PANDAREI & PLENTEN -

DIE RÜCKKEHR DER UNTERIRDISCHEN

 

 

 

 

 

  

 

Ein philosophischer Science Fiction-Trashroman

 

 

 

 

 

 

Für Mona,

die nicht weiß warum

 

 

 

 

 

 

 

Menschen haben keine Ahnung

(Schorsch Kamerun)

 

 

Die Welt geht nicht unter, das sieht nur so aus

(anonym)

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1: Novemberabend

Pandarei blickte auf den riesigen Berg schmutzigen Geschirrs und dachte wieder daran, wie übel ihr doch das Leben mitspielte. Das künstliche Licht und die unangenehm gelben Fliesen hier unten trugen nicht zur Besserung ihrer angeschlagenen Stimmung bei. Außer dem Plätschern des Wassers und dem Klirren des Geschirrs, das durch ihre Hände eine eingehende Reinigung erfuhr, stimmten noch die Schritte der über ihr vorbeigehenden Passanten und die rasenden Autos mit ihren viel zu laut eingestellten Radios in diese traurige Symphonie mit ein. Haßerfüllt ruhten ihre Augen auf den trüben Kellerfenstern, jenseits von ihnen gingen die Leute in ihrer Freiheit herum, die benzolgeschwängerte frische Luft genießend, und nahmen ihr Glück gar nicht richtig wahr.

An Feierabend war noch lange nicht zu denken, denn immer noch strömten dicke, cholesterinverseuchte Menschen durch die Tore dieses Füttertempels, um ihren Körper und ihre Seele weiter zu vergiften. Oh, wenn sie nur könnte...

Schritte waren jetzt auch hinter ihr zu vernehmen. Gleich würde sie angeschrien werden, sie lasse sich zuviel Zeit, es gebe Hunderte, die sich um diesen Job die Finger lecken würden. Sie, als das schwächste Glied einer Kette von menschlich-kulturellen Armutszeugnissen, hatte bestenfalls noch die Möglichkeit, ihrem Frust im Zerdrücken von Küchenschaben Luft zu machen.

Doch nicht Worte, sondern leibhaftige Arme faßten sie von hinten und sie hatte noch Sekundenbruchteile Zeit, um sich über die latente Erotik dieser Grobheit zu freuen bis Schwarz und Nacht sie umgaben.

Zweieinhalb Meter höher saß auf dem Gehsteig vor einem Gourmetrestaurant ein Mann, gerade zweiundzwanzig Jahre, mit langem, lockigen Haar, dunkel, und wildem Bart und hing nicht weniger düsteren Gedanken nach. Seine Kleidung war sehr heruntergekommen und entsprach genau dem, was man einem Penner anziehen würde, um ihn stilecht wirken zu lassen: blaue Jeans, Friesennerz, kaputte Turnschuhe und auf dem Kopf eine Wollmütze. So malte er mit an dieser Komposition aus Gelb: Gelb das Gebäude, an dem er lehnte, gelb das Licht, das aus dem Kellerfenster strömte, gelb der Briefkasten, der seiner linken Schulter Halt war.

Eigentlich saß er hier auf der falschen Straßenseite, denn gegenüber wären viel mehr potentielle Spender vorübergegangen. Gegenüber, wo die Leute in einen Bekleidungssupermarkt liefen, um, wo sie doch gerade mühevoll alles Kultische und Metaphysische aus ihrer Welt geschleudert hatten, aus den Dingen, die lediglich dazu bestimmt waren ihre Haut vor Kälte und Nässe zu schützen, neue Fetische, ähnlich jenen Objekten, die lediglich dazu bestimmt waren, sie die Strecke zwischen zwei Punkten schnell und im Genuß schlechter Radiomusik zurücklegen zu lassen, zu schaffen. So ist die Geschichte nun eine Abfolge von Dostojewski- und Tolstoiphasen, die sich untereinander nur durch gesteigerte Trivialität unterscheiden. Das Gebäude gegenüber war ein Klotz, in elegantem Grau gehalten, stilvoll und geschmacklos durch bunte Neonreklame durchbrochen, die in der gerade einsetzenden Dämmerung ihre volle Pracht entfaltete. Einzig der südländische Geigenspieler störte, dessen grinsendes Gesicht und heitermelodische Weisen jeden vorbeigehenden zehn Meter mit Geborgenheit, Harmonie und Italienwärme versorgten.

