Wenig
Hermes in der Stadt im Neuen Haus der Kammerspiele

Mit der Genauigkeit eines Seziermessers trifft jedes Wort, jede Bewegung. Regisseur Laurent Chétouane reduziert, verlangsamt solange, bis alles wichtig ist, jede Winzigkeit. Etwas Atem braucht der Zuschauer, den er sowieso anhält, um nicht zu stören.
A, B, C und so weiter. Abteilung eins eines Texts. Über Hermes, den Gott der Diebe, der getrieben ist und nie Ruhe finden wird im Tod und ihn deshalb denen zumutet, die er aufsucht der Liebe wegen. Die in der Stadt, die er heimsucht, müssen sich von immer mehr trennen: zunächst nur Geld, zuletzt dem Leben. Auf der Bühne sind vier Doppeltüren geöffnet, durch sie hindurch fällt der Blick auf die Schauspieler die an Fenstern sitzen oder stehen: Annette Paulmann, Gundi Ellert und Walter Hess. Im Hintergrund ist die Front der gegenüberliegenden Häuser, der Zuschauer wird unfreiwillig zum Voyeur in der Nachbarwohnung. Die Schauspieler treten nacheinander einzeln vor und sprechen, erzählen von Hermes, langsam, bewusst machend. Bewegungen werden gespart, nur die Musik von Lennard Schmidthals setzt bizarr Akzente. Die Personen in der Erzählung tragen keine Namen, sind durchalpahbetisiert, und die Ankunft bei Z bedeutet die Ankunft beim zweiten Teil.
Den übernimmt Christoph Luser allein. Vorhänge werden vor den Fenstern zugezogen, das Licht verändert sich, kommt von der Seite und das resultierende Bild erinnert an eine antike Tempelfront. Hermes' Weg führt aus der Stadt, ihn leitet sein zweiter Zuständigkeitsbereich, die Lyrik. Während Christoph Luser stellvertretend für den Gott die Versformen vom Blankvers bis zum Pentameter erklärt und Beispiele aus der Literatur aufsagt, führt die Reise einmal um die Bühne respektive mit dem Auto ins Grüne, und es ist schwer zu sagen, wer den Wettlauf in der Begeisterung gewinnen wird, die kleinen Bilder auf der Bühne oder die großen im Kopf, die zum Beispiel die Berührung des sonst übersehenen Feuermelders auslöst.
Im letzten Abschnitt kommt richtig Leben auf. Martin Butzke, Lorenz Nufer, Katharina Schubert und Stephan Zinner treten von unten durch ein Loch in der Bühnenmitte auf, und in ihren Sätzen, die sie gleichmäßig unter sich aufgeteilt haben, handelt es sich um eine lustige Gesellschaft wahrscheinlich junger Leute, die mit einem Telefonanruf einen kleinen Jungen in den Selbstmord treiben, ihm Angst machen und ihn dazu bringen Schlaftabletten mit Essig zu schlucken. Zynisches Ende.
Ein einziges Mal wurde Lothar Trolles Prosastück bisher aufgeführt, 1991 von Castorf. Die Münchner Inszenierung zeigt ihn als einen traurigen Text, der in sich gekehrt auf der Bühne ruht und nur selten wehmütig einen Blick in den Raum hebt. Der Angeschaute möchte zu ihm runter, ihn tröstend in die Arme legen, ist aber doch abgeschreckt von der seltsam selbstverständlichen Brutalität des Tiers. Was Worte alles sein können, wenn sie die Möglichkeit bekommen hat, konkret zu werden.

Willibald Spatz
2. Juni 2004

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