Surreales Panoptikum

Surreales Panoptikum
Uraufführung von Anton Tschechows "Die Nacht vor Gericht"
von Manfred Kunz

Würzburg. Immer für eine Überraschung gut ist das Theater Ensemble, das Off-Theater in der Frankfurter Straße. "Die Nacht vor Gericht" von Anton Tschechow ist wieder mal eine der positiven Art. Willibald Spatz, mit etlichen Inszenierungen in der studentischen Szene kein Unbekannter mehr, hat das bisher nie aufgeführte Stückfragment mit einer Erzählung gleichen Titels verknüpft und für ein erfrischend gut aufgelegtes fünfköpfigen Ensemble in Szene gesetzt. Eine Uraufführung also, die den berühmtesten russischen Dramatiker von einer bisher wenig bekannten Seite, jenseits seiner vier Meisterdramen "Die Möwe", "Onkel Wanja", "Drei Schwestern" oder "Der Kirschgarten“ zeigt.
Spatz setzt Tschechow zwischen Maxim Gorki und Daniil Charms, stellt das Komische, das Groteske, ja das fast Surreale des Textes in den Vordergrund. Und diese Betonung des Unheroischen, Selbstbetrügerischen und des Sinnlosen weist Tschechow als frühen Vorläufer des Absurden Theaters aus.
Schauplatz dafür ist ein spartanisches Matratzenlager einer Poststation irgendwo in der russischen Provinz, ein spärlich, aber effektvoll beleuchtetes Nachtasyl für Gestrandete und Hängengebliebene. Einer von ihnen ist der lebensmüde Arzt Sajzew. Am nächsten Tag soll ihm vor dem Gericht der Kreisstadt der Prozess wegen Bigamie gemacht werden. Thomas Hendel zeigt ihn durchgehend überzeugend als eloquenten Intellektuellen, dessen Lebensgeister durch die Begegnung mit Sinotschka (Silke Kleinschmidt) wieder belebt werden. Die wiederum ist ihres penibel korrekten und gleichwohl leicht trotteligen Ehemannes Gusjew (die nicht einfache Rolle füllt Alexander Blühm nachdrücklich, mit etwas zu viel Lautstärke) überdrüssig.
Im engen Lichtkegel ihrer Taschenlampen entzündet sich der zarte Anfang gegenseitiger Zuneigung, eine vordergründig unmögliche Beziehung zweier hoffnungslos einsamer Menschen. Die in dieser tristen Umgebung genauso scheitern muss, wie sie - bei Licht besehen - an den gesellschaftlichen Konventionen scheitert. Einzig die Dunkelheit, die Nacht, die Zeit in der Gespenster und Lemuren, die Untoten und Wiedergänger die Welt beherrschen, eröffnet die Möglichkeit zur Flucht. Aber auch, von diesen dunklen Geistern droht Gefahr, wartet die Rettung nicht wirklich. Die Befana von Dagmar Holländer verkörpert als schwarzer Engel der Nacht dieses drohend Unheimliche: Sie ist eine Grenzgängerin zwischen den Realitätsebenen, materialisiert sich aus dem Video-Clip in die Bühnenwirklichkeit, um im morgendlichen Dämmern mit den Schatten der Dunkelheit wieder zu entschwinden. Einzig „echte“ Figur in diesem Wechsel der Realitäten bleibt die Postmeisterin (resolut verkörpert von Nadine Antler), die ihren Kampf gegen die Wanzen und anderes Ungeziefer genauso aussichtslos wie erbarmungslos führt.
Es ist ein surreales Panoptikum, in das Regisseur Spatz seine Darsteller schickt. Mit sparsamen Mitteln, gelungenen Lichteffekten, wenig Bewegung, aber genau kalkulierter Raumaufteilung und dem klug dosierten Einsatz von Video (Steffen Deeg) und Musik (Tobias Christl und Ingolf Rein) schafft das Team eine Atmosphäre, in der sich Beklemmung und Heiterkeit geradezu dialektisch verknüpfen. Dass dabei Tschechows oft sehr elegische Sprache in den Hintergrund tritt, nimmt man zu Gunsten der Kurzweil der Inszenierung gerne in Kauf.


Mainpost vom 15. Oktober 2003

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