Deutsch-französische Leistungsschau
Avignon 2004

Die Kultur soll Sieger sein. Wenn beim Festival von Avignon, was die Leistungsschau des französischen Theaters sein sollte, durch den Programmmitgestalter Thomas Ostermaier sich ein deutscher Schwerpunkt auftut, dann gleichzeitig auch die Frage, welche Nation die glücklichere ist, indem sie das bessere Theater hat. Ostermaier hat sich selbst und seine Kollegen Frank Castorf und Christoph Marthaler ausgesucht anzutreten, um den Franzosen zu zeigen, was anständiges Sprechtheater ist. Keine schlechte Wahl, keine kleinen Namen, keine großen Erwartungen, dass die Gastgeber das, was sie sehen, gleich verstehen und super finden werden.
Frank Castorf hat in der Heimat wenig Lob bekommen für seine Bühnenversion des Pitigrilli-Romans Kokain. Er tritt damit als erster in den Ring am Rand der Stadt in einer Maschinenhalle, in der er von seinen Besuchern verlangt, drei Stunden bei anständiger Hitze zu verweilen. Eine gute Reihe von ihnen nutzt den ersten Stromausfall, sich aus dem Staub zu machen, die übrigen erfahren, dass deutsches Theater laut, selbstverliebt, mit Tieren, multimedial und konsequent ist: Wenn vom Rausch die Rede ist, ist er auch zu erleben. Das kracht, das stinkt, das lässt schwitzen, das macht aber auch Spaß und stolz, physisch durchgehalten zu haben.
Theater heißt sich zur Schau stellen, Bescheidenheit ist unbrauchbar. Richtig repräsentativ hat Thomas Ostermaier vier eigene Inszenierungen ausgewählt, stellvertretend fürs Deutsche. Sein Woyzeck siedelt am Stadtrand, wahrscheinlich im Osten der heutigen Republik beim Kiosk von Andres neben dem Kanalrohr. Soviel Moderne kann nur wenig vom alten Text gebrauchen, dafür Musik von AC/DC und den Beastie Boys. 2500 Zuschauer im Innenhof des Papstpalastes ertragen geduldig den kalten Mistral und erfahren, dass es im deutschen Theater laut sein muss und Hunde darin vorkommen. Politisch und engagiert ist es und komisch. Wer will eine Sache schimpfen, über die er so viel lachen kann? Der Hauptmann zieht sich aus, nimmt ein Bad im Abwasserkanal, und die Menge ist aus dem Häuschen. Mit dem Original hat das wenig zu tun, aber es ist gut und eine Art, mit Büchner umzugehen.
Marthaler ist Schweizer, aber er zählt hier als Deutscher. Sein Groundings ist im Théâtre municipal zu sehen, am ersten so klimatisierten Ort, der keine Zweifel aufruft, ob eine südfranzösische Stadt im Sommer optimal für ein Theaterfestival ist. So sehr er sich dagegen wehrt, wird keiner den Eindruck bestreiten können nach Avignon, dass das körperliche Befinden die Aufnahme eine Stücks beeinflusst. Marthaler ist vielleicht der Beste, um zu demonstrieren, worum es auf den deutschen Bühnen gerade geht: sich durchaus ernst und erwachsen eines Themas anzunehmen, in dem Fall die Pleite von Swiss Air und die Verrohung und Verblödung des Menschen in der kapitalen Welt, und dabei nicht zu vergessen, dass die meisten Zuschauer sich amüsieren gekommen sind. So sind Momente wahren Glücks erlebbar und sich alle einig beim Schlussapplaus.

Den Franzosen dagegen ist das Theater kein Platz zum Blödeln. Ihnen ist das Wort was wert. 40 Kilometer ausgelagert steht ein Zirkuszelt, in dem Claire Lasne Princes et Princesses von Michel Ocelot für Kinder inszeniert hat. Das sind drei kurze Märchen mit jeweils mindestens einer Prinzessin oder einem Prinzen. Zwei Schauspielerpaare, von denen eines ausschließlich in Gebärdensprache kommuniziert, stellen dar. Tempo entsteht durch die ständige Unterhaltung mit Gesten und gesprochenen, simultan übersetzten Worten. Schön anzusehen, bunt und, wie immer bei gutem Kindertheater, auch ein Riesenfest für die Alten.
Die Minimalismusschraube eins weiter dreht Ludovic Lagarde mit seiner Urinszenierung von Gertrude Steins Oui dit le tres jeune homme, einem Stück aus dem Widerstand. Leere Bühne, schauspielerisch nicht schlecht, atmosphärisch nicht undicht, allerdings wären ein bisschen Soße oder ein Schluck Rotwein gut, um den trockenen Brocken ganz hinunterzubekommen. Außerdem ist es kaum erregend eine französischen Flagge als einzigen Bühnenhintergrund die volle Zeit anzuschauen, auch wenn es den befürchteten Sinn ergibt.
L'illusion comique von Pierre Corneille ist ein großes Stück über das Theater. Frédéric Fisbach lässt es nicht nur ganz spielen, sondern erfindet noch einen Epilog dazu, und seine Schauspieler erzählen privat, wie sie zur Bühne kamen. Er findet zweieinhalb Stunden lang Bilder, durch die das Zuschauen zu einem Rausch wird und der Ort magisch. Der Weg nach draußen ist danach wie ein Schritt in eine andere, alt gewordene Welt. Eigenartigerweise, wahrscheinlich aber wieder hitzegetrieben, treten ihn Scharen bereits vor dem schönen Ende an.

Der Sieger? Deutschland, Frankreich oder die Kultur? Wenn sich das fortsetzt, es in Zukunft möglich ist, in eine Stadt wie Avignon zu fahren und dort Theater zu sehen, zu dem sonst viel
mehr Weg zurückgelegt hätte werden müssen, so steigert das auf jeden Fall die Attraktivität eines solchen Festivals für diejenigen, die sich, wenn überhaupt, nur eine Theaterreise im Jahr leisten. Auf der anderen Seite treten so Produktionen plötzlich in internationaler Konkurrenz, vor anspruchvollerem Publikum an. Das bedeutet mehr Austausch und einen zusätzlichen Druck auf die Kreativität der Regisseure. Schwer vorstellbar, dass davon nicht die Qualität profitiert. Also noch mehr Theater aus noch mehr Ländern für Avignon und für jedes Land ein Festival wie Avignon. Denn am Ende bleibt doch die Erkenntnis, dass Theater, so unterschiedlich es auch ist, Glücksmomente schaffen kann, die außerhalb selten so billig zu bekommen sind.

Willibald Spatz
13. Juli 2004

Information

mehr Kritiken