Wo unser Essen herkommt

Eine Erkundung am eigenen Leib


Und man könnte noch viel Zeit verlieren damit, immer und immer wieder zu betonen, dass die Menschen zwar weiter alles in ihren Mund stopfen, sich aber einen Dreck darum kümmern, woher es kommt, ob es durch die Augen, durch die es geblickt hat, eine schöne Welt sehen durfte oder einen besudelten Stall. Was hülfe es? Essen ist verpackt, so tritt es einem entgegen. Im Supermarkt, beim Metzger. Die würden einen auslachen, bäte man sie, einen an den Ort des Schlachtens zu führen, nur um auszuprobieren, ob man danach, nachdem man das alles betrachtet hat, immer noch denselben Hunger hat, nachdem man mitfühlen durfte, was für Leid nötig ist, damit es einem schmeckt. Das geht halt nicht; die Angestellten der Schlachthöfe kämen gar nicht mehr dazu, ihren Dienst zu erfüllen, wären ständig gewissensvolle Bürger zwischen ihnen unterwegs, die sagen: „Ich esse nur noch, wenn ich das ertrage, wenn ich das nicht ertrage, habe ich es auch nicht verdient zu essen.“ Auch wäre es sinnlos, böten diese ihre Hilfe an, denn Schlachten ist eine Kunst, ein Handwerk, ein ungelernter Schlächter verdirbt zu leicht das Fleisch, man müsste gleich mehrere Kälber mehr am Tag schlachten, damit dieselbe Menge Mensch satt wird, alles unnötiges Leid. Man soll schließlich nichts kaputt machen, was man nicht kaputt machen muss.

Als Verbraucher kann man also nur entweder beschließen, dass es einem fortan egal ist, was man isst, Hauptsache es schmeckt irgendwie, oder man kann beschließen, dass es einem fortan überhaupt nicht mehr egal ist, was man isst, und nur noch das essen, von dem man weiß, dass es keinem weh tun konnte beim Hergeben oder man sucht draußen selbst nach dem Fleisch, schaut der Natur über die Schulter bei der Herstellung und einem befreundeten Jäger bei der Ernte.

Dritte Möglichkeit: Jagdausflug. Ernsthaftes Jagen bedeutet Hege. Hege bedeutet am Ende einen Dienst am gejagten Wild. Das gejagte Wild profitiert, muss nur während der Jagdzeit ein paar Leben hergeben, wenig Leben für viel Profit. Die Rehe und Hirsche richten viel Schaden an im so genannten heimischen Wald. Sie fressen, wenn sie winters nichts mehr finden am Boden, die Triebe junger Bäume, die dann im kommenden Frühjahr zu schwach sind, um hochzukommen und meistens absterben. Ein Jäger, der seine Aufgabe ernst nimmt, wird im Winter in seinem gepachteten Waldstück an bestimmten Stellen das Wild füttern. Die Tiere kennen diese Stellen und kehren immer wieder dorthin zurück, wenn sie hungrig sind, und verschonen deshalb die jungen Bäume. Sie vermehren sich nun nahezu ungebremst, weil sie gut versorgt sind und in unseren Wäldern die natürlichen Feinde – Adler, Wolf, Luchs – kaum mehr vorkommen. Die einzige wirkliche Gefahr, die Rehen oder Hirschen droht, abgesehen von den Kugeln der Gewehre, ist beim Überqueren einer Straße überfahren zu werden. Aus irgendeinem Grund werden diese Tiere aber nicht mitgezählt, wenn man jedes Jahr ermittelt, wie viele Tiere in einem Jagdrevier gestorben sind, und, auf Grundlage dieser Zahl, die Abschussquote fürs kommende Jahr festlegt. Es kann sein, dass deswegen ein Jäger mehr schießen muss, als er schießen will. Die Quote muss durchs Gewehr oder durch eigenständiges Verenden erfüllt werden, die überfahrenen werden weggeräumt und dann übersehen. Wenn es ganz dumm läuft, gibt es dann zu wenig Tiere im Wald, und der Jäger muss im Winter umso mehr hegen, was kostet Geld und Zeit. Das ist eine Regel, gegen die jeder ist, der mit ihr zu tun hat, aber gegen die man nichts macht, weil man es halt schon, seit man denken kann, so gemacht hat; – nur weil etwas angeordnet wurde, als es noch weniger Autos gab als heute, kann man es nicht abschaffen, müsste man es doch nur sinnlos wieder einführen, wenn es wieder so wenig Autos gibt wie einst, weil zum Beispiel kein Deutscher mehr einen Arbeitsplatz hat und kein Auto mehr kaufen kann respektive muss, weil er ja keinen Arbeitsort mehr aufsuchen muss.

