Wladimir Sorokin, Jahrgang 1955, verbringt
seinen Jahresurlaub 1990 in Dachau und kommt dabei durcheinander. Er besteigt
in einem weißrussischen Bahnhof seinen Zug nach München und
durchfährt die nicht enden wollenden Vororte Moskaus. Nach einer Leibesvisitation
an der Grenze kehrt er in sein Abteil zurück und findet einen Mann
in Uniform vor, einen SS-Offizier, der den russischen Schriftsteller in
ein Gespräch über deutsche Literatur vertieft. Das verwirrt den
Hörer, der den Anfang von „Ein Monat in Dachau“ im Haus der Kunst
von Stefan Hunstein vorgelesen bekommt, aber er akzeptiert es und auch,
dass deutsche Landschaft zu einem Führerbild umgestaltet wurde, nur
von der Luft zu erkennen mit Braunau als Schnurrbart. Ein Willi mit Schäferhund
steht am Bahnhof und bringt den Touristen nach Dachau. Irgendwie wird die
Reise in den Westen auch eine in die Vergangenheit. Doch beim Anblick des
Lagerschornsteins, dem Phallus der Vernichtung, schließt Stefan Hunstein
das Buch zum ersten verbalen Zusammenbruch.
Eine Stärke der Texte Sorokins ist,
dass sie einen überfallen mitten im Moment, in dem man mit ihnen zurechtkommt.
Er baut buchstäblich Gebäude aus Worten auf den Seiten und lässt
sie zusammenstürzen; das sieht man auf dem Papier, auch noch in der
sorgfältigen Übersetzung von Peter Urban.
Doch jetzt steht der eigentlich nicht
dazu eingerichtete Text auf der Bühne mit Stefan Hunstein und will
angemessen umgesetzt sein. Dazu genehmigt sich der Vortragende und gleichzeitige
Regisseur nicht viel: Tisch, Stuhl, ein bisschen Papier und Technik. Soundeffekte,
die die Ebenen des Textkörpers voneinander abheben, eine Kamera, die,
live projiziert auf die Rückwand, das Auge auf Orte der Bühne
richtet, die still überhört würden: der Boden, das Tischbein,
die Hand mit Kugelschreiber, die eine weitere Abteilung des Berichts auf
einen Zettel kritzelt. Das Publikum wird sich gezeigt und der Kopf Hunsteins,
während er sich über Lautsprecher „Drecksau“ schimpft.
Durch 26 Zellen führt die Zeit in
Dachau den Helden, durch die Tortur, einen Pfropf im Arsch zu haben, durch
die Mästung mit dem Fleisch eines russischen Mädchens und eines
jüdischen Jungen, die sich zum ersten mal im Darm eines Fremden begegnen,
statt sich im Freien ineinander zu verlieben, durch den Schrei nach der
Mama beim endlich wieder Scheißen Dürfen. Schön obszön
wird es noch mal im Zusammenhang mit Margarete und Gretchen, Lageraufseherinnen,
die ihn, den russischen Schriftsteller, der eine Russin und einen Judenjungen
gefressen hat, den Besuchern der Gedenkstätte vorführen – keine
Ruhe von dem logischen Bruch -, bevor er Margarete heiratet. Da steht er
mit Papiertüte in einem Loch im Boden der Bühne und begräbt
sich selbst.
Wer ist dieser Sorokin? Einer, dem der
Vorwurf, Pornograph zu sein, am kleinen Zeh abprallt, weil er wirklich
was kann am Wort? Ein talentierter Nihilist? Oder einer, den man froh ist,
heute schon gekannt zu haben, weil er in Jahren zu den ganz Großen
gezählt wird? Jedenfalls hat man das Gefühl, an etwas Außergewöhnlichen
gerochen zu haben, das auch ruhig vergessen werden kann, denn man hatte
seinen intimen Spaß damit bereits.
Und Stefan Hunstein hat einen Weg gefunden,
diesen zu bereiten, vielleicht nicht den einzigen, aber einen guten, und
er darf gern noch mal.
Willibald Spatz
7. Januar 2004
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