Kapitel 2: Träume

Der Heartbreaker-Riff von Led Zeppelin durchriß die Stille des Raums, wobei es sich nicht unbedingt um einen Raum handeln mußte, denn seine Wände, wenn er sie besaß, lagen vollkommen im Dunkeln.

Sie fühlte Weiches unter sich, konnte aber nur erahnen, auf was sie lag. Das einzig sichtbare war ein scheinbar frei schwebender Teller und ein Glas daneben, beides gefüllt und von einer nicht erkennbaren Lichtquelle angestrahlt. Da sie tatsächlich Bedürfnis nach Eßbarem hatte, setzte sie sich vorsichtig in Richtung des Tellers in Bewegung. Als sie ihre Füße aufsetzte, fühlte sie ordinären Stein unter sich.

Auf dem Teller lagen ein Paar Wiener Würstchen, Senf und eine Scheibe Brot, im Glas Weizenbier, alles lauwarm. Sie begann mit großem Appetit zu essen. Mit einem Mal waren bunte Kristalle vor ihren Augen und flogen immer schneller werdend in ungeometrischen Bahnen einen Kreis um sie bildend. Bald schien es, daß nicht die Kristalle sich bewegten, sondern sie selbst sich und die Welt um sie herum in völlige Ruhe versunken sei. Sie wurde emporgehoben und von unbekannten kosmischen Mächten in ein gewaltiges Spiel verwickelt. Ein Schwindel ergriff sie und gerade als sie drohte wieder, in Ohnmacht zu fallen, hatte sie wieder festen Boden unter den Füßen. Sie fand sich in einem etwa zwei Meter breiten Gang wieder, dessen eines Ende in völliger Dunkelheit lag, der auf der anderen Seite aber in eine Tür mündete, die eine Spalt weit geöffnet war, dahinter war Licht.

Zögerlich geht sie darauf zu, da bemerkt sie, daß die Wände sich zur Mitte hin bewegen und sie beschleunigt ihren Schritt. Doch auch der Gang verschmälert sich schneller. Schreiend fällt sie zu Boden. Beim Wiederaufrichten sieht sie, daß die Mauern stillstehen. Eilend richtet sie sich auf und stürzt zur Tür. Als sie sie zu fassen bekommt, steckt sie fest, kein vor und kein zurück. Alle Befreiungsversuche bewirken nur, daß der Druck nur noch größer wird. Sie verliert das Bewußtsein.

Ein leiser Wind strich ihr um die Nase. Die Tür stand weit geöffnet. Sich überschlagend fiel sie in den Raum, es handelte sich um ein riesiges Theater. Nur die Bühne war beleuchtet., ein leichter Schwefelgeruch lag in der Luft.

Durch die leeren Sitzreihen ging sie vor zur Bühne. Auf ihrer Rückwand waren zwei aufgestellte Haifischflossen aufgemalt, darunter ein Rechteck.

Er war bis zum obersten Stockwerk emporgestiegen. Dort stand eine Tür zu einer Wohnung halb offen, drinnen war es hell erleuchtet und Musik - Rock'n'Roll - klang gedämpft hervor. Der Klingelknopf sagte ihm, daß seine Suche ein Ende habe. Glücklich, ihn nicht benutzen zu müssen, trat er beherzt ein. Es handelte sich um ein kleines Zimmer mit einem niedrigen Bett in der Ecke, der Tür gegenüber, einem quadratischen Fenster darüber, einem Kleiderschrank daneben, dann in der anderen Ecke ein Waschbecken mit Herdplatte und kleinem Kühlschrank, ein Tisch, ein Stuhl - Besuch wurde hier offenbar nur selten empfangen -, schließlich eine kleine Anrichte mit einer Stereoanlage darauf. Darüber, darunter, daneben unzählige Platten mit Musik, die älter war als er. Über dem Bett thronte überlebensgroß der King auf einem Plakat. Auch sonst waren die Wände eine große Rock'n'Roll-Gallerie, alle Großen hatten irgendwie hierher gefunden: Bilder von Chuck Berry, Zeitungsausschnitte von Lee Hazelwood und Nancy Sinatra, Haarlocken von Marilyn Monroe, Gitarrensaiten von Konrad Adenauer, zerrissene Hemden von Louis Armstrong und diverse ähnliche Fetische mehr.

