Keine Steine, keine Liebe
"Orfeus" in der Schauburg

Da gibt es die, die behaupten, der Reiz, der die Theatermacher immer wieder in die Bühnenverarbeitung der Orfeus-Geschichte treibe, liege nicht darin, einem Mann zuschauen zu machen, der kraft seiner bloßen Stimme Steine in Brei verwandeln kann. Denn das sei hochgradiger Unsinn, so unmöglich, dass man schon von den Kindern nur die Allerbescheuertsten daran glauben machen könne. Die wahre Magie des Stoffs sei die Liebe, die ihn verbindet mit seiner Eurydike, eine den Tod überwindende, unsterbliche, unstillbare Versunkenheit im anderen, nach der sich jeder Mensch sehne. Und obwohl das der noch viel größere Blödsinn ist als die Steinkiste, glauben's die meisten lieber. Sehnsucht halt. Sehnsucht gegen Wahrscheinlichkeit.
Die Letzten, die sich aber mal so richtig haben faszinieren lassen, waren der Komponist Volker Nickel und der Librettist in diesem Falle und Regisseur in diesem und anderen Fällen Peer Boysen. Sie haben eine Orfeus-Oper gemacht. Die Musik für die Exklusivaufführungen in der Schauburg im Januar spielt das Münchner Kammerorchester unter Christoph Poppen. Die Raummitte, die als Bühne zu betrachten sich das Publikum an den Rändern abgesetzt hat, ist bevölkert von skurrilen Gestalten in wallenden Kleidern, die sich expressionistisch gebärden. Zwei singen Countertenor und umtanzen dabei schrill die Handelnden: Orfeus, Eurydike, Proserpina, Pluto und einen Erzähler, der den roten Faden in der Hand hält. Das ist nicht schlecht, denn das, was da passiert, ist gelinde gesagt durchgeknallt, so geht's hin und her im Countertenorgeplärr und Musikbeiwerk, das munter zwischen atonal und Revuenummer bei Mikrofonschall pendelt. Das ist Hochreiztheater, allerdings produziert von Leuten, die sehr genau wissen, mit welchen Elementen sie da spielen, die damit den ahnungslosen Betrachter weniger verwirren und überfordern als gnadenlos ans Geschehen fesseln.
Apropos Fesseln: Diese werden Orfeus übergeworfen, als er in die Unterwelt gerät, und der - der schaut nur leer, in seine Höllenbänder gewickelt, der baut scheinbar ein richtiges Haus aus leeren Blicken, die ganze Zeit schon. Vorher sogar, wie sie weg war, stellt er nur beiläufig fest: "Ach, jetzt ist sie weg." Was ist denn das für ein Orfeus? - Ein neuer. Hier in der Schauburg ist in einer alten Sage etwas entdeckt worden, das sie beim frisch Erzählen wieder spannend werden lässt. Es ist Proserpina, die ganz gerührt ist von der Geschichte, die ganz gerührt ist, weil sich im faden Totenreich überhaupt was rührt, wenn ihre Ruhe schon mal gestört ist. Sie schickt die beiden Erdlinge wieder zurück. Den beiden ist das Ganze anscheinend vor allem egal. Eurydike beschwert sich ein bisschen, weil der Gatte sie nicht anschauen will auf dem Weg, ob denn ihre Schönheit ihn nicht mehr interessiere. Als ob das nicht der Witz der Sache ist, dass er eben wegen einer uninteressanten Schachtel nicht in den Untergrund gegangen wäre. Gegen das Gemaule ist schwer anzukommen, und deswegen schaut er halt dann doch um und verliert seine Eurydike wieder. Die fällt viel, ist's schon gewohnt über das Stück, schon als die anderen sich über sie hermachen und dann im Hades, da fällt sie besonders viel. Und Tamara Hoerschelmann in ihrer Rolle, die fällt toll, die ist eine gute Eurydike, eine andere mal.
Das ist ein irres Totenreichspektakel, bei dem man wenig Ruhe hat, eigentlich hauptsächlich nur vor einer Sache: Dem ewigen Gesinge über die Liebe. Schön. Und keine Steine natürlich. Braucht auch keiner.

Willibald Spatz
19. Januar 2005

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