Volkstheater – was ist Volkstheater? Die
Frage, die Journalisten ihm am häufigsten stellen, kann Christian
Stückl, der Intendant des Münchner Volkstheaters, nicht beantworten,
noch nicht. „Ein Theater, das den Leuten gefällt vielleicht.“ In Berlin
gebe es eine Volksbühne, doch die sei schlecht mit dem Volkstheater
hier in München vergleichbar. Denn die Zeiten, in denen das Publikum
aus den Aufführungen getrieben wurde, sind vorbei, das könne
sich heute niemand mehr leisten. Er zitiert dabei Heiner Müller „Die
Qualität eines Stückes kann man daran messen, wie schnell man
es schafft, dass der letzte gegangen ist.“ Nun, das sei heute nicht mehr
richtig. Tatsache ist, dass das Volkstheater neben einer soliden Auslastung
sich immer durchaus positiver Publikumsreaktionen erfreuen kann. Nur einmal,
bei der Titus Andronicus-Inszenierung 2002, der ersten von Stückl
als neuem Intendanten, sind aus der Premiere 180 Zuschauer gegangen. „Ein
Warnschuss, die Zuschauer wollten zeigen, dass sie sich das nicht bieten
lassen; die meinten, es gehe weiter wie bei Ruth Drexel.“ Die war seit
1988 die Intendantin bis dahin und hatte außerdem 1983 das Volkstheater
eröffnet mit ihrer Inszenierung von Karl Schönherrs Glaube und
Heimat mit Hans Brenner in der Hauptrolle.
Gegen den Bauernschwank und bayerische
Mundart hat der geborene Oberammergauer von Haus aus was. Aufführungen
solcher Stücke in seinem Heimatort waren ihm zuwider, „denn die Oberammergauer
dachten immer, sie seien was Besonderes wegen der Passionsspiele. Wenn
man nur ein paar Kilometer weiter gefahren ist, in die nächsten Orte,
konnte man Bauerntheater erleben, wie es sich gehört: Die aus dem
Dorf stellen sich auf die Bühne und spielen was mit Witz.“ Er selbst
hat mit 20 eine Laienspielgruppe gegründet und Woyzeck und Shakespeare
gespielt und ist damit „ziemlich gut“ angenommen worden.
Christian Stückls Weg zum Theater
führte über seine Familie. Sein Großvater hatte daheim
eine Gastwirtschaft, in der die Schauspieler der Passionsspiele, zu denen
auch einige nahe Verwandte gehörten, nach der Probe einkehrten. Schon
mit sieben Jahre habe er damals den Wunsch geäußert, da mitzumachen.
„Aber daran erinnere ich mich heute nicht mehr.“ Dieser Wunsch wurde wahr,
1990, mit 25 Jahren, übernahm Christian Stückl die Leitung der
Passionsspiele. Damals war er Regieassistent an den Münchner Kammerspielen.
Danach wurde er von Dieter Dorn als Hausregisseur fest übernommen.
Und auch 2000 war er der Chef der Passionsspiele und konnte eine Neufassung
des Textes durchsetzen, die er mit Otto Huber erarbeitet hatte und der
vor allem antisemitische Anspielungen, die die bis dahin verwendete Textvariante
enthielt, fehlen.
2002 ist das Jahr eines besonderen Höhepunkts
seiner Karriere: Er inszenierte in Salzburg den Jedermann neu mit Veronica
Ferres und Peter Simonischek.
Den Mann hat das Theatermachen früh
gepackt und nicht mehr losgelassen, einmal ist es ihm sogar schon zum Verhängnis
geworden. Als er bei den Benediktinern in Ettal auf dem Gymnasium war,
habe er zwei Wochen die Schule geschwänzt, um Kostüme für
ein Krippenspiel zu machen. Die Eltern seien im Urlaub gewesen, das Haus
der Tante, bei der er in Ferien war, habe er am Morgen verlassen, um dann
gegenüber im Elternhaus sein Nähwerk fortzusetzen. Mittags kurz
zur Tante zum Essen, 15 Minuten Hausaufgaben machen simulieren und schon
wieder am Faden. Die Lehrer damals hätten gelacht, sogar gelobt, das
sei der schönste Grund, weshalb jemals jemand von der Schule habe
geworfen werden müssen.