Er beschloß, auf Pandarei zu warten, ging zu dem kleinen Kühlschrank neben der Herdplatte, fand darin einige Dosen Bier und nahm die Einladung dankend an. Auf dem Bett sitzend merkte er , wie müde er war und sank bald in tiefen Schlaf.

Da löste sich der King von der Wand und ging zu einem Spiegel mit der Originalunterschrift Eric Claptons, rot wie Lippenstift, er ging zu dem Spiegel, blickte tief hinein und sagte:

"Damned, I'm lookin' good!"

Dann verließ er den Raum, indem er Plenten mit eine Handbewegung zum Mitgehen aufforderte.

Der zögerte nicht lange und folgte ihm nach, denn wie oft fordert der King einen schon auf, ihm nachzufolgen im Leben? Doch als er auf den Gang trat, war niemand mehr zu sehen. Es war da auch kein Treppenhaus mehr und auch keine Stadt, sondern nur weites Feld, karges, leeres Land. Eine klare, helle Sommernacht, nur der Mond war getrübt: Ein Schmierfink hatte in krummen, roten Buchstaben "Tötet Nobnoj Smada!" daraufgeschrieben.

Nobnoj Smada war der Name eines bekannten Popstars, der alles, was er berührte in Gold verwandelte, Mikrophone, Gitarren und vor allem Schallplatten. Sein letzter Hit, den sogar die Kinder im Garten und die Alten im Heim mitsangen, war "I love you, because you have so blue eyes, because I love you", eine Ballade. Darüber hinaus war er ein äußerst erfolgreicher Schriftsteller, von Preisen überhäuft. Die größten Regisseure von ganz Hollywood stritten wie junge Hunde darum, seine Romane verfilmen zu dürfen. Dabei war er aber einer aus dem Volk, einer von uns geblieben, ebenso bescheiden und fromm, ganz ohne Starallüren. Jede Weihnacht fuhr er zu seinem fast tauben Mütterlein, die immer noch in einem ärmlichen Villenvorort von Los Angeles ihr kümmerliches Dasein fristete. Er bracht ihr dann Geschenke aus allen Ländern mit, in die ihn seine Tourneen führten, und sie hielten sich die Hände, weinten manchmal und gedachten der frühen Zeit, als er noch ein Kind gewesen war, eine harte Zeit: Der Vater war ein Säufer gewesen, der nur um wenige Stimmen die Präsidentschaft der USA verfehlt hatte, obwohl er kurz davor als größter Kinderpornohändler der westliche Hemisphäre entlarvt wurde von seinem nichtswürdigen Gegenkandidaten, der dann als Präsident die westliche Hemisphäre nahe an den Rand des wirtschaftlichen Ruins brachte, auch wenn er die gesamte Pornographie und den Vertrieb besser organisierte. Hart war es, als seine zersägte Leiche in der Mülltonne vor ihrem Haus von einem Kindermädchen entdeckt wurde. Die zugegeben nicht geringe Lebensversicherungssumme sicherte ihr Auskommen die nächsten Jahre, ließ sie gar zu einigem Wohlstand kommen, zumal die Mutter die Kontakte zur Pornoindustrie nie ganz abreißen ließ und einen guten Riecher für Investitionen besaß. Auch in der Schule war er immer ein Außenseiter gewesen, weil er nie mitmachte, wenn die anderen Jungs ihre Mitschülerinnen auf die Lehrertoilette zerrten, sie dort vergewaltigten und liegen ließen bis ein Lehrer kam, der sie dann ins Krankenhaus bringen konnte, ihre lebensgefährlichen Schnittverletzungen zu behandeln. Nein, er wirkte immer irgendwie abwesend, auch wenn er nur einmal beim Schnupfen von Kokain erwischt worden war, ein Träumer, der viel lieber Gedichte schrieb und Pornovideos anschaute als mit den anderen Baseball zu spielen. Er war ein begabtes und sensibles Kind und der Liebling aller Lehrer und Mädchen, was oft den Neid seiner Klassenkameraden erregte, die ihn dann mit Ledergürteln nackt auf ein Bett fesselten, ihm Stecknadeln unter die Finger- und Zehennägel schoben und ihn solange das Alphabet rückwärts aufsagen ließen bis er sich erbrach. Das