Salz
Sokrates heißt nicht Sokrates, er nennt sich nur so, weil er es
originell findet. Er liebt Gesellschaft, atmet sie ein. Gut so. Er lädt
zu großen Gastmählern und es bedeutet Ehre eingeladen zu sein,
schließlich ist er geistreich und sein Freunde ebenso.
Man hat ganz hervorragend gespeist und die Herren haben sich ins Billardzimmer
zurückgezogen, um zu rauchen, während die Damen im Ballsaal bleiben
und sich leichter Unterhaltung hingeben.
Es wird Laugengebäck gereicht. „Salzstangen“, spricht Dr. Müller,
ein Psychologieprofessor mit angenehmem Äußeren, der seinem
verdienten Ruhestand in wenigen Jahren entgegensieht.
„Salzstangen“, wiederholt er, weil ihm beim ersten Mal nicht genügend
Aufmerksamkeit geschenkt wurde. „haben Sie sich schon einmal überlegt,
warum wir diese Salzstangen so unbegrenzt in uns reinstopfen können?“
Die Runde wagt nicht zu antworten.
„Früher, wenn Sie verstehen, was ich meine, früher bedeutete
das einen Vorteil, diese Präferenz für Gesalzenes, einen evolutionären.
Einer unserer Vorfahren konnte einst einen unserer potentiellen Vorfahren
ausstechen, weil er mehr Salz aufnahm als der andere, weil´s ihm
halt geschmeckt hat. Wir brauchen Salz zum Leben, kein Zweifel. Und Salz
war damals knapp. Wer Salz hatte, war ein reicher Mann, wenn Sie verstehen,
was ich meine, vorrausgesetzt, er wusste seinen Reichtum zu schätzen.“
Ein anerkennendes Auflachen der Zuhörerschaft wird vom folgendem
unqualifizierten Einwurf erbrochen: „Oder zum Beispiel nur mal die Tiere.“
Der, der so was jetzt sagt, kann nur dick und dumm sein. Der Anzug
sitzt ihm schlecht.
Dr. Müller raucht Pfeife. Sein Tabak verströmt angenehmes
Vanillearoma. Außerdem werden Zigarren, Zigaretten mit Mundstück
und importierte Zigarillos geraucht, aber wenigstens wird geraucht. Auch
recht. Dr. Müller ist bei den Damen beliebt wegen des guten Geruchs,
auch wenn er raucht.
„Schon Jesus sagt: Ich bin das Salz der Erde.“ Theologen wären
zweifellos anwesend, aber der, der das sagt, fällt nicht darunter.
Nur ein Gymnasiallehrer mit grauem, ungepflegtem, vollem Haar, dessen Schnauzbart
aber noch vom einem geradezu erschreckenden Rotbraun ist. Färben tut
der bestimmt nicht, dazu fehlt´s ihm an Eitelkeit: ein rosa Hemd
steckt unter einer hellbraunen Lederjacke, ebenfalls Pfeife, hin und wieder
aber auch Zigaretten, vor allem bei voranschreitendem Abend.
Man lacht laut, da er wegen seiner sarkastischen Offenheit geschätzt
wird.
Dr. Müller fährt fort: „Heute aber, der moderne Mensch, wir
sozusagen, leiden unter unserem ehemaligen Geschmacksvorteil.“
„Oder die Gewürzstraßen.“ Was soll das nun wieder?
„Kreislaufkrankheiten sind die Nummer Eins. Salz treibt den Blutdruck
in die Höhe, wir bekommen Herzinfarkte und sterben. Als die Natur
den Menschen eingerichtet hat, dachte sie sich was dabei, aber was können
wir tun, wenn nun alles das Gegenteil ist, wenn Sie verstehen, was ich
meine.“
„Die Natur tut nichts ohne Grund:“
„Sie lässt ohne gar nicht erst entstehen oder wenn, dann gleich
wieder zugrunde gehen:“
„Was sollen wir bloß tun?“
„Salz der Erde: Das bedeutete damals noch Heil und Reichtum, heute
aber ist es die Rache an unserer Dekadenz, Jüngstes Gericht etc.“
„Man könnte fast sagen, die Religion sei unser Untergang, weil
sie uns zu blindem Salzglauben erzieht, wie es schon in der Bibel steht,
wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sagen!“, ein Theologe.
“Zügeln Sie Ihre Zunge“, der Deutschlehrer mit Applaus.
„Meine Herren, ich übertreibe bewusst.“ Dr. Müller.
„Der Herr Professor übertreibt bewusst, damit haben Sie´s.“
„Bei manschen Völkern mischen sie in den Schnaps noch Gewürze
wegen des Geschmacks.“ Kann nicht endlich jemand diesem Dummschwätzer
das Maul stopfen.?
Die ins Chaotische entfließende Diskussion wird durch die Aufhebung
der Geschlechtertrennung wider in ihre Bahnen gerufen.
„Natürlich könnte ich fortan beim Kochen Schritt für
Schritt immer weniger würzen bis man sich an völlig fades Essen
gewöhnt hat.“
In ihre Mitte ist Frau Perezova getreten, die, vorsichtig ausgedrückt,
Weiblichkeit in Person. Sie trägt ein knappes, trägerloses, feuerrotes
Kleid. Ihre Lippen sind mit violettem Lippenstift magisch umrandet (mit
magischem Lippenstift violett umrandet).
Ich habe keine Lust: Stelle man sich einfach eine tolle Frau vor, die
mit ihren Worten die Mannschaft zum Erliegen bringt.
„Aber, liebe Freunde, wo bleibt die Sinnlichkeit? Mal ehrlich. Das
Feuer, die Leidenschaft? Sterben wir nicht genauso aus, wenn uns das fehlt?
Oder haben Sie vergessen, woher wir alle kommen, was unser Ursprung ist,
die geschlechtliche Vereinigung von Mann und Frau?“
Ganz genau. Dem ist so. Dem ist auch nichts mehr hinzuzufügen.
Alle denken:
Bitte, bitte kochen Sie für mich. Ich will alle Tode der Welt
auf mich nehmen, nur kochen Sie für mich, wie noch keine andere für
jemanden gekocht hat, mit Feuer und mit Flamme.
Keiner wagt was zu sagen.
zum Schluss tritt Sokrates, der Gastgeber, in ihre Mitte: Glatze, Vollbart
im Frack mit Fliege, sichtbarere Genießer, an sich aber unscheinbare
Type:
„Liebe Freunde, schön daß Sie meinem Ruf gefolgt sind und
sich mir bis hierher genähert haben. Begleiten Sie mich nun auch,
soweit es Ihre Phantasie erlaubt, auf einer kleinen Reise in die Zukunft:
alles ist so einget4reten, wie man prophezeit hat: Kein Mensch würzt
mehr seine speisen. alles ist in Plastik verpackt und dient zur Sättigung,
nichts mehr dem Geschmack. Alle sind jung und haben eine riesige Lebenserwartung.
Ich stehe daneben und denke: Das ist so fad hier, lieber möchte ich
verrecken. Und genau das tue ich auch. So, meine lieben Freunde, geht der
moderne Mensch an der Langweiligkeit des noch moderneren zugrunde.“
Alle lachen.
„Salzstangen“, sagt der Trottel von vorhin.