Es eignet sich
ELLING auf bayerischen Bühnen

Sie scheinen ihm verfallen zu sein, die deutschen Theater dem Elling, dem Roman- und auch Filmhelden aus Norwegen, der leben lernen soll nach der psychiatrischen Anstalt in der Wohngemeinschaft mit seinem Schicksalskollegen Kjell Bjarne. Ein Wartezustand zwischen eingesperrt sein und als krank gelten und frei und vollwertig dabei sein dürfen, der jederzeit in beide Richtungen zu kippen droht und in dem es sich einzurichten gilt.
Für München und das Metropol-Theater hat Gil Mehmert den Versuch gewagt. Er ist nicht unerfahren, was die Umsetzung skandinavischer Filme betrifft: Sein I HIRED A CONTRACT KILLER nach Aki Kaurismäki war ein Erfolg. Der Witz seiner Inszenierung nun liegt in der Bühne, die Claudia Karpfinger gebaut hat: Ihre Rückwand nimmt ein abgerundetes Fenster ein, auf das Dias geworfen werden. Mit einer Fernbedienung kann Elling per Knopfdruck die Kulisse verwandeln in die Wohnung, die er mit Kjell Bjarne bezieht, die Anstalt, die Straße, auf die er gelegentlich doch muss, und die Orte seiner Erinnerung. Einmal schafft er es allein auf ein Dichterlesung zu gehen, dabei wird sein Weg durch die Straßen auf einem projizierten Stadtplan nachgezeichnet.
Matthias Grundig ist ein zuckend zögernder Titelheld, dem die Ruhe und das Zusammensein mit seinem Wohnungsgenossen lieber ist als die Freiheit dort draußen, der lieber Zimmer putzt als gefährlich einkaufen zu gehen. Eckard Preuß als Kjell Bjarne dagegen ist reizüberflutet begeistert von der neuen Welt. Er ruft laut und immer wieder "Leck mich!", so greifbar scheint ihm jetzt das Glück, bald mit einer Frau zusammen sein zu können. Als diese freilich endlich einbricht, sind ihm die Nähe und der Rat seines Freundes wichtiger als dieses fremde Wesen, das betrunken und schwanger im Hausgang liegt. Merit Ostermann übernimmt diese wie alle weiblichen Rollen und zieht sich ebenso wie Thomas Beck als Betreuer Frank immer wieder zur musikalischen Untermalung an die Hammond-Orgel neben der Bühne zurück. Sie überlassen den beiden das Feld, ihre rührenden ersten Schritte zu tun und es auch ein wenig wärmer werden zu lassen im Zuschauerraum.

Das Theater Augsburg hat die aktuelle Spielzeit ebenfalls mit ELLING in der Komödie eröffnet. Andreas Carbens Bühne ist ein vollkommen geschlossener Raum mit einer Gangflucht nach hinten und keinem denkbaren Außen. Ausflüge dorthin werden mit Lichtwechseln angedeutet. Sie finden vor allem in Ellings Kopf statt. Der bleibt gern hier drinnen, es ist ihm egal, ob dieses Drinnen in der Anstalt oder in dieser Wohnung ist, Hauptsache, er muss nicht raus. Klaus Georg Clausius spielt keinen Verrückten, sondern einen von der Welt Angewiderten, der genau weiß, dass er von ihr nichts will.
Kjell Bjarne ist ein Werkzeug für Elling, das die praktischen Dinge und die Einkäufe verrichtet. Wenn er nicht auf die Straße will, lockt ihn Elling dorthin, indem er ihm durchs Fenster eine Frau mit großen Busen zeigt, woraufhin der den eben erkämpften Wischmobstiel fahren lässt und nach unten stürzt. Dietmar Nieder zeigt einen Retardierten, der überall, wohin er gepflanzt wird, nichts mit sich anfangen können wird. Im Verlauf des Stücks findet er einen Verbündeten in Frank, der im Gegensatz zum Münchner kein freundlicher Zivi ist. Tim Bierbaum stellt ein Arschloch dar, die Verkörperung des Feindseligen, das den beiden das Leben schwer macht. Als ihn seine Freundin verlässt, sollen vor allem Elling und Kjell Bjarne nichts zu lachen haben. Elling führt raffiniert Kleinkrieg gegen ihn: Jedes Mal, wenn irgendetwas von ihm verlangt wird, zum Beispiel, dass er endlich lernt, den Hörer abzunehmen, wenn das Telefon klingelt, sind seine Hände besetzt mit Koffer und Kassettenrekorder oder zwei Einkaufstaschen.
Für den Regisseur Roland Hüve ist der Stoff nichts, um damit herumzuspielen. Er interessiert sich für die Psychologie der Figuren. Gabriele Fischer kommt als hochschwangere Reidun Nordsletten rauchend in die Wohnung, und man möchte ihr die Zigarette aus dem Mund schlagen, so sehr steht sie damit für die Unmöglichkeit, dass einer von ihnen irgendwo eine Chance auf ein kleines Stückchen Glück hat. Diese Inszenierung berührt und ist trister als die Münchner Variante. Ellings Soundtrack seiner Zurückgezogenheit ist die Musik von Roger Witthaker und Cliff Richard, die er laut aufdreht, wenn er allein ist und sich still seiner Hausarbeit freut. Allerdings nutzt auch Roland Hüve die Gelegenheit zum Witz: Wenn Frank durch die Küchenanrichte telefoniert, Kjell Bjarne zum ersten Mal den Hörer abgenommen hat und alles laut in die Muschel brüllt, was Elling hinter ihm in der Mitte der beiden stehend einsagt, dann ist das äußerst komisch. Kjell Bjarne beginnt hier allmählich für die Freiheit zu brennen, sein Credo wird: "Wir leben nur einmal." Elling antwortet: "Das wollen wir auch hoffen."
ELLING erweist sich als dankbar für die Bühne. Das Stück ist intelligent, hat Witz, lässt, weil es ja eigentlich ein Film ist, viel Freiraum und ist mit wenig Personal umzusetzen. Eine Einladung für Regisseure, die mal was anders ausprobieren wollen? Vielleicht. - Vielleicht aber finden die in Filmen wie ELLING erst die Stoffe, die sie wirklich interessieren, weil die besseren Schreiber heutzutage mit Drehbüchern Geld verdienen, anstatt sich zu überlegen, wie viel Posts sie vor ihre Dramatik brauchen, damit die richtig bezeichnet ist, und dabei doch nur Seifenopernästhetik nachproduzieren. Vielleicht mal die Regisseure der nächsten drei, vier ELLINGs danach fragen.

Willibald Spatz
2. November 2004

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