alles trieb ihn nur noch weiter in die Isolation. Einzig bei seinem Großvater, einem jüdischen Neger mit indianischem Blut, dessen Eltern nach Deutschland ausgewandert waren und der im Zweiten Weltkrieg von dort wieder aus einem KZ mit Hilfe eines katholischen Priesters und eines Gartenhandschuhs nach Amerika fliehen konnte, einzig bei ihm fand er Zuflucht. Er war es auch, der ihm aus einem alten Fernseher und Schlachttierabfällen eine elektrische Gitarre baute, auf der er täglich stundenlang übte und auf der er Lieder komponierte, was ihn noch beliebter bei den Mädchen machte. Als er die Schikanen seiner Mitschüler nicht mehr länger ertragen konnte, packte er seine Sachen und seine Gitarre und tingelte durch Europa mit seinen Liedern, wo er in Glasgow vom Direktor einer Plattenfirma beim Einkaufen in der Fußgängerzone entdeckt wurde. Er kannte Smadas Namen noch von dessen Vater, weil er, bevor er ins Plattengeschäft eingestiegen war, ebenfalls pornographische Videos vertrieben hatte. Von nun an ging es steil bergauf in Nobnojs Karriere, alle seine Platten wurden große Hits, die Radiosender spielten seine Stücke auf und ab. Seine Tourneen führten ihn in die exotischsten Länder. In Afrika wurde sogar für ein Konzert in der Hauptstadt der dort tobende Bürgerkrieg unterbrochen. Höhepunkt dieses Events war, wie bei der sechsten Zugabe Rebellen in das Fußballstadion eindrangen, den Präsident ermordeten, ihn an Ort und Stelle brieten und aufaßen. Nobnoj bekam als Zeichen der Ehre und Achtung, die er auch bei den neuen Machthabern genoß, das Ohrläppchen, das beste Stück, in Petersiliensoße geschmort. Auch war er der erste westliche Popstar, der in China auf dem Platz des Himmlischen Friedens spielen durfte im Rahmenprogramm der Hinrichtung von vier Studenten, die etwas über den Durst getrunken hatten und dann angeblich revolutionäre Lieder grölend durch die Straßen gezogen waren. Das Ganze war ein Riesenereignis und wurde in alle Welt übertragen. Die Politiker überall lobten die grausame, menschenverachtende, aber gerechte Justiz Chinas und die Völkergemeinschaft wuchs noch enger zusammen. Erst im Nachhinein stellte sich heraus, daß die Studenten nicht revolutionäre Lieder, sondern Nobnojs damaligen Hit "I love you, I hold you, that's what I do" gesungen hatten, doch diese kleine Marginalie tat dem Freudentaumel, in dem sich damals Ost, West, Süd, Nord, Schwarz, Weiß, Kotzgrün, Blutrot und Eitergelb in die Arme fielen, keinen Abbruch. Drei Literatur- und ein Physiknobelpreisträger arbeiteten fieberhaft an seiner Biographie und jeder behauptete von sich, in der Silvesternacht 1998 auf einer Party in Melbourne mit ihm geschlafen zu haben, dabei war er in jener Nacht krank und betrunken in seinem Bett gelegen in seiner Wahlheimat Gelsenkirchen. Sein Leben wurde gerade zum siebten Mal verfilmt, das Drehbuch hatte er selbst verfaßt und Anthony Quinn spielte ihn als 8ojährigen Greis, der nach dem Atomkrieg den Überresten seiner Enkel seine Geschichte erzählte. Mit seinen gerade dreißig Jahren hatte er sich meisterhaft die nächsten fünfzig Jahre seines Lebens ausgedacht. Auch seine gerade sieben- und neunjährigen Töchter, die er von seiner ersten und zwölften Frau, die identisch waren, hatte, waren schon erfolgreiche Sängerinnen und Schauspielerinnen. Die jüngste hatte sogar vergangenes Jahr den "Edgar", den "Oskar" der amerikanischen Pornoindustrie, gewonnen für den besten gespielten Orgasmus. Er machte Werbung im Nachtfernsehen für Kondome, Fast-Food-Restaurants, Telefonsex und eine bessere Welt und spendete jedes Jahr 500 Dollar für verhungernde Kinder in Äthiopien.

