Indianer

Endlich haucht der Frühling seinen Saft aus, hat sich das letzte Grün herausgepresst. Der Druck sinkt: Zum Verlieben ist es zu heiß, die Baggerseen schämen sich nicht mehr ihrer Temperaturen, uns zu erwarten. Endlich sind die Nächte im geschlossenen Raum vorbei, ab jetzt ist der Himmel unsere Decke, die ganze Welt unser Aschenbecher, wir übernachten im Freien, zählen Sterne statt Schafe und schleichen uns, wenn die Feinde schlafen, an ihren Lagerplatz und klauen ihnen die letzten Fetzen Fleisch vom Rost. Wir spielen wieder Indianer. So wie früher als Kind: Von einem Leben einig mit der Natur träumen, sich den Teller der Wildnis nie überladen, nur soviel Büffel nehmen, wie man auch essen kann. Aufgehen im Ausatmen der Urgewalt, Mutter Erde zugleich Bruder und Schwager.
Aber alle wissen, wie es anders kam: Die Unschuld wurde aufgebrochen, der Westen erobert, die Originale wurden von der Prärie, wir von unseren Spielwiesen vertrieben und in einer Ecke abgestellt, die Büffel zusammengeschossen bis auf einen jämmerlichen Rest, der nicht eine Familie einen Sommer lang satt machen könnte. Die Illusion hat ein Ende, wir alle fristen eine freudlose Existenz, in die nur seltene Ausflüge in die Phantasie und den Alkoholrausch winzige Atemlöcher reißen können. Alles aus.
Klingt wie ein unglaublicher Traum, aber im echten Leben wurde für ein paar – vier – amerikanische UreinwohnerInnen wieder Verwendungszweck gefunden, das umzäunte Reservat, die Spielcasinos und das billige, aber teuflische Feuerwasser gegen die freie polnische Steppe und Becherowka getauscht. Für vier ist der Traum wahr geworden, die Verdörflichung der Welt Wirklichkeit: Sie dürfen den polnischen Grenzbeamten bei der Sicherung ihrer Grenzen helfen, vielmehr nach dem chinesischen Motto „Zeig ihm, wo er Würmer findet, und er hat selbst zu fressen“ sollen die roten Brüder die polnischen Brüdern lehren, Spuren zu lesen, die Schmuggler hinterlassen haben, und es so ermöglichen, die Meute dingfest zu machen. Hier verschmelzen Ost und West zu einem Haufen, hier findet Globalisierung statt, die nicht nur Spaß macht, sondern auch sinnvoll ist. Dort die Sohle vom Stiefel eines Trappers, hier ein Splitter Rückspiegel vom Schieberkarren, dort ein abgebrochener Zweig, hier ein Plastiksäckchen mit weißem Pulver, das für das bloße, ungeschulte Auge kaum wahrnehmbar ist, dort eine abgeschossene Kugel, hier ein Dosendeckel, der unauffällig nach Uran riecht.
Klingt einfach. Kann schon sein, dass wir im Voranschreiten des Sommers unsere Schritte nach Osten lenken und den neuen EU-Nachbarn unsere von Kind an erworbenen Skills anbieten, unentgeltlich, ein paar weiße Skalps oder Tüten dafür. Höchstens. So hat jeder was davon: Die EU eine sichere Ostgrenze und wir den Beweis, dass die Zivilisation uns Indianer braucht.

Willibald Spatz
12. Mai 2004
 

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