lose Stoffreste und den durch sie lückenhaft bedeckten Körper. In einem Anfall von

Mutwillen macht sie noch eine beleidigende Geste zu einem höhnischen Gesicht, das in die Richtung der Kamera sah, bevor sie über die Wendeltreppe das Unten wieder verließ.

Wieder wand sich Stein, diesmal nach oben, nur nach oben, Wieder drehten sich Geist und Körper, nur in eine andere Richtung. Sie strebte nach oben, wurde nicht mehr nach unten gezogen. Sie war wieder erwacht.

Unten war Lärm und Wärme. Offenbar wurde dort weiter zerstört.. Der Sympathische, Dicke erschien ihr kurz vor ihrem geistigen Auge, wie er soeben vor dem geöffneten, leeren Kofferraum eines Wagens stand. Wie gesagt, nur kurz. Dunkelheit und der Weg nach oben.

Kapitel 16: Ein altes Paar

Blut färbte Weiß punktuell rot. Der Schnee, der jetzt alles bedeckte, tat ihren wunden Füßen gut. Die Eiche stand hinter ihr, wie ein alter mächtiger Freund, in dessen Schoß man seinen Kopf legen konnte, wenn man weinen wollte und nicht alle zuschauen und lachen sollten. Er deutete auf den Himmel, die große, schützende Hand, die immer über Pandarei gehalten wurde. Dort thronte der Mond ebenso weiß wie der Schnee, auf ihm stand in gewaltigen Lettern: "Tötet Nobnoj Smada!", im selben Rot wie ihr Blut. Im Traum waren sie sich schon einmal begegnet.

Die Leute ließen sich wieder blenden von einer Sonne, die nur scheint und nicht wärmt. Sie war ganz allein hier auf einem weißen Hügel und hatte nur ihre Füße, um damit in den Schnee zu schreiben.

Sie lief los in die unbekannte Dunkelheit, die der Wald vor ihr darstellte, wurde von ihr verschluckt, ganz. Sie begab sich in den Rachen eines wilden Tiers und verlor die einzige Sprache, die sie noch besaß, um die Außenwelt in eine Beziehung zu ihr zu setzen: ihr Blut. Zwar schmerzten ihre Füße noch mehr, aber das Blut zog mit seinem Geruch nur ihre Feinde an.

Sie weinte. Alles um sie atmete Feindschaft aus. Das wilde Tier in dessen Körper sie jetzt gefangen war, war Nobnoj Smada, er hatte sie ganz in sich aufgesogen und sie ging direkt auf sein Zentrum, das Zentrum des Bösen zu, weit entfernt von jedem Ausweg. Und doch mußte sie weiter.

Ein Hauch von Erlösung war für sie kühlender, glatter Asphalt, schön feucht. Eine Straße, die Menschen jenseits dieses Gefängnisses verband. Bald würde sie nicht mehr alleine sein. Es gab noch ein Draußen, das es geschafft hatte einen Fangarm hier herein zu werfen, und auf dem sie sich herausziehen ließ. Und das Zaubermittel waren wieder ihre Füße, die schmerzten so angenehm, sie schrien so laut, gaben Lebenszeichen, retteten sie vor dem Wahnsinn, der Hoffnungslosigkeit.

Zwei Lichter tauchten auf, näherten sich, um endlich ihre Einsamkeit zu zerschlagen und sie liebevoll herauszuheben, aus den Mauern, die sie umgaben, ins Warme, ins Licht zubringen. Sie winkte. Große Bewegungen, die sich anzogen, schnell und unaufhaltsam. Doch die hier wollten nicht retten, die hier täuschten, wollten nicht aufgehalten werden, wollten aufhalten und Blut lecken.

Pandarei wich aus in letzter Sekunde und Metall und Holz lieferten sich ein Blitzgefecht, viel Gewalt, viel Lärm. Pandarei wollte sehen, wollte helfen, dem- oder derjenigen, der oder die beinahe ihr Mörder oder ihre Mörderin geworden wäre. Eine Mutter von drei Kindern - sie wußte also wie das ist - saß am Steuer - sie war wohl gerade auf dem Heimweg von der Nikolausfeier ihres Turnvereins- und rollte mit den Augen und kreischte - sie wollte nicht Gutes. Das sah Pandarei. Damals war sie jung gewesen und sie war dagelegen und mußte nur noch eingepackt werden, doch jetzt konnte sie laufen, wenn auch die Füße sie nicht mehr tragen wollten. Hinein ins Unbekannte, in die Nacht. Das Lachen war überall und sie lief dennoch weiter, weil sie wußte, daß sie diesmal die Chance hatte zu entkommen!

Sie war weiß und lief durch Schwarz. Ihr wurde bewußt, wie schwer es war, das einzige Licht zu sein, das einer Welt leuchtet. Die sie wiederfindende Stille war tröstend. Sie fand sie allein wieder; die Melodie. Sie klang vertraut in ihrer eigenen Sprache, die sie gesprochen hatte, bevor die sie ihr genommen hatten und ihr dafür eine andere gegeben hatten, eine künstliche, die mit der Welt nicht zu tun hatte und die schließlich die Welt verändert hatte, sie in eine Welt verwandelt hatte, die ihr fremd war. All die Jahre hatte sie nichts davon gemerkt. Doch jetzt klang die Melodie wieder, die den Weg

beschrieb dorthin, wo ihre Heimat lag, und die Melodie kam aus ihrem Mund, so als wäre sie nur kurz weggewesen, hätte nur einen kurzen Ausflug ins Land des Vergessens gemacht und blühte jetzt wieder wie eine Blume in der Wüste, die Jahrzehnte braucht, um wieder genug Kraft zu haben, um n all ihrer Herrlichkeit wieder zu erstehen

Da war auch wieder die schützende Hand des Himmels. Ihre Füße mußte sie kaum noch bewegen wie auf einer Rolltreppe, die sie emportrug in die Spielwarenabteilung. Ein fester Pfad durch das Dunkel. Sie wurde weitergereicht wie eine Fackel von Hand zu Hand, um irgendwann in die Hand des Brandstifters gegeben zu werden, der damit einen Palast in Brand setzte, ein Palast, dessen Putz bereits bröckelte und der innen leer war, denn der Brandstifter war schon dagewesen und hatte alles, was wertvoll war unbemerkt aus dem Haus geschafft. Nun würde alles vernichtet werden und ein neues, schönes Haus kann dann vom Brandmeister errichtet werden. Doch noch während er seine neue Wohnung mit seinen Schätzen einrichtet, wird ein neuer kommen und alles fortschaffen, was er zu fassen bekommt. Und der Hausherr wird durch seine Räume schweifen und merken, daß jeden Tag ein Stück mehr fehlt und er wird Wachen aufstellen, doch das wird nichts nützen, schließlich hatten ihn auch keine Wachen abgeschreckt zu seiner Zeit. Er wird sich im Bett verkriechen, damit er nicht mehr mit ansehen muß, wie sein Reichtum schrumpft und er wird seine Bettdecke gut festhalten, damit sie nicht auch noch verschwindet, denn die Wärme ist das einzige, was seinen Geist soweit lähmt, daß er am Morgen die Kraft hat in den Spiegel zu sehen, den irgend jemand seinem Bett gegenüber aufhängt, sooft er ihm auch entfernen läßt. Eines Nachts wird wieder das Feuer kommen und der Rauch wird ihn einhüllen und er wird schlafend wie ein kleines Kind endlich dorthin gelangen, wo er Frieden findet. Dieses Mal würde Pandarei die Fackel sein, nächstes Mal jemand anders. Das ist egal, für die Fackel ist nur wichtig zu brennen und weitergereicht zu werden, um zu einem Großbrand anwachsen zu können.

