Die größten Geschichten aller Zeiten
Antigone in den Kammerspielen

Die Alten hören nicht auf zu faszinieren. Durch die Menschheit ist in den letzten zweieinhalb Tausend Jahren kein so großer Ruck gegangen, dass sie sich nicht mehr berühren ließe vom Thema Liebe, Tod und Recht. Sophokles hat sich die Geschichte von Antigone nicht ausgedacht, sein Publikum kannte sie, kam nicht, um sie sich erzählen zu lassen und auf ein überraschendes Ende zu warten, sondern wollte vom Wie bewegt werden. Wie wird Kreon es schaffen, so verblendet zu bleiben, seine Familie und sich ins Verderben zu treiben?
Lars-Ole Walburg lässt der Zeitlosigkeit allen Raum in seiner Inszenierung in den Kammerspielen. Alle Personen tragen weiße Gewänder. Neutral. Ungreifbar, aber nicht unschuldig. Die Bühne von Barbara Ehnes ist eine Schräge aus Sperrholzplatten, ist offen an den Seiten und trägt oben einen Würfel mit Tür, aus der aufgetreten werden kann. Alles. Einmal im Stück wird Michael Neuenschwander als Kreon in den Zuschauerraum gehen und die Bühne betrachten, auffordern, dass der, der noch eine Idee habe, sofort übernehmen solle. Aber da ist nichts. Nichts, an dem er sich festhalten könnte, nur diese Schräge. Da ist klar, dass ihm die Aufgabe über den Kopf gewachsen ist, neuer Herr von Theben zu sein, nachdem sich das rechtliche Throninhaberbruderpaar gegenseitig am selben Tag den Speer durch die Brust gejagt hat. Der eine für, der andere gegen Theben. Nach welchem Maßstab soll er nun noch entscheiden? Dem Göttlichen, nach dem jeder beerdigt gehört, auch der Staatsfeind? Oder dem vermeintlich besten für die Stadt, nach dem dem Feind was angetan gehört, zum Beispiel die Überfahrt über den Acheron in die Glückseligkeit verwehrt?
Für Antigone ist alles leicht. Sie ist stark. Fest steht Julia Jentsch, die sie spielt, in ihrer Lederstiefeln in der Mitte. Bruder bleibt Bruder und wird beerdigt. Das Verbot von Onkel Kreon zählt nichts, auch die Tatsache, dass sie garantiert erwischt und die Erde vom Bruderleib entfernt wird, und damit alles, inklusive ihres Todes, sinnlos wird, interessiert sie nicht. Die anderen Waschweiber, verheulte, besonders Schwester Ismene, die zuerst nicht mitmachen will, dann, als alles aufgeflogen ist, doch dabei gewesen sein möchte. Caroline Ebner spielt sie stark, die Weinende, unter dem Druck Zerbrechende.
Die emotional wichtigsten Passagen unterlegt der Perkussionist Anno Kesting mit einem Trommelgewitter: Wenn Antigone entlarvt vor den Herrscher gezerrt wird, wenn Paul Herwig als Kreons Sohn Haimon auf die Projektion des Vatergesichts prügelt, weil seiner Verlobten Antigones Tod besiegelt ist, wenn bei Ismene der Mensch durchbricht. Das Schlagzeug hat die Erlaubnis, die Schlichtheit der Bühne aufzubrechen, wo sogar der Chor, Hermann Beyer und Dieter Montag, in die Loge vertrieben ist und ein bisschen an die Muppet Show erinnert. Und dann gibt es Video: die Gesichter der Schauspieler abwechselnd, mit den Augen rummachend. Und ein Mikrophon, durch das Kreon seine Regierungserklärung ablässt.
Das ist der einzig wunde Punkt dieser gelungenen Inszenierung: Es schmerzt die Selbstverständlichkeit, mit der diese Elemente auftreten. Das Theater soll doch nicht widerstandslos zum multimedialen Hybrid verkommen. Ganz ohne mangelndes Selbstbewusstsein passiert das nicht. Hier ist ein Theater, das sich nicht mehr traut, sich auf seine Möglichkeiten zu verlassen. Und die hat es. Soll es doch nur mal auf Doris Schade schauen. Die ist der blinde Seher Teiresias und verkündet, von einem Kind hereingeführt, Kreon den Untergang. Drei Menschen auf einer kahlen Bühne. Und ein unsterblicher Text. Mehr braucht keiner, um berührt zu sein.
 

Willibald Spatz
21. Mai 2004

Information

mehr Kritiken