Wahrscheinlich unbewußt hatte Plenten - so der Name des Penners - aber vor dem alten Haus Platz genommen, um so dem Gelb noch eine weitere Variation hinzuzufügen. Dieses begann wieder an Charme zu gewinnen, da es allmählich die Auswirkungen der Renovierung, die es vor fünfzehn Jahren schweigend hatte über sich ergehen lassen müssen, ignorierte. Das unpassend gelbe Gelb nahm wieder seinen Straßendreckgrauton an und paßte sich damit dem Friesennerz Plentens an , der dieses Kunststück in wesentlich kürzerer Zeit geschafft hatte.

Die Leute erbarmten sich hin und wieder, ein paar kleine Münzen "für Essen, nicht für Alkohol" fallen zu lassen. Von einem Kellerfenster stieg ein wenig Wärme auf, das Geschirrgeräusch jedoch erinnert ihn immer an das Loch im Magen, das seinem Gefühl nach mittlerweile doppelt so groß sein mußte wie sein ganzer Körper. Wenn er jedoch in diese unzähligen, apathischen, glücklosen Gesichter schaute, die in Wirklichkeit widerlich und häßlich waren, wußte er, daß alles wertlos war und daß er, wenn er auch nur einen Schritt diesen Menschen entgegenginge, er seine Seele für immer verraten und verkauft hätte. Er wollte lieber im Dreck zu Stein erstarren und ein Teil dieser Straße werden, die zum Bahnhof führte und vielleicht einmal eine guten Menschen fort von hier tragen würde an einen besseren Ort, an dem es immer warm war, als unter einer Glühdrahtmetallrohrsonne an Herzhirnverfettung zu krepieren.

Er nahm einen Schluck aus einer Zweiliterflasche Billigwein und schaute grimmig vergnügt auf eine Alte, die sich ganz in Empören wiegte. Sie hatte ein Leben lang gearbeitet für ihre fünf Kinder und ihren Mann, der sie jeden Tag, wenn er betrunken nach Hause kam, zuerst verprügelte und dann vergewaltigte. Sie hatte allen Grund in ihm wahren Abschaum zu sehen, da er nicht eine zufriedene Miene zur Schau stellen mußte, die seit jeher ihr Gesicht quälte. Er macht keinen Hehl daraus, daß er mit Kräften daran arbeitete, sein Leben zu ruinieren. Sie hatte im Prinzip immer dasselbe getan und mußte sich jetzt, wo es für sie und die Welt zu spät war, einreden, es im Großen und Ganzen richtig gemacht zu haben.

Während er sich auf sie fixiert hatte, war ihm entgangen, daß sich der Inhalt des McDonald's-Bechers vor ihm um einen zusammengefalteten Zettel erweitert hatte. Er nahm ihn heraus und las nach dem Auffalten die drei Worte: "Hilf mir! Pandarei".

Er blickte die Straße auf und ab, um jemanden zu entdecken, von dem die Botschaft stammen könnte, mußte aber feststellen, daß jeder seinen gewohnten Gang hatte. In dem Moment schrie einer unter ihm "Pandarei, wo steckst du?", es klang sehr verärgert. Es folgte eine Reihe von Worten, die wenig Leute glücklich gemacht hätten, wären sie mit ihnen bezeichnet worden.

Er stand auf und betrat das Nobelrestaurant, da es sich offensichtlich um einen Notfall handelte. Doch kaum hatte er sich zwei Meter weit in den hellerleuchteten Raum hineinbewegt, als auch schon ein dunkelhaariger, sonnenstudiobrauner Kellner ihn mit den Worten "Wir sind leider voll. Wenn Sie nicht reserviert haben, müssen wir sie bitten, das Lokal zu verlassen." hinausschmeißen wollte. Plenten versuchte zu erklären, daß es sich um einen Notfall handle, daß sich eine Person namens Pandarei in großer Gefahr befinde, obwohl ihr Verschwinden offenbar noch nicht von allen bemerkt worden sei.

Das schien den Kellner, der mittlerweile Verstärkung von zwei Klonen und einem Glatzkopf bekommen hatte, herzlich wenig zu interessieren, denn er brachte etwas unmißverständlicher seine Aufforderung, das Lokal zu verlassen, erneut vor. Da aber Plenten sich davon nicht beeindrucken ließ, sondern weiter darauf bestand, zur Rettung der Person Pandarei in den Keller des Restaurants vorgelassen zu werden, sahen sich die vier Frackgrößen gezwungen, ihren Worten nun Taten folgen zu lassen und Plenten gewaltsam auf die Straße, wo solches Gesindel ja schließlich hingehört, zu befördern. Laut fluchend und das "arrogante Kapitalistenpack" verwünschend faßte Plenten, während er sich vom kalten Asphalt erhob, den Beschluß, nie mehr bedrängten Menschen zu Hilfe zu eilen, da man am Ende immer selbst der Dumme sei.