In der Zeit, die Schon- genannt wird, soll der Jäger nicht schießen, sondern nur hegen. Das kann Spaß machen, denn man kann dabei das Wild beobachten, ohne zu fluchen, wenn es abhaut, weil es einen bemerkt hat und man wieder nicht zum Schuss gekommen ist. Das macht jetzt nichts, denn wäre man zum Schuss gekommen in der Schonzeit, müsste man die Leiche beseitigen, ohne dass allzu viele davon mitbekommen, andernfalls man seine Lizenz riskierte.

Wenn man in Schonzeiten trotzdem schießen will, soll man sich an Tiere halten, die von Schonzeiten ausgenommen sind: Kaninchen, Waschbären, Marder und Füchse. Füchse an sich sind super für den Wald, werden aber auch immer mehr und machen andere Tollwut-krank oder tragen den nach ihnen benannten Bandwurm in sich und verteilen ihn großzügig. Deshalb darf man Füchse immer schießen und so viel man will – es gibt von ihnen genug, keinem wird einer weniger fehlen. Füchse isst man nicht, Füchse kann man auch nicht so zubereiten, dass sie jemand essen würde. Wir Deutschen tun uns hart mit Tieren, die nur Fleisch essen, die essen wir nicht, die lassen wir in Ruhe ihr Fleisch essen. Die Füchse, die wir schießen, schießen wir in gewisser Weise zur Hege und weil wir sie ständig schießen dürfen, weil in unser Füchse-Schießen keine Obrigkeit hineinredet. Aber Füchse sind keine Fliegen, sind sogar richtige Säugetiere, die verletzt herzzerreißend winseln können und uns anschauen und um Erlösung betteln können mit ihren Blicken und ihrem Winseln. Wer es schafft diesen Blicken standzuhalten, wer es schafft, diesem Wesen den finalen Stoß zu setzen, der kann das auch bei einer Kuh, einer Sau oder einem Hasen. Der soll ruhig Fleisch essen, der könnte es sich auch selbst erlegen, wenn es noch nicht im Supermarkt verpackt vor ihm liegt.

Auf Fuchsjagd: Es ist Winter, es ist still, man watet durch Schnee, man hört jedes Geräusch, man hört sich atmen. Man erreicht den Unterstand und setzt sich zu zweit, der Jäger und sein beobachtender Freund, hinein. Man ist sich nahe, verschnauft und sucht konzentriert den Waldrand ab, von dem einen fünfzig Meter freies Feld trennen. Die Augen gewöhnen sich daran, auf die richtigen Bewegungen zu achten, nicht bei jedem Ast, den der Wind streift, zu verkrampfen und angespannt die Beute zu erwarten. Es wir kalt werden, wenn wir hier zwei Stunden sitzen werden. Es gibt keinen Schnaps und kein Feuer. Man wird keine zwei Stunden hier warten, Füchse kommen hier oft vorbei, sie werden schneller geschossen. Man flüstert. Flüstern darf man, das stört die nicht, deswegen kommen sie trotzdem hier raus aus dem Wald, um erschossen zu werden. Jeden Tag schießt ja nicht einer, meistens sind sie hier ja sicher, wenn sie aus dem Wald kommen, die alten Bandwurmdschleudern.

