Früher, das waren noch Kindheiten
und Jugenden, da wurden Schlangen in der Wiege erwürgt, Väter
erschlagen und Mütter geheiratet. In der Zwischenzeit ist die Zivilisation
eingekehrt, seitdem fehlt es etwas, wenn schon nicht an Würze, so
doch an Tragik im Leben. Da muss man schon genau hinschauen, um die Höhen
und Tiefen zu spüren, die es zweifellos noch geben muss, denn woher
kämen sonst die vielen Depressiven?
Der Schweizer Klaus Merz ist so einer.
Ein Hingucker. Er hat seine Kindheitserinnerungen in einem Bändchen,
das Jakob schläft heißt, und nach dem die Konfirmationsgeschenksucher
stark schielen werden, zusammengefasst und ein Elend beieinander, nach
dem sich so mancher Deutscher die Finger lecken würde: Vater Epilepsie,
Mutter Sanatorium kurz, jüngerer Bruder Wasserkopf, Onkel neun Finger
nur und Flugzeugabsturz, aber am wildesten hat es den älteren Bruder
erwischt, der Jakob hätte heißen sollen, aber bereits bei der
Geburt gestorben ist und daher – schläft. Er ist der mittlere Sohn,
der einzige, bei dem, zumindest nach außen hin, alles funktioniert.
Logisch, dass man dann etwas an die Vergänglichkeit denkt bei den
Dingen: Vom Schweinekoben am Anfang des Buches erfährt man, dass er
„eingeebnet“ wurde, von des Großvaters Volieren, dass sie Sandkasten
und Gartenlaube wurden nach dem Brand, vom Fischteich, den der Großvater
nach den Vögeln angelegt hat, dass er bereits „ehemaliger“ ist, von
der Pappel, einem von zwei Bäumen, die der Erzähler lebenslang
gepflanzt hat, dass sie umgemacht wurde am Tag als der Wasserkopf starb.
Das alles ist nicht so geschildert, als wolle es Betroffenheit wecken,
nein, schließlich geht es um die schönste Zeit im Leben: Was
für ein Hallo, als der Onkel Franz den ersten Blaupunkt nach Hause
bringt. „Brunswik stand auf der schwarzen Scheibe, es musste ein anderes
Wort sein für Glück“ und „Als erster begann Sonne, mein kleiner
Bruder, in der Folge seiner langen, ereignislosen Vormittage, das
Herz allmählich an die Ultrakurzwellen zu verlieren.“ Franz
ist der Superonkel, der den Namen Sonne für den behinderten
Kleinen aufwirft, „ohne mich deswegen im Schatten stehen zu lassen.“ Aber
er hat auch seine Seiten, wandert recht nichtsnutzig nach Alaska aus und
hält sich dort zwei Eskimofrauen. Ein echter Mensch halt.
Überhaupt der Umgang mit dem Schmerz,
manchmal vergisst man ihn ganz, zum Beispiel beim Spiel mit einem alten
Eisenbahnwagen. „Daß er [der Wasserkopf] nicht gehen konnte, vergaßen
wir nicht. Aber fahren, fliegen, singen, das wussten wir, das ging.“ Was
soll das jetzt? Mut machen? Ruhig bleiben. „An dieser Strecke übten
wir uns auch früh ins Scheitern unserer gemeinsamen Träume:“
Die Züge entgleisen nicht, denen sie Steine auf Gleis legen. Wirklich.
Klaus Merz ist eines dieser Ich-bin-zur-Zeit-ein-bisschen-komisch-drauf-Mädchen,
von denen man wissen muss, dass ihre beste Freundin gerade vor zwei Wochen
vom Zug überrollt wurde. „Am schwersten taten wir uns in Zeiten
relativer Schmerzlosigkeit. Wir hielten die Latenz neuer Wunden nicht aus,
wandten uns sofort fremdem Leiden zu, das wir jedoch noch weit schlechter
ertrugen als die eigenen Bresten.“ Das ist Dekadenz, zu deren Größe
noch mancher Franzose aufschauen kann. Nicht schlecht.
Der Autor erzählt nicht chronologisch,
eher so wie ein Fotoalbum, das ausgebreitet ist, und seine Erinnerungen
auch mehr assoziativ entfaltet. Aber das ist doch der Beruf eines Autors,
dass er seine Gedanken ordnet, bevor er sie aufschreibt, dafür will
er doch Geld vom Leser, oder?
Der Jahrgang 1946 gehört noch zu
jener Generation, bei der ein Krieg vorkommen muss, damit es gescheite
Memoiren sind. Nun, da hat ein Schweizer etwas schlechtere Karten in der
Hand als ein anderer in der Welt oder Europa. Hier beschert das Schicksal
dem sich Erinnernden eine besonders günstige Fügung. „Marietta
war zwölf Jahre nach dem Krieg aus ihrer südlichen Heimat zu
uns gekommen, um sich ein neues Auge zu verdienen.“ Diese Marietta
ist es, die im einzig lesenswerter Absatz des Buches „mir selbstvergessen
die sieben Geißlein aus meinen kurzen Hosen herausoperierte. So innig
hatte ich später kein Märchen mehr miterlebt.“
Zwänge man jeden Schweizer per Volksbeschluss,
ein Buch über seine Kindheit zu schreiben, käme dabei wahrscheinlich
ziemlich viel Mist raus, auch einiges kaum Lesbares, aber den Platz unter
den zehn Langweiligsten bliebe Klaus Merz sicher. Deshalb, Vorschlag zu
Güte, dem Tod durch Lektüre des Buches keine
Stunde zu schenken, sondern lieber an die eigene Kindheit denken; die ist
garantiert interessanter.
Willibald Spatz
17. Mai 2004