16 Jahre

Geschenkte Zeit, verschenkte Zeit, geschenkte Zeit verschenkt. Verprasst. Jedem, der gerade vorbeigedackelt ist, nachgeschmissen. Keiner hat viel gehabt von dem bisschen geschenkter Zeit, nur ein paar Stunden, manchmal nur ein paar Minuten, alles in allem waren es aber 16 Jahre fetter, praller, mit Leben gefüllter Zeit gewesen. 16 Jahre, Alter. Was könnte man mit 16 Jahren alles anstellen, wenn sie einem noch mal gegeben wären, auf einmal. Alles könnte man noch mal. Die Welt. Lächerlich. Ein paar mal die Welt. Das ganze Universum.
Scheiße gebaut vor 16 Jahren, selbst 16 gewesen, stark gewesen, viel stärker als jetzt zum Beispiel und nicht allein gewesen, zusammen sogar noch stärker gewesen. Und komm bloß nicht mit so einem Schuldding an. Schuld. Wenn er das Wort schon hört. Dauernd sollst du alles im Griff haben. Jeden Millimeter schon geplant haben. Alles, was passieren kann, im Kopf haben. Nicht mal Jesus konnte das, auch wenn er später behauptet hat, die Sache mit dem Kreuz sei von Anfang an der Plan gewesen. Klar. Aber gut verkauft hat er es hinterher. Jesus war ungefähr so alt wie er, als ihm die Sache mit dem Kreuz passiert ist. Ungefähr heißt, dass er noch ein Jahr Zeit hätte, wenn er Jesus wäre, was er definitiv nicht ist. Und ein Jahr Zeit hat er auch nicht mehr. Ans Kreuz muss er in Kürze, vielleicht heute Nachmittag, vielleicht auch erst morgen früh. Wobei das Kreuz ja nicht das Schlimme ist, wenn man eine gute Geschichte hat. Aber die hat er auch noch nicht.
Jetzt noch ein klitzekleiner, aber doch entscheidender Unterschied zum Jesus. Der hat am Schluss nämlich gesagt: „Vater, warum hast du mich verlassen?“ Bei ihm wird’s andersrum laufen. Zu ihm kommt der Vater zurück. Der wird wissen wollen, was er aus den 16 Jahren gemacht hat, die er ihm geschenkt hat, als er für ihn in den Knast gegangen ist.
Alles blöd gelaufen seinerzeit. Da waren sie stark gewesen. Also stark waren sie immer gewesen, aber in dem Fall haben sie es raushängen lassen, waren laut gewesen, haben Rabatz gemacht, und auf einmal stand da eine Alte vor ihnen im Hausgang, die hat insgesamt nicht mehr viel Zeit gehabt, ein paar Restjährchen, wenns gut gegangen wäre, wahrscheinlich aber eher Monate, wenns nicht schon am selben Abend überm Cognäcchen rum gewesen wäre. „Was soll der Radau?“, will sie wissen. Und es ist ganz einfach so: Wir sind drei 16-Jährige, das beantwortet zunächst mal alles, und du bist ein altes Mütterchen, das besser nichts mehr zu melden hat, sonst... Ja, was sonst?
Der Radau galt damals nicht mal ihr, da wohnte eine Familie in dem Haus, der man ein bisschen Angst machen wollte, die waren einem blöd gekommen. Und wenn dir damals einer blöd gekommen ist und damit durchgekommen wäre, dann wäre er dir noch mal blöd gekommen und noch mal und noch mal. Das geht gar nicht, am Schluss bist du nämlich der Blöde. Willst du der Blöde sein und das auch noch am Schluss? Nein. Wenn du der Blöde bist, dann ist das nicht der Schluss, dann kommt noch was.