Dieses nun wirklich nicht appetitanregende Intermezzo hatte im Inneren eine gewisse Unruhe erregt. Jeder hatte andere Details wahrgenommen und man arbeitete nun fieberhaft an der Wahrheitsfindung, um denen, die sich gerade auf der Toilette oder anderswo aufgehalten hatten, genau berichten zu können. Aus dem Keller kam ein aufdringlich gutgekleideter Mann mit dicker Nickelbrille, groß, dunkelkurzhaarig, der wissen wollte, was denn los sei. Ihm wurde von einem der Klonen mitgeteilt, daß sich soeben Abschaum an der Tür gezeigt habe. Abschaum, der mit einem Blatt Papier wedelnd, sich nicht von der Falschheit seiner Behauptung, im Keller werde die Abspülkraft gefoltert, habe überzeugen lassen und den man deshalb auf die Straße, wo solches Gesindel ja schließlich hingehöre, befördert habe. Verärgert und bemüht, dem Vorfall möglichst wenig Bedeutung beimessen zu müssen, murmelte der Kellner aus dem Keller: "Bringt diese Pandarei wieder zum Arbeiten. Nach Feierabend sagt ihr, daß heute ihr letzter Tag hier war!" Die arme Pandarei konnte allerdings nicht mehr aufgefunden werden, ihren ganzen letzten Tag nicht, und man war gezwungen, über das Spülloch hinweg zu improvisieren.

Im allgemeinen Aufruhr war eine kleine Aushilfsbedienung dem Verursacher desselben nachgeeilt.

"Warten Sie!" rief sie.

Er wollte weitergehen, wurde aber am Arm gepackt und hielt, noch einen Rest gute Seele im Leib, in seinem Vorwärtsdrang inne.

"Woher kennen Sie Pandarei?"

"Ich kenne sie nicht, sie befindet sich nur in Gefahr und hat mir die außerordentliche Ehre erwiesen, mich um ihre Errettung zu bitten."

"Was wissen Sie von Pandarei?"

"Gar nichts. Sind Sie Pandarei?"

"Nein, aber wenn sie in Gefahr ist, müssen wir alles tun, um ihr zu helfen. Können Sie mich anrufen?"

"Habe keine Wohnung und kein Telefon. Auf Wiedersehen."

Sie durchwühlte hastig die Taschen ihrer Schürze, aus der sie schließlich ein paar Münzen hervorholte.

"Hier", sagte sie, "130154, bitte."

Er nickte und sah sie verschwinden.

Er räumte nicht wie gewohnt seinen Platz, um für die Nacht einen wärmeren Unterschlupf zu suchen, sondern wartete bis zur Schließung des Restaurants auf der Straße, sah diese von immer weniger Menschen passiert werden, aussterben. Er ertrug auch die Kälte ohne aus seiner ansonsten unentbehrlichen Flasche zu trinken. Es kann sein, daß ihn nur die Hoffnung auf ein Lager für die Nacht, mit vier festen Wänden, einem Dach und beheizt, all dies ertragen ließ. Er wartete gegenüber in einem Hauseingang, aus dem den ganzen Tag die wunderbare Geigenmusik erklungen war.

Wie er dort stand, verlor er nach und nach das Gefühl für seinen Körper, wurde ausschließlich Auge und Ohr, nur noch Wahrnehmung. Der Zeitstrom änderte seinen geraden Fluß und krümmte und wand sich, wurde zum See. Eine Müdigkeit überkam ihn, die ihn in einen Zuschauer im Kino verwandelte. Überhaupt nichts sprach dafür, daß diese Straße noch Teil jener Wirklichkeit war, in der er selbst handelte. Es geschah wenig, so wenig wie in einem Wim-Wenders-Film, es war aber nicht so langweilig wie in einem Wim-Wenders-Film.

Irgendwann verließen drei englischsprechende Herren das Lokal, um diesem herrlichen Geschäftstag noch gebührend abzuschließen, die letzten Gäste. Drinnen wurde aufgeräumt, nach und nach ging das Personal aus dem immer dunkler werdenden Bau bis nur noch aus dem Kellerfenster Licht drang, das schließlich auch noch erlosch. Es dauerte einige Augenblicke bis der Grund von Plentens stehendem Warten den ersten Schritt vor die Tür setzte, um den qualvoll herbeigesehnten Nachhauseweg anzutreten.