Sie sah ein Licht durch die Bäume scheinen, ein festes. Jemand hatte hier, mitten im Wald, sein Zuhause gefunden. Sie schritt darauf zu. Sie hatte nicht einmal Sorge, einen die Einsamkeit suchenden Mönch nach vierzig Jahren Schweigen wieder zum Sprechen zu zwingen und ihn so von der Himmelstüre, deren Knauf schon in seiner Hand gelegen hatte, zu verjagen. Nein, sie fühlte sich vollkommen im Recht. Schließlich war nicht ihr Auto liegen geblieben und sie klingelte nicht, um mal kurz telefonieren zu dürfen insgeheim in der Hoffnung vom Hausherrn noch auf ein rauschendes Fest eingeladen zu werden. Nein, sie war unterwegs in dieser Silvesternacht, um die Welt zu retten, notwendige Voraussetzung für alle weiteren rauschenden Feste.

Sie näherte sich der Tür, vernahm zwei Stimmen, eine männliche und eine weibliche, beide klangen

sehr erfahren. Plötzlich stimmte die männliche in ihr Lied ein das sie unbewußt weitergesungen hatte. Sie verdoppelte noch einmal die Kraft in ihrer Stimme und das Universum bebte für den Moment, als die Tür weit aufgestoßen wurde und der alte Mann, der offenbar seine Grube nicht mehr nötig hatte, mit weit geöffneten Armen vor ihr erschien.

"Pandarei! So eine Überraschung! Willkommen, tritt ein, bring Glück herein!"

Nichts hatte sich verändert: Die Baracke stand da, jeder Autoreifen, jedes Wellblech stand noch an seinem Platz. Pandarei hatte einst geglaubt, daß alles sich fließend verändere.

Zögerlich fiel sie dem Alten um den Hals und ließ sich küssen und in die wärmende Stube tragen. An dem Platz, der einst ihrer gewesen war, saß eine milde lächelnde alte Dame in einem aufwendig schillernden Abendkleid über und über mit Perlen behängt.

Es wurde ihr aus der Ecke ein Stuhl an den Tisch gestellt.

"Auch heute haben wir noch Suppe für dich übrig, mein Kind. Vieles ist im Leben Zufall, doch diesmal erlaube mir von Schicksal zu reden", sagte er und stellte ihr die weiß dampfende Schüssel hin. Pandarei konnte dem verführerischen Anblick nur schwer widerstehen. Doch nun sah alles anders aus, diesmal war es ernst.

"Tut mir leid, wenn ich dein Angebot ausschlagen muß, ich bin sehr in Eile und brauche einen klaren Kopf."

"Willst du mich beleidigen?"

"Es geht um die Rettung der Welt," sagte Pandarei und wollte sich schon wieder erheben.

"Die Jugend," warf die alte Frau ein mit künstlich sorgenvoller Miene, die sich sofort wieder glättete zu einem sanft rauschenden Ozean der Ruhe und Ausgeglichenheit.

"Ich bin schließlich kein Kind mehr, damals war alles ein Spiel und jetzt ist es sehr ernst."

"Entschuldige, das habe ich ganz vergessen. Das ist ganz leicht, wenn man so abgeschieden wohnt und nichts von der Welt mitbekommt," antwortete er, setzte sich traurig an seinen Stuhl und starrte auf die leere Mitte des Tischs. Die Alte nahm seine zur Faust geballte Rechte und strich weich darüber. Er hob seinen Kopf und sah in ein Lächeln von rührender Zärtlichkeit, das sich auf sein träges Gesicht übertrug. Die beiden waren ganz für sich und Pandarei kämpfte mit einer Träne, die geschickt ihrem Auge entwischt war und munter eine Wange hinunter kullerte. Sie hatte die Hand schon ausgestreckt, um den Löffel zu ergreifen, als er fragte: "Sollen wir dir ein Taxi rufen?"

Pandarei blickte ihn erschrocken an.

Die Alte stand auf und legte ihre Hände auf ihre Backen.

"Mein Kind, nur die Liebe kann die Welt retten."

Die Liebe! Elvis war ein Mensch mit dem Verstand eines Gorillas. Was waren denn das für Aussichten, wenn dieses Märchen - sollte es wirklich ein gutes Ende haben - konsequent fertig erzählt wurde. Pandarei fiel auf, daß es für sie immer dumm laufen würde.

"Glaub mir, ein Kuß wird die Welt erlösen, heute ist ein ganz besonderer Abend."

All diese Worte standen hilflos auf Pandareis Gesicht, das eine tiefe Finsternis auffraß.

"Du bist nicht zufällig hierher gekommen, mein Kind." Die Stimme der Alten klang fast befehlend.

"Das Taxi wartet in Wirklichkeit schon ein paar Stunden auf dich," sagte er jetzt wieder und die weiße Flüssigkeit schwamm mit verdächtiger Gelassenheit in ihrer Schüssel vor ihren Augen.

Beide standen jetzt hinter ihr und griffen ihr unter die Arme, hoben sie hoch. Sanft brachten sie sie zur Tür. Pandarei blickte zurück und sah den Tisch mit der Schüssel und den drei leeren Stühlen. Wehmut jagte vorbei und streifte schnell das Herz, so daß es erschrak und noch einige Sekunden melancholisch taumeln mußte.

Man hat manchmal das Gefühl, wenn man vor einer Tür steht, die sich gerade hinter einem geschlossen hat, daß alle Leute in dem Raum, den man gerade verlassen hat, nun laut auf lachen. Pandarei hatte dieses Gefühl nicht, denn sie hörte, wie hinter ihr höhnisches Gelächter explodierte und vor ihren Augen verschwamm bereits das gelbe Taxi mit dem laufenden Motor und der magere, kleine, schwarzhaarige Mann, dessen Gesicht weit älter aussah, als es sein konnte und der ihr höflich die hintere rechte Tür aufhielt, aber dann erinnerte sie sich daran, daß immer noch John Lennon auf ihrer Brust ruhte und schritt beherzt auf das Auto zu.