Was die euch getan haben, will sie wissen. Das geht sie nichts an, und das kriegt sie gesagt. Jetzt geht’s erst richtig los. Sie erzählt vom Krieg und weiß der Teufel was und von früher und dass die Jugend seinerzeit und so weiter. Jedenfalls kein Text, den keine Jugend zu keiner Zeit hören will und doch immer wieder hören muss. Die drei jungen Männer gehen die paar Stufen hoch und bauen sich vor dem alten Mütterlein auf, damit die kapiert, dass sie sich gerade im Ton vergreift und wenn sie jetzt den Schritt zurück in ihre Wohnung gemacht hätte und die Tür geschlossen hätte, wäre nichts passiert. Sie hätte noch durch den Türspion beobachten müssen, wie einer der Jungs ihr auf den Fußabstreifer pisst und dann nur noch den Schock mit einem Cognäcchen hinunterspülen können. Das wärs gewesen für heute. Aber nichts dergleichen, vor lauter Demenz und Zeug im Kopf meint sie, wer ein paar Bombennächte überlebt hat, kanns 60 Jahre später auch mit ein paar Jugendlichen aufnehmen. Sie zetert und verheddert sich in Worten, die sie konfus immer wieder ausspuckt. Jugend und Unverschämtheit, auch der Führer wird erwähnt, und im Schwall der Worte sind immer mehr Spucketropfen. Die treffen den einen, den Dicken, von den jungen Leuten. Der ist verunsichert und angeekelt gleichermaßen. Muss er sich jetzt auch noch von alten Weibern anspucken lassen, weil denen zufällig der Radau nicht passt, den sie in ihrem Hausgang veranstalten? Nein, muss er nicht. Da hat er die Situation übernommen, ist auf die Alte zu und hat sie – nur leicht – ein bisschen angestupft. Die kreischt und stolpert zurück in ihre Wohnung. Hilfe, Hilfe et cetera, schreit die Nachbarschaft zusammen. Die Sache ist kurz vorm Eskalieren. Da hätte auch ein Vernünftiger was unternommen. Sie sind zu dritt rein und haben die Tür hinter sich geschlossen.
Man kann gar nicht sagen, ob einer von ihnen noch mal ernsthaft an die Dame rangekommen ist. Ziemlich wahrscheinlich ist sie von selbst irgendwo blöd über etwas gestolpert in ihrer Senioren-Wohnung, die nach Kölnisch Wasser und Moder gestunken hat und vollgerümpelt war mit katholischem Kitsch: Madonnen-Statuen und Jesusbilder und so weiter, umwickelt von Rosenkränzen, deren Perlen noch echt Elfenbein waren. Schon allein deswegen hat sie es verdient, dass sie mitten in ihrer kleinen Küche, wo auf dem Herd noch ein Töpfchen mit zwei bescheidenen Kartoffeln vor sich hin köchelte, dass sie in dieser Küche hinfiel. Bauzdi, volle Granate ans Tischeck.
Scheiße. Besser kann man die Lage gar nicht zusammenfassen. Die drei schauen sich an. Wer wars jetzt wirklich? Kann man nicht sagen. Das soll die Polizei herausfinden, ist schließlich ihr Job. Aber Scheiße. 16 Jahre alt und da liegt eine Alte tot vor ihnen. Was soll denn das noch für eine Zukunft werden? Die Alte hats gut, die hat ihre Zukunft gehabt, die hätte sich gar nicht so aufregen müssen. Die Polizei. Was sollen die jetzt machen?
Sie haben die Polizei geholt. Sein Vater war bei der Polizei. Der ist gekommen, allein, und hat gesagt, er regle das. Das geht schon, er habe Ideen und Methoden. Ums kurz zu machen: Es wäre auch beinahe gut gegangen, aber dann ist es doch schief gegangen, wie es sich fürs echte Leben gehört. Dann war er wieder auf einmal 16 und die ganze Zukunft im Arsch. Das hat dann auch der Vater geregelt. Gesagt, er wars. Geglaubt hat man ihm. Wieso auch nicht?
Jetzt sind wieder 16 Jahre rum, und der Alte kommt wieder. Sie lassen ihn raus. Der Kontakt war nicht mehr so intensiv gewesen in der letzten Zeit. Das schlechte Gewissen, nicht wegen der alten Frau, das ist passiert, sondern wegen dem alten Mann, der der Vater inzwischen geworden war. Der hat da drin gar nichts mitbekommen von der ganzen Technik, die sich inzwischen entwickelt hat. Allein das Internet, das war ja damals ganz neu.
Er weiß auch nicht, ob der Alte weiß, wohin er jetzt gehen kann. Deswegen geht er davon aus, dass er früher oder später hier auftauchen wird. Ein Asyl für ein, zwei Nächte, bis er was hat. Was kommt, weiß keiner von ihnen beiden, vielleicht werdens mehr als die ein, zwei Nächte. Solange müssen sie sich miteinander arrangieren. Wenn er erst wieder draußen ist, dann kann man den Kontakt wieder einschlafen lassen.