Und nun hatte irgend jemand den Mond bemalt mit einer Aufforderung, einem solchen Menschen das Leben zu nehmen! Plenten wäre dieser sofort nachgekommen; er gehörte nämlich auch zu den Menschen, die damals ganz gerne dabeigewesen wären, als sie ihn ans Bett gefesselt und ihm Stecknadeln unter die Fingernägel geschoben hatten. Ja, so war das.

Er lief weiter über das Feld und rief abwechselnd Pandareis und des Kings Namen. Er achtete dabei nicht auf den Boden unter seinen Füßen, der plötzlich aufhörte, ihn zu tragen und ihn verschlang. Er fiel und fiel in eine Röhre und die wand sich und endete in einem Raum, der aussah wie eine Theatergarderobe. Es klopfte an der Tür und eine dumpfe Männerstimme sagte: "Noch zwei Minuten, Mr. Presley." Er riß die Tür, auf der ein goldener Stern klebte, auf , um des Besitzers der Stimme ansichtig zu werden, doch da war dann nur ein leerer Gang mit vielen Türen, die verschlossen waren und eine Treppe, die er schließlich hinaufstieg.

Als er auf der obersten Stufe angekommen war, stand er auf einer Bühne und die Band begann zu spielen, die ersten Takte von "His Latest Flame". Das Mikrofon stand einsam am Rande der Bühne und er nahm es mit einem lockeren Schwung, denn ein Mann muß tun ,was ein Mann tun muß. Mit stolzem, wildem Blick sang er den Song, dessen Text er nie gelernt hatte. Seine Stimme klang klar und fest, obwohl er früher nie einen Ton richtig getroffen hatte, so daß er sich nicht einmal als kleiner Junge in der Kirche hatte singen trauen. Und jetzt war alles wunderbar, er stand auf der Bühne und war ein Star! Die Band, alle Ausnahmemusiker, spielte nur für ihn und das ganze Universum stieg in die Harmonie mit ein. Die größte Rock'n'Roll-Show auf Erden!

Als er sich ein wenig an das blendende Scheinwerferlicht gewöhnt hatte, schaute er in den riesigen, leeren Zuschauerraum. Nur unmittelbar vor der Bühne stand ein blondes Mädchen mit Sommersprossen im Gesicht, etwas ungeschickt geschminkt, mit klaren, blauen Augen, einer auffälligen Nase, die das schmale, ovale Gesicht nicht schöner, aber viel interessanter machte. Ihr Blick, der von den vielen Tränen schon trübe geworden war, hatte immer noch einen kindlich-hoffnungsvollen Schimmer mit einem leichten Drang zu Riot und Revolution in letzter Zeit. Ihr Mund mit seinen schmalen, durch Rotstift verstärkten Lippen trug die Andeutung eines geheimnisvollen Lächelns, eines Lächelns, das nie zustande kam, das immer kurz vor seiner Vollendung in Salzwasser erstarrte. Darin lag eine unendlich schöne Traurigkeit und zugleich ein Gefühl der Geborgenheit Heute trieb sich auf ihren Gesicht auch der Ausdruck einer fast religiösen Verzückung, einer tiefen inneren Zufriedenheit herum und auch ein ungeübtes Auge konnte erkennen, daß das nicht oft vorkam.

Da stand sie! Noch viel schöner als er sie sich im Traum vorzustellen gewagt hatte, mit ihrer neckisch, blauen Jeanshose und ihrem enganliegenden, buntquergestreiften T-Shirt, mit ihrer Latexküchenschürze, auf der ein weinender Koch abgebildet war, der Zwiebeln schnitt. Doch die Zwiebeln waren keine Zwiebeln, sondern kleine Erdkugeln. Und der Koch weinte auch nicht wegen des Zwiebelsafts, sondern wegen eines kleinen schwarzen Männchens mit wallendem Vollbart, das ihn mit einer vorgehaltenen 45er zwang, weiterzumachen.

Plenten wollte auf sie zugehen, sie endlich in seine Arme schließen, aber das Kabel des Mikrofons schlang sich tückisch um seine Füße und er stürzte in einen Abgrund, einen tiefen, schwarzen. Alles war verschwunden bis auf die Dunkelheit und den Fall. Irgendwann - nach Stunden, wie es ihm schien - tauchte er ein in einen warmen, weißen Milchsee und er sank tiefer und tiefer in einen Schlaf, der seine tausendfachen Arme nach und nach um seinen Körper, um jedes einzelne Teil bis zum kleinsten Kapillar schloß.

 

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