"Wohin soll ich Sie bringen, Lady?" fragte der Fahrer über seine rechte Schulter zwinkernd, als sie saßen.

Wohin wollte sie eigentlich? Was hatte sie realistisch gesehen für Chancen, irgend etwas zu bewirken? Wer würde ihr die Geschichte glauben, über die sie selbst nur gelacht hätte, wäre jemand auf die dreiste Idee gekommen, sie ihr zu erzählen?

"Ins Fernsehstudio bitte." Der Versuch war es immerhin wert.

"Aha, also wieder jemand, der hofft, Nobnoj Smada leibhaftig zu begegnen. Klar, dies könnte ja auch das letzte mal sein," sagte er mit einem Grinsen im Gesicht und ließ seinem Wagen freien Lauf.

Die Stille, die sich um sie herum daraufhin ereignete, nutzte Pandarei, um ihr stark lädiertes Kleid wieder irgendwie in irgend eine Form zubringen. Nachdem sie das eine Weile gemacht hatte, fand sie, das sie immer irgendwie gut aussah. Deshalb sah sie dem Fahrer mit ganz neuem Selbstbewußtsein auf die Schulter, die Haare und das ziemlich häßliche, unbewegte Profil.

"Stört es dich, wenn ich rauche?" wollte er wissen.

Sie schüttelte den Kopf.

"Hättest du auch eine gewollt?" Er streckte ihr die Schachtel bereits lässig entgegen. Sie hätte nie nein gesagt. Feuer vom Anzünder. Sie fand die Häßlichkeit seines Gesichts unglaublich anziehen. Die Adlernase, die tiefen Furchen, die zuwenig Schlaf in der Jugend und die Einnahme nicht

gesundheitsfördernder Mittel narbengleich verursacht hatten, die Wunden der Zeit und die unendliche, unausweichliche Trägheit seiner Augen.

"Darf ich dich fragen, was mit deinem Kleid passiert ist? Gab's Streit mit dem Bräutigam?"

"Nein, das ist eine längere Geschichte. Ich versuche gerade den Bräutigam einzuholen."

"Oh, das klingt romantisch. Aber ihr habt bald ein ganzes Jahrtausend, das kann viel Zeit sein. Wolltet ihr im Fernsehen heiraten?"

"Eigentlich nicht, aber so wie es jetzt aussieht. . ."

"Scheiße!"

"Nicht hier! Nein nicht!"

Der Motor hatte aufgehört zu arbeiten, sie rollten durch die Nacht und er drehte bereits hektisch heftig am Zündschlüssel, seine Flüche verdichteten sich. Pandarei verstand zunächst nicht, schließlich lief der Zähler weiter.

"Nur die Ruhe, keine Panik!" Das sagte er nicht zu Pandarei, die existierte nicht mehr. Sie waren zum Stehen gekommen.

"Kannst du Auto fahren?"

"Ja, wieso?"

"Wenn jetzt irgend etwas passiert, dann denk nicht an mich, sondern versuch dich zu retten, Hörst du? Das ist alles kein Zufall. Ist das Klar?"

Draußen war Nebel, der die Stimmen der Freunde verschluckte und die der Feinde allein durchließ, teuflisch verstärkte. Sie klangen nach Wölfen, die keine Ruhe fanden, weil sie dem blutverschmierten Mond anheulen mußten. Der Mond, der dort oben sorgenvoll nach seinen Lieben suchte, vergeblich in der Dunkelheit und die Wolkenwand in ein unheilvolles Licht tauchte.

Der Fahrer stieg aus und schlug geräuschvoll die Tür zu. Pandarei sah den Schlüssel und wie an ihm ein Donald Duck baumelte; obwohl er ein wütendes Gesicht hatte, wirkte er sehr zynisch. Pandarei haßte ihn dafür.

Sie sah wie er sich über den Motor beugte, er zitterte, verstand sicher etwas davon.

Die Augen kamen rot und gefährlich aus der Nacht. Pandarei schrie und auch er schrie, doch zu spät. Sie waren viele und sie waren hungrig. Blut und menschliche Extremitäten. Pandarei merkte, wie es der Verzweiflung fast gelang, sie unvernünftige Dinge tun zu lassen, da schwang sie sich auf den Fahrersitz und fühlte den Donald. Tränen. Kreischen und ein Motor, der es immer nur fast schaffte. Die gierige Meute umschlich ihr Auto, warf Blicke hinein, nur wenige stritten noch um die Reste des Fahrers. Pandarei sah nicht wie er Anlauf nahm, doch plötzlich klebten das blutige Maul, die mörderischen Zähne an ihrer Scheibe, der Knall ließ tausend Herzen zur Ruhe kommen, doch er riß nicht ab, sondern fand Fortsetzung in warmem, guten alten Motorengeklapper. Ein durchgetretenes Gaspedal, durchdrehende Reifen. Fallen der Motorhaube. Pandarei brauchte, um sich wirklich dessen bewußt zu werden. Das war kein Zufall. Die Wölfe hielten überraschend lange mit, fand sie, sie mußten wirklich hungrig sein. Pandarei erblickte den noch laufenden Zähler und mußte lachen. Sie hätte gar kein Geld dabei gehabt!

Kapitel 17: Ein fröhliches Ende

"Freundinnen müßte man sein!" dachte sich Alexandra, als die wütende Tür hinter ihr wieder ins Schloß fiel. Pandarei war natürlich nicht gekommen, sie war auch nicht in ihrem Zimmer. Aber die Welt konnte ihr jetzt gestohlen bleiben. Wer bestimmte denn die Regeln? Sie brauchte niemanden, an den sie sich anlehnen mußte. Sie war eine autonome Zone. Außerdem, was gab es den Tragischeres als einen solchen Silvesterabend vor dem Fernseher zu verbringen, was Schöneres?

Das Programm war sehr vorwurfsvoll zusammengestellt, fand sie: zweitklassige amerikanische Actionfilme, prominente Köpfe, die eine bunte Mischung aus Humor und Show präsentierte für Leute, die nur eine Nase ins nächste Jahrtausend stecken wollten, um dann zu sterben; ein Serienspezial. Als sie schließlich eine Dokumentation über Riesenschildkröten auf den Galápagosinseln erwischte, brachen in ihr Dämme. Sie mußte jetzt raus, notfalls Schildkrötensuppe essen, dachte sie.

Wozu brauchte sie denn andere Menschen? Etwa eine Schulter, um sich anzulehnen? Sie wußte, daß sie darauf spucken konnte genauso wie sie sich darauf stürzen konnte und sie aussaugen bis auf den letzten blutigen Tropfen.

Auf der Straße wieder. Diese Blicke. Es war nun mal auffällig, alleine unterwegs zu sein in so einer

Nacht, das wußte sie auch.