Wird er was essen wollen? Was soll er ihm zu trinken anbieten? Hat er das Bier vermisst? Der Sohn hat vorgesorgt. Im Kühlschrank ist was. Fertigpizza, Cola, Bier, Wodka, Fanta. Er ist auf alles eingestellt. Nur nicht auf die Frage, was er nun selbst aus sich gemacht hat in der Zwischenzeit. Viel abgebrochen, viel verschusselt, viel einstecken müssen, an die falschen Typen geraten, das falsche Zeug geschluckt, dran beinahe mal krepiert; selbstverständlich an die falschen Frauen geraten, die, die meinen, so einen wie ihn, der schon am Boden liegt, auch noch ausnehmen zu können. Eine hätte ihm beinahe ein Kind angedreht. Hätt schon sein können, dass er der Vater ist, wusste er damals nicht so genau, aber dann ist er drauf gekommen, dass sie ihn verarscht haben, sein letzter bester Kumpel und die Frau. Das hat ihm den Rest gegeben. Mit den Menschen konnte er daraufhin nichts mehr anfangen. Arbeit bedeutet Menschen, damit hat er es dann auch sein lassen. So einer wie er braucht nicht viel. Ein paar Euro zur Fressen und Saufen und ein einigermaßen brauchbares Internet. Das war immer drin.
Es wird früh dunkel. Er schaut in letzter Zeit nicht mehr so oft aus dem Fenster. Heute schon, heute erwartet er noch jemanden und da fällt ihm eben auf, wie früh es dunkel wird zu dieser Jahreszeit. Aus dem Dunkel schält sich keine vertraute Gestalt und nähert sich seiner Wohnung. Schon seit Stunden nicht. Er ist sich auf einmal fast sicher, dass keiner mehr kommen wird heute. Wenn er heute nicht kommt, dann kommt er nicht mehr, dann ist er anderswo untergekommen. Was sich komisch anfühlt. Dann ist auf der ganzen Welt niemand mehr, der sich einen Dreck um ihn schert. Einsam ist er schon lange, jetzt ist es ihm zum ersten Mal bewusst: Da ist keiner mehr.
Zeit vergeht. Er benutzt sein brauchbares Internet. Eine tolle Erfindung. Verlangt so wenig und gibt so viel. Er könnte noch Stunden hier verbringen und die faszinierenden Filme anschauen, die andere Menschen dort platziert haben. Diese guten Menschen. Da meldet sich sein Körper. Er hat Durst. Keine große Sache, er kann sein Gesicht unter den Wasserhahn hängen und schlucken. Aber er muss nicht, er hat ja eingekauft. Wenn jetzt eh keiner mehr kommt, was soll er dann mit dem Zeug in dem vollen Kühlschrank machen? Monatelang aufheben für einen besonderen Moment? Er hat Wodka, er hat Mische – Cola und Fanta. Er hat heute nichts mehr vor und morgen auch nicht. Der Rest des Lebens kann beginnen. Er hat saubere Gläser, er ist vorbereitet. Er mischt sich einen Wodka Spezi, ein flotter Dreier.
Es klopft an seiner Tür, als er zum ersten Schluck ansetzt. Keiner hat unten geklingelt. Jemand ist so ins Haus gekommen und klopft nun an seiner Tür. Er stellt das Glas ab und hält den Atem an. Es klopft noch einmal.
„Mach auf. Ich habe das Licht gesehen.“
Er schenkt ein zweites Glas ein und öffnet die Tür.
Er ists, schaut ein bisschen müde drein, ansonsten ganz normal. Alles normal wie immer. Sein Blick wandert über die Schultern des Sohns in die Wohnung. Wie lebt er? Lebt er allein? Verkommt er?
Er wird hereingebeten. Er darf sich hinsetzen und seine Last ablegen. Er bekommt ein Glas mit Spezi und Wodka.
Sie stoßen an. Aufs Wiedersehen
„Wie wars im Gefängnis?“
„Passt schon. Und wie wars in der Freiheit?“
„Ganz gut.“

8. Dezember 2019

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