Zum Beispiel Wladimir Sorokin wurde im
Lauf der Zeit mehrmals vorgeworfen und verdankt sicherlich auch einen Teil
seiner Berühmtheit der Tatsache, dass er Schmierfink und Pornograph
sei. Um die Öffentlichkeit vom Gegenteil zu überzeugen, hat er
den Roman „Roman“ geschrieben, dessen Inhalt schnell erzählt ist.
Der junge Mann Roman kommt aus der Stadt zurück aufs Land, lernt die
Frau des Lebens kennen und noch in der Hochzeitsnacht hacken die Frischvermählten
die gesamte Dorfbevölkerung in Stücke mit einer Axt, die ein
Hochzeitsgeschenk war. Namen sind wichtig auf den ersten 500 Seiten, die
nach Tolstoi klingen, damit wir die uns einprägen, die auf den anderen
200 Seiten ausradiert werden.
Lars von Trier liest sicher gern über
sich, wenn einer immer noch schreibt, er sei das Enfant terrible des europäischen
Kinos, aber ganz im Ernst, er weiß längst, dass er anerkannt
ist, dass man Großartiges von ihm erwartet. Trotzdem kommt sein neuer
Film „Dogville“ so daher, als ob er noch etwas beweisen wollte. Die junge
Frau Grace kommt in das Dorf Dogville, hilft den Bewohnern dafür,
dass sie sich verstecken darf, wird ausgenutzt und vergewaltigt und am
Ende werden die Bewohner erschossen und die Häuser niedergebrannt.
Der ganze Film wurde in einer Fabrikhalle bei Göteborg gedreht und
das ist der sportliche Eifer, den Lars von Trier treibt, denn dass darüber
hinaus irgendwelche Regeln eingehalten wurden, kann man nicht erkennen.
Die Wände der Häuser sind Kreidestriche auf dem Boden, allerdings
das Missionshaus hat ein Stück echte Wand, es gibt keine Türen
bis auf die im Laden, die Stachelbeerbüsche sind auf den Boden gezeichnet,
daneben gibt es einen echten Strauch, der je nach Jahreszeit Blätter
oder Blüten trägt, die Mine ist angedeutet durch mehrere Tore,
gegenüber gibt es eine echte Felswand, die Welt endet am Bühnenrand
je nach Tageszeit im Schwarz oder Weiß, allerdings können Autos
raus- und reinfahren und Grace dem blinden Jake ein Fenster nach draußen
öffnen. Auch wird vom Zuschauer eigentlich nicht verlangt einer Theateraufzeichnung
zuzuschauen, denn Blicke auf die gesamte Bühne werden nur noch selten
zugemutet im weiteren Fortschreiten des Films, die meisten Dialoge passieren
in Großaufnahme der Gesichter, nicht sehr theatertypisch.
Der Film hat sich wahrscheinlich anders
entwickelt, zunächst aus der Idee nur Schauspieler in leeren Raum
zu stellen, dann Requisiten hinzuzufügen, die nötig waren, um
nicht albern zu wirken, schließlich, als sich kein klares Konzept
mehr durchhalten lässt, das intelligente Spiel mit dem Minimalismus
aufzunehmen, indem man Unnötiges auch ergänzt. Zum Beispiel sind
die Häuser ja einsehbar durch fehlende Wände, aber dazu kommt
noch ein überflüssiger Erzähler, der sagt, was da passiert.
Damit zeigt Lars von Trier Humor und macht Spaß. Eine Revolution
ist das nicht und das wollte er nicht, sondern sich beweisen als Moralist.
Das ist ihm hervorragend gelungen. Wie Sorokin lässt er sich Zeit,
die Charaktere aufzubauen. Man kann die meisten beim Namen nennen und dann
wird ihnen der kurze Prozess gemacht, wie bei Sorokin. Die haben es nicht
besser verdient, die aus Dogville und wir auch nicht als Menschheit. Wenn
man so denken kann beim Hinausgehen aus dem Kino, dann hat einer was ganz
Großes mit einem angestellt. Jawohl.
Und noch besser, man hat zum ersten Mal
bei einem Lars von Trier-Film nicht das Gefühl mit dem letzten Film
eines Regisseurs zu tun zu haben, so leicht kommt er daher im Vergleich,
so unwichtig, dass es eine Freude ist. Da ist wer wohl schon in Gedanken
beim nächsten Film oder auf der Theaterbühne in Bayreuth.
Willibald Spatz