Wohin? Ins Purple Haze. Man kann auch anders, kann das auch beweisen. Das nächste Jahrtausend wird sowieso alles ändern. Mit frischem Mut voran! Es war viel los, sie standen bis auf die Straße hinaus an. Das war nicht angenehm, schließlich war man nicht für draußen angezogen, zweimal nicht fürs Stehen. Das ist ja wie im Krieg! Die anderen konnten sich wenigstens unterhalten. Man selbst bekam nochmals Gelegenheit, sein Vorhaben zu überlegen. Das war schlecht, es war kein Vorhaben, über das man lange nachdenken konnte. Jedenfalls nicht, ohne gleich viel größere Dinge denken zu müssen.

Den größeren Zusammenhang, was die Welt im innersten zusammenhält und was man selbst damit zu tun hat. Das vergeht zwar wieder, kann aber ein ansehnliches Loch in den Spaß reißen und kann vor allem wiederkommen, auch bei lauter Musik, wurde vielleicht sogar von lauter Musik angezogen. Tür auf, einer rein, nächster sein. Tür auf, selber rein, "Grüß Gott, Herr Kassierer! 'Oh' das ist aber nicht billig, mein Geldbeutel sitzt nicht mehr so sprungfreudig in meiner Tasche, ist etwas lichtscheu geworden bei der Warterei da draußen, denkt wohl, es ist überall so kalt auf der Welt." "Das ist ganz normal, das legt sich, mein Frollein. Treten sie ruhig näher, hier ist laute Musik, gute Laune, lauter liebe Leute! Man bekommt hier noch was geboten für sein sicher sauer verdientes Geld, kommen sie herein. Hihi haha hoho huhu!"

Alexandra trat ein und war nicht belogen worden. Licht, Leute, laute Musik, ihre Sinne konnten nicht viel damit anfangen oder auch zuviel die ersten Momente. Zunächst kein bekanntes Gesicht, das die Menge ein bißchen geordnet hätte, bis sie die Bar entlangfuhr mit den Augen und zwei Menschen über Bier entdeckte, die sie auch schon über Kaffee gesehen hatte. Sie steuerte direkt darauf zu als wäre sie lange fortgewesen und sah zum ersten Mal nach vielen Jahren jemanden aus der Heimat an einem wildfremden Hafen. Sie verscheuchte diese Gedanken mit einer hastigen Handbewegung, weil sie ihr zu theatralisch waren. Aber die Verhältnisse verschieben sich eben beim Warten.

Tom sah sie als erstes und mußte hinter vorgehaltener Hand lachen. Der Baßmann wurde aufmerksam und sein Gesicht war eine Zeitlang nicht schlüssig, welchen Ausdruck es annehmen sollte, dachte aber irgendwann wohl, daß man hier nur versuche sich zu amüsieren und daß man nichts zu verlieren habe. Zurückfallen auf eine nicht vorhandene Lehne, ein Meister der Pantomime.

"HallowiegehtsdankegutunddirhättestwashörenlassenkönnenvondirwasmachtstdudieganzeZeitundsonstsowiegehts"

"Ich geh mal schnell darüber", sagte Tom und nahm sein Weizenglas.

Um Zeit zu gewinnen, bot er ihr den nun freien Hocker an.

Um Zeit zu gewinnen nahm sie sehr umständlich darauf Platz, bedankte sich und starrte zu dem gestreßten Barmann sehnsüchtig, aber insgeheim hoffend, nicht zu schnell seine Aufmerksamkeit zu erregen. Was hatte man sich wirklich noch zu sagen? Die Band hatte noch nicht begonnen zu spielen.

Pandarei mußte nicht mehr weit fahren, um aus dem Wald herauszukommen und auf flaches Land zu gelangen. In nicht allzu großer Entfernung tauchte ein hell erleuchtetes Theatergebäude auf, vor der sich eine große rumorende Menschenmenge versammelt hatte. Von dort wurde gesendet, der Fahrer hatte Pech gehabt. Für Pandarei tauchten nun neue Probleme auf, denn sie war nicht die einzige, die glaubte, wichtige Gründe zu haben, hineingelassen zu werden. Sie war auf einmal wieder so klein, so allein. Sie hatten eine große Leinwand aufgebaut und davor eine Bühne mit einem zwar talentierten, schnellsprechenden, aber auch nervigen Moderator darauf, der der wogenden Masse behutsam und in immer einfallsloser werdenden lockeren Sprüchen beizubringen versuchte, daß sie nichts verpassen werden, denn man habe ja Leinwände und Wahrheiten für sie aufgestellt, die sie genauestens über die Geschehnisse in der Halle auf dem Laufenden halten würden. Doch die Menge interessierte sich noch

gar nicht dafür, sondern für den Glamour, der vor dem Eingang stattfand. In einem riesigen Konvoi fuhr ein schweres Auto nach dem anderen vor und es entstiegen ihnen die größten Größen des Showgeschäfts, viel mehr als ein Durchschnittsboulevardblattkonsument auf einmal ertragen konnte und sie sahen alle in natura noch viel besser aus als auf den Hochglanztitelseiten der Magazine. Es

wurde getobt und geschrien, sich die Kleider vom Leib gerissen. Viele wilde Wachmänner waren glücklich, endlich einmal zum tieferen Sinn, zur wahren Ausübung ihres Berufs durchstoßen zu dürfen. Sie prügelten, stachen, schossen und hetzten Hunde und sie waren immer die Stärkeren. Es floß Blut in schönen Strömen, das Licht der Scheinwerfer tat sein übriges. Manche hatten vergessen, wozu sie eigentlich gekommen waren, sie feierten eine wilde Splatterparty, hielten ihre abgebissene oder abgehauene linke Hand in der rechten und tanzten wild um einen brennenden Wachmann mit Hund, der zu Boden gestürzt war. Die Gewalt, die man sich antat, war äußerst nett und kameradschaftlich gemeint. Man feierte gemeinsam, einmal im Leben muß es das geben.

Pandarei stand hilflos inmitten des ganzen Trubels und wußte nicht, was sie tun sollte. Neben ihr stand ein junger Mann, der in seine Augenhöhle griff und sich mit großer Konzentration das linke Auge entfernte. Souverän warf er es auf eine Hollywoodschönheit, die gerade untergehakt mit einem sehr zerknitterten Schauspieler auf dem roten Teppich dem Eingang zustrebte. Sie trug ein langes weißes Kleid, worauf das Auge natürlich sofort sehr häßliche Flecken hinterließ. Kurz übertönte ihr schriller Schrei sogar das Gebrüll der Masse. Doch der alte Schauspieler mit dem Alufoliengesicht bückte sich und hängte ihr das Auge an einen Ohrring, der neben ihrem ratlos fragenden Gesicht pendelte. Lächeln erwidernd hakte sich wieder unter und sie setzten ihren Weg fort, dabei fiel das Auge auf ihre Schulter, zu Boden. Begeisterung. Applaus, Applaus, Applaus!

