Wichtige Szene in der Mitte: Sibylle Canonica als Portia
als Richterin verkleidet soll Ordnung bringen in das Durcheinander, das
die beiden phantastischen alten Herren Rolf Boysen als Shylock und Thomas
Holtzmann als Antonio angerichtet haben, wogegen der heftige Bassagno Michael von Au
gestikulierend wenig machen kann. Klar wird: Der Jud ist unerbittlich und
wird dem grimmig einsichtigen Antonio ein Pfund Fleisch aus dem Herzen
schneiden. Wie er schon dasteht mit Waage und Messer, der Rolf Boysen,
der macht es wirklich. Da hat Portia die Hände voll zu tun, um die
beiden in Griff zu bekommen und zusätzlich in ihrer Verkleidung nicht
erkannt zu werden. Aber sie schafft’s: Der Jud bekommt, was er verdient,
er verliert sein Vermögen. Die Christen gewinnen an Reichtum und Ansehen,
als unparteiischer Zuschauer muss man sagen, wahrscheinlich doch die bessere
Religion, wenn nicht auch die wahrere.
Selten geworden, dass jemand sich noch
traut, seinem Publikum noch so viel reinen Shakespeare zuzumuten wie Herr
Dorn auf seiner Bühne mit nichts drauf als ein paar großen Quadern,
den venezianischen Häusern der Männer in ihren Mafiaanzügen.
Einer, der mittlere der Quader kann sich öffnen zur bunten Märchenwelt
Belmont mit der schönen, umworbenen Portia. Der Zuschauer bekommt,
was er will, shakespearschen Text, von Michael Wachsmann über-, von
Dieter Dorn präzise umgesetzt, und er stellt fest, dass das ganz schön
antisemitisch war, was der Dichterkönig erfunden hat. Es zählt
das genauso alte wie dumme Argument nicht, das sei damals noch was anderes
gewesen. Man muss allen Ernstes in einer Inszenierung im 21. Jahrhundert
eine Auseinandersetzung mit dem Problem erwarten. Es geschieht ohnehin,
vielleicht unfreiwillig, wenn zum Beispiel ein marokkanischer Freier von
Portia – kein sehr intelligenter Mensch – von einem weißen Schauspieler
mit schwarzer Schminke im Gesicht dargestellt wird. Dasselbe hat Griffith
in seinem rassistischen Film „Birth of a Nation“ ebenfalls gemacht und
man will niemand im Residenztheater vorwerfen, das sei in selber Absicht
erfolgt.
Wenn also nur ein einziger in einem vollbesetzten
Haus den Schlussapplaus verweigert, darf man sich den Gedanken machen,
ob Werktreue nicht auch übertrieben werden kann. Andrerseits auch
den, ob Shakespeare, gemessen an seinen theatralen Qualitäten, nicht
absolut überrepräsentiert ist auf deutschen Bühnen.
Willibald Spatz
22. Dezember 2003