Die Suche nach dem Kern von Lulu ist die
Suche nach einem Ort, an dem Lulu stattfinden kann, jedenfalls im Nationaltheater
unter der Regie von David Alden. Der behandelt sie wie ein Problemkind
aus der Vergangenheit, dessen Thema der Gegenwart schwer verkäuflich
ist, jedenfalls im ersten Akt: Hier befindet man sich in einer Vorortsiedlung,
langweilig und bedrohlich die Luft. Der Tierbändiger hält seine
Rede, während Lulu im unschuldigen Kleidchen auf einem Auto von ihren
Männern umringt und gefilmt wird. Die Wand fährt herunter, Lulu
ist eingeschlossen im Atelier des Malers, spießige Tapeten an der
Wand, der Künstler hat den Pinsel durch die Kamera ersetzt. Hier kommt
sie einen Akt nicht raus, hier muss sie bleiben inmitten von Zivilisationsmüll
wie Kaffeemaschine, muss Staub saugen, sich von Alwa filmen lassen. Derselbe
Raum wird zur Theatergarderobe durch Bierzelttische mit Laptops darauf;
der Kampf scheint verloren, diese Lulu bereits misslungen. Doch die Bühne
wird befreit, die Wand entschwebt, die Publikumsränge eines Baseballfeldes
erscheinen, auf denen das Publikum gelangweilt Lulus Tanzperformance verfolgt
und man fühlt sich zum ersten Mal im Bild gut aufgehoben.
Bevor der Kreis sich zum Ende wieder schließt,
Lulu ihr Anfangskleidchen wieder trägt, so die Suche nach der verlorenen
Unschuld eingestellt und der Tod im Auto vollzogen wird, werden amerikanische
Filmkulissen durchwandert, die mit zunehmender Schlichtheit ihre Fähigkeit
vermehren, der Ungreifbarkeit Lulus Raum zu bieten: Ein Appartement über
den Straßen, ein Flughafenwartelounge und schließlich die Tapetenbude
des Anfangs, zerschlissen, die letzte Absteige. Tatsächlich entsteht
ab dem zweiten Akt eine Stimmung, die Margarita De Aranello erlaubt, von
der Verführerischen über die Verlorene zur Verfallenden zu gelangen.
Besonders auf dem Flughafen, wo ein permanentes Kommen und Gehen passiert,
scheint es fast unmöglich, jene dringende Intimität herzustellen,
die nötig wäre, um Lulu die zwielichtigen Angebote zu unterbreiten,
dieser graukostümierten Frau, nervös sich auf- und abbewegend
durch die Wartestuhlreihen. Das ist mitten ins Herz Wedekinds arrangiert,
mitten in dem Teil, an dem Alban Berg schon die Lust verloren hatte: die
Börsengeschichte, die er nur skizziert hat, damit sie Friedrich Cerha
vollenden konnte, 1979. Die vollständige dreiaktige Fassung bekommt
man nun auch in München zu sehen, und da nach der Anfangsenttäuschung
die Inszenierung rapide an Stärke und Schlüssigkeit zu-, an Üppigkeit
und Belieben aber abnimmt, kann man sagen, dass hier einer schönen
Oper mutig zu ihrem Recht verholfen ist.
Willibald Spatz
5. Mai 2004