Pandarei schüttelte den Kopf, sie verlor Zeit. Jemand tippte sie unsanft von hinten an, sie drehte sich um und erkannte einen Unterirdischen. Er legte einen Finger auf seinen Mund und gab ihr Zeichen, ihm zu folgen. Erleichtert folgte sie. Als sie ein Stück weit die Straße entlang gegangen waren, sah sie einen geöffneten Kanaldeckel. .

Sie nippte an einem kleinen Cola.

"Es ist ziemlich laut hier. Hast du nicht Lust rauszugehen, damit wir uns ein bißchen unterhalten können?" brüllte er, sehr nahe an ihrem Gesicht.

Sie schaute ihn leicht entsetzt an. Sie hatte sehr viel Geld bezahlt für diese Band, die noch keinen Ton gespielt hatte und sie hatte auch viel Geld für ein Cola ausgegeben, von dem sie gerade einen kleinen, kaum der Rede werten Schluck genommen hatte!

"Wieso gehen wir nicht zu mir und schauen ein bißchen fern? Oder kannst du dir an einem Abend wie diesem etwas Tragischeres vorstellen als Fernseh zu schauen?" schlug sie vor.

Der Weg zu Fuß war nicht allzu weit, also konnte man es wagen. Sie verließen die Lokalität.

Man hatte ihr einen Bauarbeiterhelm mit einer kleinen Lampe auf der Stirn aufgesetzt, denn es war dunkel da unten, schmutzig und es stank. Ihr weißes Kleid wurde sehr in Mitleidenschaft gezogen. Ungeschickt nur konnte sie mit ihrem Begleiter Schritt halten. Jäh hielt er inne, gebot ihr, still zu sein, griff rasch in eine vorbeilaufende Brühe und holte eine prächtige, braune Ratte hervor, die ihr grausames Schicksal wohl vorahnend sehr unruhig zuckte. Er biß ihr genüßlich den Kopf ab, schloß die Augen und war kurz die Seligkeit in Person. Doch dann bot er der angwiderten Pandarei nervös ein Stück an von seiner Mahlzeit seine Unhöflichkeit erst bemerkend. Pandarei hatte den Eindruck, daß er leicht beleidigt weiter aß, als sie ablehnte. Auch setzte er den Marsch mit erhöhter Geschwindigkeit fort.

Pandarei verlor die Orientierung, sie hatte das Gefühl schon mehrere Kilometer unter der Erde gewandert zu sein und immer neue Abzweigungen taten sich auf. Fast mutmaßte sie, ihr Führer habe auch keinen Plan mehr und er bewege sich nur deswegen so schnell, um sie nicht zu beunruhigen.

Doch dann tauchte eine Leiter vor ihnen auf und die Leiter führte nach oben in einen größeren, wenn auch immer noch kleinen Raum, der eine Tür besaß. Der Unterirdische schaute sie an, als wollte er

ihr sagen, daß er ihr nur bis hierher helfen könne und daß sie fortan allein zurechtkommen müsse. Sie

atmete tief die Würde dieses Augenblicks. Er klopfte ihr schwerfällig auf die Schulter und überließ sie ihrem Schicksal.

Ein langer, enger Gang, eine weitere Türe. Sie kannte das irgendwoher. Sie waren sich schon einmal begegnet im Traum. Der große, dunkle Konzertsaal, die hell erleuchtete, leere Bühne mit dem Holzboden, den Brettern, die die Welt bedeuten. Leer bis auf Plenten, einem Elvis, der in der Ecke saß, zufrieden eine Banane schälte und die Umgebung abgeschaltet hatte. Pandarei ging langsam auf ihn zu, doch er zeigte keine Reaktion auf irgendwas im Raum.

Aus anderer Richtung näherten sich ebenfalls Schritte und eine laute Stimme rief: "Es ist Zeit für uns zu gehn, das ist der wahre Plan zehn, mein Kleiner." Das sich anschließende Lachen klang genauso siegesbewußt.

Vollkommen widerstandslos ließ sich Plenten von Nobnoj abführen. Pandarei beobachtete das immer noch im Dunkeln ohne selbst bemerkt zu werden.

Sie benutzten den Bühnenaufgang und Pandarei folgte ihnen zugleich. In sicherer Entfernung ging Pandarei an Gängen und Türen mit Sternenaufklebern vorbei, durch das Innere, das Herz dieses kolossalen Gebäudes. Am Ende befanden sie sich wieder am Anfang. Bühne und Saal waren hell erleuchtet und festlich gerichtet, es war Show. Musik wurde gespielt und gute Laune tobte wild umher, der große Augenblick rückte bedrohlich näher. Angespannte Nervosität hinter der Bühne.

Sie lagen beide da und der Fernseher lief. Keiner konnte sagen wie, es war einfach passiert und nun lähmte er Worte, die sich schon auf der Zunge nach vorne bewegt hatten, überzog das schwere rote Ding im Mund mit Leim. Böse Sache. Kein Mensch kann richtig zu zweit Einsamkeit genießen, wenn die große weite Welt ständig durch ein Fenster frech ihre kleine, rote Schnapsnase hereinhängt. Dabei hatten sie sich solche Mühe gegeben: Viel Prominenz, viel Glanz und zum Höhepunkt, zur Jahrtausendwende hatte Nobnoj Smada, der größte Star dieses Jahrhunderts, seinen letzten Auftritt angekündigt. Ein Mensch, der wirklich wußte, wie man sich inszeniert, das mußte jeder Neid ihm lassen. Die letzten Minutensandkörner fielen durch die gigantische Eieruhr und das Jahrhundertei lag ganz fiebrig in dem kochenden Wasser und freute sich, bald herausgenommen zu werden, denn es war bereits überhart.

Und dann betrat er die Bühne und Applaus brach los von überall her, von allen Wänden und wollte nicht enden. Er ging ans Mikrofon wie ihn alle kannten und liebten - kein Mensch, der dabei war und der nicht bewegt gewesen wäre - und richtete die Worte an "Alle hier und euch zu Hause an euren Bildschirmen und Radiogeräten, hallo und ich liebe euch, ihr seid das beste Publikum, das ich je gehabt habe. Und als besondere Sensation habe ich euch heute einen Gast mitgebracht, der euch auch noch ein Liedchen trällern wird, bevor ich mich euch wieder zuwende. Viele von euch werden ihn kennen, alle werdet ihr ihn lieben. Gibt es einen besseren Moment, um der Welt zu sagen 'Ich lebe', gibt es einen besseren Moment für ein Comeback? Hier ist der lebendige, wahre und einzige Elvis!

Hier ist der Rock 'n' Roll!" Die Band begann zu spielen und Elvis Presley bestieg die Bühne und die beiden kannten ihn nur zu gut; er machte einen apathischen, fast müden Eindruck auf sie, aber sie freuten sich trotzdem.