Christian Stückl sagte gleich am
Anfang seiner Intendanz, er werde mit Baumbauer von den Kammerspielen und
Dieter Dorn „wie in der Bundesliga den Regisseursmarkt abgrasen“. Im Volkstheater
gibt es so immer wieder was um die Inszenierungen zu erzählen, das
interessanter ist als interne Plaudereien. Bei den Räubern habe der
Regisseur Marco Kreuzpaintner nach vier Wochen Probenarbeit das Schiff
verlassen. „Da hat die Chemie mit den Schauspielern nicht gestimmt.“ Stückl
selbst rettete damals, was noch zu retten war und wer das Ergebnis heute
anschaue, könne nicht mehr unterscheiden, von wem was sei. Beim Spekulieren
hat man als Zuschauer trotzdem sein Vergnügen. Kreuzpeintner, eigentlich
ein Filmemacher, habe damals in einem Kneipengespräch überzeugen
können, mit den Räubern eine interessante Geschichte anzufangen.
Es gehe also nicht darum, Schulklassen mit den Stücken anzulocken,
sondern Stoffe auf die Bühne zu bringen, die die Regisseure an sich
interessieren. Schulklassen trotzdem willkommen.
Oder sie Sache mit Sperr. Ein junger Regisseur,
Florian Fiedler, entschließt sich Martin Sperrs Jagdszenen aus Niederbayern
aufzuführen. In bester Absicht streicht er den Originaltext um einiges,
und die Witwe des verstorbenen Autors will die Aufführung verhindern.
Sie gewinnt immerhin so weit, dass der Name ihres Mannes nicht mehr genannt
wird und das Stück nun Nieder Bayern heißen muss. Die Inszenierung
und Diskussion um sie lädt weniger dazu ein, darüber nachzudenken,
was Regisseure mit den Vorlagen von Schriftstellern anstellen dürfen,
sondern eher darüber, ob die, die nicht müde werden nach Werktreue
zu schreien, nicht einem Phantom nachträumen. Jedenfalls wundert sich
nicht nur Herr Stückl zurecht, wenn in einem Zuschauerbrief der Vorwurf
steht, das Volkstheater habe ein Problem mit der Homosexualität.
Dem toten Sperr ist man deswegen nicht
böse, wäre auch schwer nachvollziehbar bei einem Mann, der zu
Lebzeiten auch schon viel mit dem Volkstheater zu tun hatte. Vor allem
mit Ruth Drexel verband ihn viel. Mit ihr hat er in den 70ern in einer
Wohngemeinschaft gelebt. In der Zeit entstand „Mattias Kneissl“, ein Film,
zu dem Sperr das Drehbuch lieferte, Ruth Drexel und Fassbinder wirkten
mit. Zu seinem ersten eigenen Stück, Der Räuber Kneißl,
ließ sich Christian Stückl von eben diesem Drehbuch von Martin
Sperr inspirieren, das selbst so nicht auf eine Bühne gebracht werden
könne. Ob er noch mal zur Feder greife, wisse er noch nicht. Hier
übrigens darf doch Bayerisch gesprochen werden, weil Stückl unbedingt
wieder mit den Jungen Riederinger Musikanten zusammenarbeiten wollte, mit
denen er schon die Geierwally produziert hat, ebenfalls Mundart, der größte
Erfolg, den das Volkstheater in seiner Zeit bisher hatte. Die Geierwally
fand er zunächst beim Lesen wunderbar, dann beim zweiten Mal furchtbar,
beim dritten Mal wieder gut, und jetzt steht sie seit der letzten Spielzeit
auf der Bühne.
Ähnlich sei es ihm gegangen bei Die
Ziege oder wer ist Sylvia?, seiner letzten Regiearbeit. Eine Komödie
von Edward Albee, die kurz zuvor eine bei der Kritik gut angekommene deutsche
Erstaufführung hatte im Wiener Akademietheater unter der Regie von
Andrea Breth, übrigens mit Peter Simonischek in der Hauptrolle. Diese
Aufführung hat Christian Stückl sich vorbehalten für einen
„Betriebsausflug“ nach der eigenen Premiere, weil die konzentrierte Probenarbeit
die Störung von außen nur wenigen Auserwählten erlaube.
Man darf also weiter gespannt sein auf
die weiteren Projekte des noch lange nicht müden Christian Stückl.
Seinen eigenen Stil hat er gefunden, und vielleicht wird dieser noch Maßstäbe
setzen im deutschen Theaterraum.
Willibald Spatz
24. Januar 2004