Jetzt muss man erwähnen, dass der Jägerstand, in dem die zwei Herren sitzen, ein ein mal ein Meter großer Kasten auf der Wiese ist, der an zwei Seiten je einen kleinen Schlitz besitzt, durch den der Jäger sein Wild erspähen und im gegebenen Fall auch erschießen kann. Hat der Herr Jäger einen Freund dabei, ist der Quadratmeter Kasten eng. Kommt ihm ein Tier vor den Schlitz, durch den sein Gewehrlauf gerade nicht ragt, muss er sich sehr anstrengen, schnell den Lauf durch den richtigen Schlitz zu jagen und den Schuss rechtzeitig anzubringen, ansonsten er viel fluchen muss, weil er zu langsam war und das Tier, das so schön den Wald verlassen hatte, um abgeknallt zu werden, es sich anders überlegen konnte und in den Wald zurückkehrte, um seiner Fuchsdame einen Neuanfang vorzuschlagen. Der Freund des Jägers, der Gast, schaut betreten zu Boden, er weiß, es war seine Schuld, die Kiste ist zu eng für sie beide, seine Jacke ist Synthetik und raschelt wie ein Gewitter im Sommer, das nächste Mal muss er eine andere anziehen, etwas aus einem echten Stoff. Der Freund hört die Vorwürfe seines Jägers, ist reuig, freut sich heimlich, dass es ein nächstes Mal geben wird, und bemerkt aus dem Augenwinkel heraus, dass ihnen soeben ein zweites Tier, das sogar aus dem Loch, aus dem das Gewehr jetzt droht, hätte erschossen werden können, durch die Lappen flitzt. Er erwähnt nichts davon seinem Jagdkameraden gegenüber, er sorgt sich zu sehr um dessen gute Laune, doch schon bemerkt der Jäger ihn selbst, den roten Genossen, wie er zwischen den jungen Fichten verschwindet, ohne sein Fell durch einen eineinhalb Zentimeter dicken Einschuss ruiniert zu sehen.

„Scheiße!“, schreit der Jäger aus voller Brust, ja, mit einer richtigen Leidenschaft, so dass der Freund denkt, der wahre Grund ihres Wegs hier hinaus liege darin, einmal so ganz von Herzen „Scheiße“ zu sagen, und er sagt es auch und fühlt sich leichter und freier danach.

Danach kehrt wieder Ruhe ein. Der Wald liegt stumm im Schnee vor ihnen, Sterne glitzern über ihnen, kein Vergleich mit der Großstadt, eine Ruhe, gegen die Weihnachten nichts ist.

Ein Fuchs kommt noch, er kommt vors falsche Loch, er könnte derselbe sein, einer von denen vorhin, und versuchen, die beiden Jäger zu ärgern. Aber die haben ihren Frieden eben gefunden, strecken nur noch pflichtschuldig einmal das Gewehr aus dem anderen Loch und beschließen dann aufzubrechen.

Auf dem Weg zum Wirtshaus sehen sie noch einen Fuchs ihren Weg kreuzen mitten auf der Straße, in seinen wilden Augen reflektiert der Scheinwerfer des Autos. Die beiden halten an und legen noch einmal an. Der Fuchs geht langsam – man bildet sich ein, er zucke mit seinen Schultern – von der Straße, als ob er sagen wolle: Diesmal ist es unentschieden ausgegangen, ihr habt keinen von uns gekriegt, dafür leben wir jetzt noch eine Weile ungehegt.

Im Wirtshaus fragt der Jäger seinen Freund, ob er noch was essen wolle. „Nein“,sagt der, wolle er nicht, meint aber, dass er ab jetzt in Zukunft viel mehr noch essen wolle, weil er jetzt auch einmal draußen war, dort, wo geschossen wird und sein Essen herkommt. Das kann er den Eiern im Supermarkt jetzt auch jederzeit erzählen. Sie trinken ein, zwei Biere, und es kommen andere an ihren Tisch, denen sie erzählen, dass sie nicht drei, sondern neun Füchse gesehen haben und dass sie keinen davon erwischt haben, aber alle beinahe. Die anderen schütteln den Kopf. Sie haben ja keine Ahnung, wie es da draußen zugeht, dort, wo ihr Fleisch herkommt.