Nebenbei schlich sich ganz heimlich, still und leise das Jahrtausend der Kreuzzüge, Amerikaentdeckungen und Mondspaziergänge zur Tür hinaus und war sehr froh, endlich wieder frische Luft atmen zu können. Es zündete sich gerade eine Zigarette an, als das neue, junge noch voller Tatendrang ankam. Sie wünschten sich beide noch viel Glück und verloren sich einstweilen aus den Augen, auch wenn manche es nicht wahrhaben wollten und von guten alten Zeiten erzählen wollten.

Elvis wollte gerade ansetzen zu singen, als ein Schrei, anders als der eines Fans, das Vergnügen trübte. Eine Frau, blond gut gebräunt in einem zerrissenen, sehr dreckigen Kleid, das einmal weiß gewesen war und das einer Braut, stürmte auf die Bühne und warf sich auf Elvis, der zu Boden

stürzte. Sie lag auf ihm und er sah so aus, als wäre ihm das alles sehr egal, was sie da mit ihm anstellten. Die beiden kannten die Frau auch, die da jetzt Elvis küßte und ihm so gleichsam Leben einhauchte. Sie wußten nicht, ob sie lachen oder weinen sollten. Die Band spielte weiter.

Entsetzt fiel Nobnoj über die am Boden Liegenden her und riß Pandarei an den Haaren von Elvis herunter. Er macht keinen sehr gelassenen Eindruck, so wie ihn die Massen kannten und liebten.

Doch Elvis war erwacht. Er hob ein Mikrofon vom Boden auf und trat majestätisch auf Nobnoj zu. Dieser wirkte sehr klein und schmächtig und keine Worte mußte fallen, damit er Pandarei losließ. Wie ein reuiger Sünder ertrug er die Rede des Kings: "Dein Spiel ist aus, böser Nobnoj. Ich werde mich nicht mehr als dein Werkzeug mißbrauchen lassen. Du bist demaskiert und all die Menschen da draußen kennen nun dein wahres Gesicht. Sie sollen in Frieden und Freiheit auch weiterhin leben dürfen."

Man muß jetzt einschieben, daß Nobnojs Plan allein schon deswegen gescheitert wäre, weil weit weniger als gedacht Radio und Fernseher eingeschaltet hatten, zum Teil auch noch andere Programme, wo zum Beispiel eine Wiederholung von "Arsen und Spitzenhäubchen" lief. Die Leute feierten viel lieber auf der Straße trotz der Kälte. Einige hatten wohl auch ihre Videorecorder programmiert in der weisen Vorahnung, daß sie sich erkälten könnten und die nächsten Tage im Bett verbringen müßten.

Elvis sang zu großen Begeisterung aller "His Latest Flame." Nobnoj stand verstört beiseite, doch Elvis

ging wie ein guter Vater auf ihm zu und sie sangen gemeinsam. Später würde Nobnoj sagen, das sei der schönste Tag seines Lebens gewesen, jeder tanzte und lachte. Aus dem Nichts erscholl eine Stimme: "Hallo, ihr Lieben, hier ist noch einmal GUK. Ich wollte mich verabschieden. Ich kann zwar immer noch nicht sterben, jedoch weiß ich jetzt, wie ich meine Seele in einen Stein wandern lassen kann. Steine haben es gelernt, mit der Unendlichkeit umzugehen. Ich werde viele neue Freunde haben. Und meine Helfer weiß ich auch in guten Händen: Denn sie haben ihren rechtmäßigen Monarchen wiederbekommen: Dich, Plenten und du Pandarei wirst eine würdige Braut sein, um den Nachfolger zu gebären. Das ist nämlich der Grund, warum wir das ganze Theater aufziehen mußten: Vor Jahrhunderten als unten noch ein blühendes Reich war, verließ der König sein Volk, weil er sich in eine Oberirdische verliebt hatte. Von da an begann der Verfall unserer Hochkultur. Wir Computer waren mit der Lenkung des Staates gnadenlos überfordert, weil wir doch keine normalen menschlichen Gefühle haben, sondern nur einen tödlichen Verstand. Wir taten unser bestes und versagten, aber wir hatten immer Hoffnung. Doch endlich kam ein junger Mann aus Memphis und er wurde König genannt und wir wußten, wer er war und was zu tun war. Er gab seine Seele großzügig an dich ab, Plenten. Der gute Nobnoj hatte wohl auch von irgendwas Wind bekommen, wollte große Sachen drehen. Im Endeffekt war er uns aber sehr nützlich bei der Durchführung unseres Plans aber das ist eine andere Geschichte, nimm dein Volk und führe es zu neuer Blüte!"

Unterirdische kamen von überall her und huldigten ihren neuen König, doch der sprach: "Liebe Lebewesen hier auf diesem Planeten. Ich habe erkannt, wo mein Platz ist. Der Rock 'n' Roll wird oben benötigt, es darf nicht länger sein, daß die einen im Licht und die anderen im Schatten leben. Laßt uns alle gemeinsam Schwestern und Brüder werden und uns alle gegenseitig lieben und Gutes tun. Kommt herauf aus der Dunkelheit und schließt euch uns an!"

Die Rede fand großen Beifall an allen Enden der Erde. Die Menschen sahen die Wahrheit vor sich liegen, so wie einer, der seine Brille sucht, obwohl er sie bereits die ganze Zeit auf der Nase hat. Die Unterirdische lebten fortan am Licht und verrichteten all die Tätigkeiten, die den anderen unangenehm waren. Irgendwann vermischten sie sich wieder mit den normalen Menschen und war kein Unterschied mehr zu erkennen, alle waren gleich und gut. Von bösen Menschen konnte man nicht mehr berichten, von übermächtigen, neurotischen Computern auch nicht.

Sie feierten ein großes Fest und am Morgen ging die Sonne zum ersten Mal in einem Jahrtausend voller Friede, Freude und Rock 'n' Roll auf. Auf Wiedersehen!

 

Kapitel 18: Epilog

Es ist Samstag Nacht. Ein lauer Abend, alles ist angenehm erschöpft, ein ruhiger Atem weht durch die Welt. Ich sitze in meiner Wohnung und warte, denn ich bekomme noch Besuch. Ich blättere in der Tageszeitung. Es ist kurz nach acht, sie haben sich eigentlich für acht angesagt. Die Platten liegen neben meiner Stereoanlage, insgeheim habe ich schon eine Liedauswahl getroffen. Alles ist bereit. Es ist Bier da. Und schon klingelt es. Ich öffne und fast alle sind sie da: Pandarei und Plenten, Nobnoj,

Alexandra und der Baßmann, der Tom entschuldigt, er habe kurzfristig einen lange schon vereinbarten Termin wahrnehmen müssen, Sweet Little Susie, so gut hat sie schon lange nicht mehr ausgesehen, reizend und der alte Mann, zusammen Philemon und Baucis. Ich bitte sie herein. Sie setzen sich um den runden Tisch. Jeder trinkt Bier. Das ist schön.

