René Polleschs Auftakt in einem Millionendorf
„Schändet eure neoliberalen Biographien“ an den Münchner Kammerspielen

René Pollesch ist in München angekommen. Bisher musste man nach Berlin, Stuttgart, Stockholm, Santiago de Chile oder Salzburg fahren, um einen zu sehen, doch seit Donnerstag haben die Münchner einen eigenen Pollesch: „Schändet eure neoliberalen Biographien“ hatte im Neuen Haus der Kammerspiele Uraufführung.
Man betritt den Raum, den Michael Graessner eingerichtet hat, und befindet sich an einem Ort schäbiger Gemütlichkeit. Der Boden ist mit Teppichen belegt, es grünen Zimmerpalmen überall, an einem Streifen unterhalb der Decke haben sie ein silbernes München-Panorama angebracht, stellvertretend für die Stadt, die es einzunehmen gilt mit dieser Art von Theater. In der Mitte steht eine Spanplattenhütte mit Bar darin. Fahrstuhlmusik läuft. Man bekommt zunächst Theater aus zweiter Hand. Auf einer Leinwand erscheint Katharina Schuberts Gesicht und eröffnet den Abend mit: „Guten Tag! Wie lebt ihr denn hier?“ Eine Weile gibt es nur Video, die vier Schauspieler, außer Katharina Schubert noch Gundi Ellert, Stefan Merki und Sebastian Weber, dazu der Souffleur Viktor Herrlich, sind in einem anderen Zimmer, das ähnlich eingerichtet ist. Sie werden gefilmt, sprechen in Mikros und geben ihr Programm aus: „Es geht mir nicht um Solidarität und die Erlösung dieser Welt, das wäre Selbstzerstörung. Ich will nicht mit euch leben. Ich hab ja allein mich gemacht und das werde ich weiter tun.“ Kurz: An der überdrüssigen eigenen Existenz werden nun in einer Assoziations-Kaskade die Probleme der Restwelt abgearbeitet. Das dauert insgesamt siebzig Minuten. So weit wie Pollesch immer, nur dass es diesmal leiser, lieber zugeht. Es wird kaum geschrien, wenn dann wird das Mikro dafür weg gehalten vom Mund, häufig sogar geflüstert. Dadurch dass der erste Teil komplett aus Videoprojektion besteht, ist eine skurril-schöne Großaufnahme auf vier Klobürsten möglich, die versuchen, einen Stacheldraht zu überwinden und dabei gefangen werden von dem Draht, einer Kette und Handschellen.
Der Oktoberfesthit „Macarena“ erschallt, hinter der Leinwand kommen die Schauspieler – und der Souffleur – hervor, rollen große Schaumstoff-Würfel auf die Bühne, besetzen sie so, werfen Sattel auf die Würfel und nehmen auf ihnen Platz. Jetzt, draußen vor der Leinwand, wird auch gebrüllt und sich aufgeführt.
René Pollesch bringt zu den Proben den Text mit, den er gerade daheim fertiggeschrieben hat; im Lauf der Vorbereitungszeit entsteht daraus das Stück, das dann an der Premiere zu sehen ist. Das erlaubt es, Themen aufzugreifen, die in einem normalen Theaterbetrieb frühestens nach einem halben Jahr den Weg von den Schlagzeilen auf die Bühne schaffen könnten. Hier fallen Begriffe wie „New Orleans“ und „Marokko“; vor allem die „Du bist Deutschland“-Kampagne wird angegriffen und verwertet: „Da sieht man Günther Jauch in dieser Du-bist-Deutschland-Scheiße. Wo dem ne Klo-Frau den Hintern abwischt, und er zu ihr sagt: Einer muss es ja machen! – Dabei ist die aus dem Irak.“ Heute im Oktober ist das großartig und trifft richtig, doch das Stück wird weiter laufen, mindestens noch diese Spielzeit lang, und auf einmal wird die Deutsch-Kampagne auch ein halbes Jahr alt sein. Aber Nachhaltigkeit interessiert René Pollesch nicht, er ist angewidert von der Klassiker-Aufbereitung der normalen Theater, dieser Suche nach den ewigen Wahrheiten im antiken Krempel. In „Schändet eure neoliberalen Biographien“ heißt es: „Du denkst ja, dein Leben ist langweilig und die Hamletscheiße nicht! Dann lass doch den Hamlet da, und du hau ab! ...wenn du denkst, dein Leben ist langweilig.“ Das sagt Katharina Schubert, die an den Kammerspielen in der Hamlet-Inszenierung von Lars-Ole Walburg die Ophelia spielt. Sie sagt es zu Sebastian Weber, der dort der Horatio ist. Den Rollen, die sie mit sich herum schleppen, und der Verantwortung, die sie damit ebenfalls auf sich genommen haben, kommen sie hier nicht mehr aus.
Die Plastizität des Textmaterials hat weiterhin zur Folge, dass vieles noch unfertig ist. Der Souffleur ist nicht sinnlos auf der Bühne. Immer wenn einer nicht weiter weiß, schreien alle laut „Ah!“, und der Mann muss sein Stichwort geben. Das hat auf den Proben einen Riesenspaß gemacht, deswegen lachen auch sie bei der Aufführung darüber. Das ist in Ordnung, man will hier nichts vorgemacht bekommen.
Die Stücke von Rene´Pollesch sind immer genau für die Schauspieler geschrieben, mit denen er gerade zusammenarbeitet. Dass sie andere nachmachen und mit anderen Gesichtern besetzen, das mag er nicht und hat es sogar verbieten lassen. Hier in München merkt man trotzdem manchmal, dass es Neue sind, für die er schreibt: Oft steckt ziemlich wenig von ihnen in den Sätzen, dafür viel Pollesch. War aber nicht schlimm am Donnerstag. Es gab einen Applaus, als seien die Münchner noch stolzer auf das, was sie jetzt neu in der Stadt haben, als der Macher selbst. Pollesch hat sein Publikum glücklich gemacht und angesprochen, wahrscheinlich tatsächlich mehr, als irgendein Shakespeare es vermocht hätte.

Willibald Spatz
20. Oktober 2005

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