Moritz Rinke – Die Optimisten

Menschen in Extremsituationen auf der Bühne. Auf der Bühne? Auf der Bühne. Das Licht, die Aufregung, die Hitze, die Angst zu versagen, aufgeben zu müssen vor der versammelten Mannschaft und dann aufgefressen zu werden.
Neulich in München. Volkstheater. Hat die Witwe Martin Sperrs dem Regisseur Florian Fiedler verboten, das Stück ihres Mannes, das er inszeniert hat, auf dem Plakat so zu nennen und auch nicht dessen Namen zu erwähnen. Podiumsdiskussion. Haben sie Moritz Rinke dagehabt, um für die Autoren zu sprechen, was er zunächst vergessen zu haben schien, dann aber schon sagte, dass man mit seinen Texten nicht wie mit Steinbrüchen umgehen solle. Zwischenruf: „Dann inszenier doch selbst!“ Interessanter Einwand, der zu der Frage führt, ob denn Stücke aufführbar sein müssen, wenn man sie Regisseuren zum Beispiel in Bochum zur Verfügung stellt. Müssen sie funktionieren? Auf der Bühne oder zunächst nur im Kopf?
Auf den ersten Blick stellt „Die Optimisten“ eine angenehme Situation für eine Bühne dar. Die ganze Handlung spielt in einem Raum, also keine Probleme fürs Bühnenbild, um  verschiedene Ort darzustellen, und ein Raum ohne Ausweg außer in den Tod riecht immer nach Spannung.
Die Figuren werden brav eingeführt; Busfahrer Otto mault über die öffentlichen Verkehrsmittel im Entwicklungsland, die Radiojournalistin Inken schraubt mit ersten Sätzen wie „Wie süß. Wie dick ist die denn?“ die Erwartungen an ihren geistigen Horizont schön niedrig, Reiseveranstalter Tom Stetten benutzt allergieauslösende Anglizismen „Anyway“, dazu eine meditierende Ärztin, ein Filmemacher, der von Projekten redet, ein zwischen Günter Grass und Thomas Mann unterscheidender Alt-68er und eine Studentin, offen für Diskussionen. Wäre man streng, müsste man fragen, ob sich nicht alles Wichtige auch mit weniger Personal sagen ließe, denn die wollen alle unter die Haube oder raus oder überhaupt nicht, und bis das passiert ist, dauert es lange, das wissen wir von anderen Stücken. Stücke, die nur von Beziehungsgeschichten handeln, sind langweilig, welche, die versuchen, ohne sie auszukommen, auch irgendwie. Deshalb darf auch der Alt-68er Kraus die Studentin Carla dem Filmemacher Nick ausspannen und der dafür die Ärztin Maria kassieren und Inken statt einem Mann eine Krise kriegen. Akzeptiert, weil selbst Alt-98er und den Verdacht nicht loswerdend, dass alle guten Geschichten vom Ausspannen handeln.
Ob nun die Globalisierer oder die Gegner oder die, die sich über diese lustig machen, reaktionärer sind, wage ich nicht zu beurteilen und ist mir auch so egal wie – pardon – ein Fahrrad, das in Indien umfällt. Was ich aber sagen kann, ist, dass das Thema in 40 Jahren – Gott sei Dank oder leider – keinen mehr interessieren wird. Zum Beispiel Martin Sperrs Schwulengeschichten auf dem Land in den 60ern müssen heute auch von guten Regisseuren verkauft werden, um Publikum noch an den Rand der Begeisterung zu führen. Also will ich in 40 Jahren nichts hören von Herrn Rinke oder einer seiner Witwen.
Zum Beispiel die Sache mit dem Festsitzen, den Leuten, deren Kleidung am nächsten Tag erscheint, wagen sie einen Ausbruchsversuch. Lagerkoller. Menschen in Extremsituationen. Im Text ist viel Schönes, um das glaubhaft zu machen: Die Leiche von Thomas Matt vor der Terrassentür, die Beleuchtung kommt von zwei Kerzen, die für die Toten angezündet werden. Da hat der Autor Bilder vor Augen, die funktionieren, über die man sich freuen würde, dürfte man sie auf einer Bühne sehen.
Dazu die schönsten Sätze im ganzen Text bisher, zum Beispiel, der von Nick: „Du bist die erste Frau, bei der ich nicht mehr wild klingelnd mit dem Fahrrad durch die Welt fahren muss“ und wieder Nick „Morgen musst du mir den Magen auspumpen und findest nur Nüsse und Angst. Und eine beginnende Welt für Maria.“ Das Beste aus der Situation gemacht und dafür verdient er die Frau auch, obwohl danach nur noch das Tier, Sätze über Kommunismus und der Tod kommen. Aus der schönen Apokalypse wird eine fade. Aber ich glaube, das Thema interessiert mich heute schon nicht mehr, egal von welcher Seite man sich ihm nähert. Ist das jetzt politisch unkorrekt?

Willibald Spatz
2. Dezember 2003

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