Autor: Es freut mich, daß ihr meiner Einladung gefolgt seid. Wie geht es euch?

Alexandra: Wir sind gekommen, um dir zu danken. Schließlich hast du uns allein zusammengebracht, wir sind ein Paar und du hast unser Märchen erzählt.

Autor: Ich tue, was ich kann. Ich finde, daß jeder von euch ein gutes Ende verdient hat, weil ihr so geduldig wart mit mir. Aber glaubt mir, es war nicht immer leicht für mich, auch wenn es euch so vorkommen muß.

Nobnoj: Ich habe trotzdem den Eindruck, daß du manche von uns bevorzugst, während andere sehr schlecht wegkommen.

Autor: Tut mir leid, lieber Nobnoj, aber eigentlich hättest du der böse, schlechte Verabscheuungswürdige werden sollen, aber auch du bist mir ans Herz gewachsen. Immerhin darfst auch du im Jahrtausend des Friedens und der Freude noch einige Jahre leben. Außerdem hast du genug Geld und Erfolg für Generationen gehabt.

Nobnoj: Das ist nicht alles. Einsamkeit kann tödlich sein.

Pandarei: Aber wir sind doch alle deine Freunde.

Nobnoj: Ich bin immer der Dumme, nichts gelingt mir.

Plenten: Du hast Glück gehabt, daß du so billig davongekommen bist, normalerweise stirbt der Bösewicht am Schluß eines Märchens.

Philemon: Wer will denn hier von einem normalen Märchen reden? Normalerweise bin ich es ja gewohnt die großen Monologe zu halten, aber darüber will ich hinwegsehen, doch daß ich auch noch die Rolle des Philemon zu spielen habe, das ist schon sehr an den Haaren herbeigezogen,. Ich habe nur schlechte Erfahrungen im Bereich der Ehe gemacht mit meiner Frau Xanthippe. Das ist was ganz Neues.

Baucis: Ich hatte nicht den Eindruck, daß es dir bis jetzt mißfallen hätte. Hier ist nicht alles so, wie es sein sollte, so wie im Märchen wirklich. Hier treffen sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das kann kein Mensch mehr auseinanderhalten, vor allem nicht, was wahr war oder sein wird. Meinst du nicht, daß wir völlig willenlos ausgeliefert sind? Natürlich gibt es gerechtere Autoren, aber nun müssen wir halt das beste daraus machen. Das ist kein Zufall, das ist Willkür.

Autor: Es ist vor allem nicht so leicht, wie ihr euch das vorstellt. Es hat mich sehr viel Mühe gekostet und ich mußte große Stücke von mir selbst schmerzhaft abtrennen, um sie auf das Papier kleben zu können. Das tut weh. Und wenn es dann vor einem steht oder liegt, erschrickt man ganz schön, wenn man merkt, wie häßlich es ist, wie häßlich man selbst ist.

Pandarei: Ich finde es ganz schön.

E s klingelt. E s ist Heinz. E r sieht schlecht aus.

Heinz: Guten Abend. Tut mir leid, wenn ich zu spät bin, aber es geht nicht schneller. Sie haben mich übel zugerichtet.

Nobnoj: Und was ist das? Er hat doch am wenigsten von uns allen so eine Behandlung verdient. Er ist ein grundguter Mensch. Was soll das? Schreib mir diese Verletzungen zu!

Autor: Beruhigt euch doch. Ich habe diesen Zauberstab immer noch in der Hand. Seht selbst.

Heinz verwandelt sich in einen immerjungen, immerschönen Mann.

Heinz: Pandarei, sag mal, habe ich nicht noch etwas gut bei dir.

Böse Blicke aller auf den Autor.

Autor: Tut mir leid. Für alles könnt ihr mir nicht die Schuld geben. Soweit seit ihr schon noch Individuen.

Philemon: Ein schönes Märchen ist das.

Autor: Ich komme aus einer ganz anderen Realität. Ihr würdet euch wundern, wie wenig da möglich ist.

Nobnoj: Erzähl uns mehr davon!

Autor: Naja, irgendwie ist eure Wirklichkeit schon eine ganz gute Abbildung davon, natürlich stark vereinfacht. Haltet ihr mich eigentlich für einen phantasielosen Menschen?

Baßmann: Ich mußte einmal von meiner kleinen Welt erzählen.

Plenten: Und ich mußte Schafkopf spielen.

Pandarei: Glaubst du, du tust mir was Gutes, wenn du der ganzen Welt erzählst, daß ich mir nichts Schöneres vorstellen kann, als am Swimming Pool zu liegen und Cocktails zu trinken. Ich meine, ich brauche keine Gaffer, um das zu genießen:

Philemon: Streich den letzten Satz. Sofort. So etwas brauchen wir uns nicht gefallen zu lassen.

Plenten: Außerdem haben wir Körper. Die wollen auch ihr Recht. Hast du nie daran gedacht? Aber es war schon schwer deine Wohnung zu finden. Gut, daß in Wolkenkuckucksheim jeder weiß, wo der Elfenbeinturm steht.

Autor: Du wolltest Bücher schreiben wie Dostojewski, erinnerst du dich noch? Ich bin kein amerikanischer Autor hinter dem ständig ein Verleger steht und sagt: Schreib "Ficken", schreib "Vögeln". Ich bin auch nicht den ganzen Tag hinter euch hergewesen. Ihr konntet euch sogar die meiste Zeit frei bewegen. Schon mal was von Erzählzeit und erzählter Zeit gehört?

Philemon: Haben sie dir davon in der Schule erzählt?

Autor: Wenn sie mir dort nichts von dir erzählt hätten, hätte ich dich auch nicht zum Leben erwecken können.

Philemon: Hätte mir nichts ausgemacht, war tot ganz schön.

Baucis: Philemon, bitte

Philemon: Nenn mich nicht dauernd Philemon, ich kenne keinen Philemon.

Plenten: Ist Totsein eigentlich jetzt wie ein traumloser Schlaf?

Nobnoj: Jetzt kommt dann gleich, daß es sich hier um ein politisches Buch handelt. Gegen den Kapitalismus, gegen die Ausbeutung der Massen für Frieden und Verständigung unter den Völkern. Mensch, hast du denn nicht gemerkt, daß die Zeiten sich geändert haben? Du bist veraltet. Ich meine, es geht doch darum, daß du langsam erkennen solltest, was in Wirklichkeit in der Welt los ist, du kannst nicht ewig sechzehn bleiben.

Autor: Das kann ich oft genug von Leuten hören, die ich mir nicht ausgedacht habe. Außerdem

kann ich von dir nicht verlangen, daß du verstehst, worum es mir geht, du bist schließlich eine der Hauptfiguren. Jedenfalls kann ich jetzt einiges verlassen, wenn ich euch jetzt verlasse. Bleibt mir wenigstens noch diese wenigen Augenblicke treu, danach könnt ihr machen, was ihr wollt! Ihr seid nicht von dieser Welt.