Plenten trat aus dem Schatten des Hauseingangs wieder in die Wirklichkeit, das Spielfeld, die Bühne. Da sie die Schritte hinter ihr nervös machten, beschleunigte sie ihren Gang. Als ihr Verfolger daraufhin seine Geschwindigkeit ebenfalls erhöhte, wurde sie langsamer, aus Unwillen, sich jetzt noch mit Problemen auseinanderzusetzen. Ihretwegen konnte man sie von hinten packen, ihr die Kleider vom Leib reißen, sie vergewaltigen, anschließend in Teile schneiden und Stück für Stück an berühmte Persönlichkeiten aus Politik und Kultur im Land schicken.

Wenigstens hätte sie dann den langen Heimweg nicht mehr vor sich und wäre ein für allemal ihre Probleme los. An Pandarei und den Vorfall dachte sie nicht mehr, obwohl deren plötzliches Verschwinden ihr nicht nur die unwillkommenen Überstunden, sondern auch einige sorgenvolle Gedanken - immerhin waren sie fast Freundinnen - bereitet hatten. Aber im Lauf des Abends hatte die Erschöpfung alles andere hochkant aus ihrem Körper und Kopf geschmissen.

Rasch hatte er sie eingeholt, klopfte auf ihre Schulter. Ein kurzer Augenblick des Zusammenzuckens und Erschreckens, umdrehen und erkennen, Erleichterung.

"Sie sind es."

"Mein Name ist Plenten."

"Ich bin Alexandra."

"Weißt du, warum Pandarei sich in Gefahr befindet?"

"Nein, ich weiß nur, daß sie verschwunden ist, als du im Lokal aufgetaucht bist."

"Wer ist sie ?"

"Pandarei hat im selben Haus wie ich ein Zimmer. Ich habe ihr den Job verschafft."

"In der Küche?"

"Als Hilfe. Im Prinzip mußte sie nur Geschirr waschen im Keller."

"Vielleicht hatte sie einfach keine Lust mehr, den Fußabtreter für die feine Gesellschaft zu spielen und ist abgehaut. Wie wäre das?"

"Und dann bittet sie einen Penner, der sie nicht einmal kennt und der selbst auf die Abfälle dieser feinen Gesellschaft angewiesen ist, um seine bescheidene, aber gutgemeinte Mithilfe bei... ja, bei was eigentlich?"

Während ihres Gesprächs hatten sie einen Fußmarsch unternommen, zuerst durch die hellerleuchtete Bahnhofstraße, dann in immer kleinere Straßen, die nicht ganz ungefährlich aussahen bis sie am Ende einer Sackgasse vor einem gewaltigen, grauen Schuhkarton standen. Es wäre jetzt folglich der Zeitpunkt gekommen, in dem sie ihn zu sich in die Wohnung auf einen Schluck Tee hätte hinauf bitten müssen, wenn sie Wert darauf gelegt hätte, ihr Gespräch fortzusetzen.

"Hier wohne ich. Du kannst dich morgen mal bei mir melden, dann kann ich dir sagen, ob sich irgendwas Neues ergeben hat."

"Du hältst es also nicht für nötig, sofort etwas zu unternehmen?"

"Was denn? Melde dich einfach, vielleicht hat sie keine Lust mehr gehabt, den Fußabstreifer zu spielen..."

Die letzten Worte hatte sie gähnend hervorgebracht. Die Konversation hatte ihre Müdigkeit nur kurze Zeit verdrängt und die kam unvermittelt wieder, möglicherweise weil sie die Nähe einer weichen, warmen Matratze spürte.

"Heute nicht!" blinkte es in Plentens Gehirn in Neonschrift auf, als sie den Schlüssel ins Schloß steckte und die Tür öffnete, die nach ihrem Verschwinden nur langsam wieder zufiel, während sie bereits die Treppe hochstieg. In dem Moment riß er die Tür noch mal auf, um ebenfalls in das Dunkel des Hauses einzutauchen, und schloß sie dann gut hörbar. Er horchte und konnte feststellen, daß sie ihre Schritte nicht verlangsamt hatte, sein Eindringen unbemerkt vonstatten gegangen war.

Er wartete bis die Geräusche auf der Treppe verklungen waren, ihre Wohnung sie verschluckt hatte und er zum einzigen Säuger in diesem Treppenhaus geworden war. Seine Augen hatten sich schon soweit an die Finsternis gewöhnt, daß er die Aufschriften an den Klingelknöpfen des Erdgeschosses mit Hilfe des durch ein Fenster über der Eingangstür einfallenden Straßenlichts lesen konnte.

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