Heinz: Also, ich finde es ganz in Ordnung.

Plenten: Ich bin der Messias, jeder ist der Messias. Macht was aus eurem Leben! Lebt gut, seid frei, Brüder und Schwestern! Wie lange sollen wir uns das noch anhören? Das macht keinen Spaß mehr. Das ist alles so bitter und zynisch.

Philemon: Laß ihn! Er hat sich Mühe gegeben. Das rechne ich ihm an. Er ist ein Kleingeist, aber ein netter Kerl. Außerdem hat er ein paar Mal versucht, echt zynisch zu sein. Ich habe den Eindruck, daß es ihm Spaß gemacht hat. Hast du nur damit aufgehört, weil dir ein paar Freunde in deiner echten Wirklichkeit gesagt haben, daß das nicht nett ist?

Autor: Ich könnte die letzten Sätze auch streichen.

Baucis: Man muß die Menschen zuerst verachten und hassen um einzelne bewußt lieben zu können.

Pandarei. Mir fällt gerade auf, daß ich mit euch noch ein ernstes Wörtchen zu reden habe. Ich habe mir das ganze nicht einfallen lassen. Ich und mein Freund Plenten haben die ganze Zeit Dinge gemacht, die wir freiwillig nicht gemacht hätten. Aber wir Opfer hätten wenigstens zusammenhalten können.

Philemon: Entschuldige, wenn ich jetzt lache, das ist in der Tat eine sehr ernste Sache.

Autor: Ich wollte doch nur euer Bestes.

Heinz: Natürlich. Langsam reicht es. Du bist nicht mehr witzig.

Autor: Was soll das? Ihr kommt hierher, trinkt mein Bier und macht euch über mich lustig.

Pandarei: Sollen wir dir vielleicht dankbar sein? Dein Selbstmitleid kränkt uns.

Autor: Irgendwas mußte ich doch mit euch anstellen. Ich muß doch auch von etwas leben. Ich kann den Leuten da draußen in meiner Wirklichkeit doch nicht Geschichten davon erzählen, wie meine Protagonisten von Anfang an in der Sonne liegen in tiefster Eintracht und Zufriedenheit und ihr Leben genießen. Jeder von euch hat doch um mehr Tragik gebeten.

Baßmann: Merkwürdige Dinge geschehen uns.

Plenten: Bin ich jetzt eigentlich Elvis oder nicht?

Autor: Mir doch egal.

Philemon: Elvis ist tot.

Pandarei: Sokrates auch.

Baucis: Und Nietzsche und der Liebe Gott.

Alexandra: Wieso soll das eigentlich ein philosophischer Trashroman sein?

Pandarei: Du bis doof.

Autor: So im Nachhinein würde ich das nie mehr zu behaupten wagen.

Nobnoj: Mir tun bloß die Leute leid, die das ganze lesen sollen. Wenn ihr tatsächlich bis hierher kommt, laßt euch sagen: Das hier ist ein Superscheiß, egal was man euch erzählt, gebt ihm keine

Chance.

Autor: Es bleibt Trash, das ist meine Entschuldigung und Philosophie ist was für weltfremde Idioten. Uns Geschichtenerzählern gehört die Welt.

Philemon: Geschichtenerzähler? Das ich nicht lache. Wir gehen. Auf Wiedersehn. Danke für das Papierbier.

Autor: Ich hätte euch jetzt sowieso rausgeschmissen, denn ich habe noch ein Rendezvous mit einer Frau in Weiß, die ich so lange mit meiner Feder wundkratzen werde bis schwarzes Blut aus allen Stellen ihres Körpers fließt und ihre Unschuld entstellt.

Plenten: Unglaublich, du bist nur zweihundert Jahre zu spät geboren, damals hätte man sich über dich noch amüsiert, doch heute ist es nur tragisch und traurig.

Autor: Das ist das Netteste, was sei langem jemand zu mir gesagt hat.

Nobnoj: Frau in Weiß! Ich würde fast wetten, daß du Recychlingpapier verwendest. Unglaublich komisch, daß wir dauernd rauchen mußten, weil du das scheinbar für politisch besonders unkorrekt hältst. Meine kleine Welt. . .

Alexandra: Ich glaube, du mußt noch viel über das Leben lernen, dann kannst du auch gute Bücher schreiben.

Autor: Ich finde, es zeigt von höher menschlicher Größe, wenn ich so einen Satz unzensiert stehen lasse.

Pandarei: Wenn du irgendwann vorhaben solltest, eine Fortsetzung zu schreiben, dann müssen wir uns vorher zusammensetzen. Ich habe ein paar gute Ideen, wie wir das Ganze so aufziehen könne, daß es gut wird.

Autor: Auf Wiedersehn, du Schöne: Ich freue mich.

Philemon: Jaja, die Phantasie, hihi.

Alle ab bis auf Baucis.

Baucis: Nimm das nicht so ernst, die sind jetzt alle betrunken. Denk nicht soviel nach, das ist schon in Ordnung, das machen die wenigsten Autoren.

Autor: Danke, du bist so gut, ich bin stolz auf dich.

Baucis ab.

Hat man da noch Worte? Ähnlich muß sich Gott beim Turmbau von Babel gefühlt haben. Alexandra und ihr Baßmann sind mit dem Auto gekommen. Die kurze Strecke! Sie wissen, es wäre ein leichtes

für mich, sie tödlich verunglücken zu lassen oder sie in eine Polizeikontrolle geraten zu lassen. Genug

getrunken haben sie. Aber mein Freund Jesus kann auch Wein in Wasser verwandeln. Doch das alles

habe ich nicht nötig. Nicht ich.

Liebe Leser, ich bin euch sehr dankbar, daß ihr mir eure Zeit geschenkt habt. Ich werde sie jetzt sinnlos verprassen, so ist das Leben und das Vertrauen. Ich bin jetzt einer von euch, das letzte was ich also brauche ist euer Mitleid, nehmt es und tragt es zurück zur 52. Straße! Ich bin kein zorniger Teenager mehr, die Zeiten sind vorbei. Ich werde jetzt dann ein paar längst überfällige Briefe schreiben und endlich wieder zum Friseur gehen, das bin ich euch schuldig. Reicht mir eure Hände zum gemeinsamen Schluß:

Kastor und Pollux stolperten betrunken über die Milchstraße nach außen. Da lag mitten auf dem Weg die Mütze ihres Vaters, die sie vor Jahrmillionen verloren hatten. Kastor beugte sich zu Boden, um sie aufzuheben, doch Pollux hielt ihn zurück und sagte: "Laß liegen, mein Sohn, laß liegen!"

Doch das ist eine andere Geschichte.