Kapitel 10: Early Morning Blues

Es roch nach zuviel Rasierwasser und Schweiß, der sich wieder zu seinem Recht verhalf. Er fühlte sich an wie viel zuviel Fleisch mit viel zu viel Haaren. So schön widerlich kann Liebe sein.

Sie war nicht zur Arbeit erschienen, hatte den Telefonhörer auf die Seite gelegt. Sie war nur da, hatte sich selten so ganz Mensch gefühlt.

Sie sagte nicht zum Augenblick: "Verweile!", sondern stand auf, um Kaffee zu kochen.

Als sie zurückkam, lag er auf dem Bett und machte ein mürrisches Gesicht, soweit das durch seinen Bart durchkam oder verzerrt wurde.

"Hast du etwas, das Töne erzeugt?"

Sie wies auf ihre Kompaktstereoanlage und ihre umfangreiche Plattensammlung von AC/DC bis ZZ Top.

"Nein, ich meine, womit man selbst Musik machen kann."

"Ich habe früher mal Blockflöte gespielt."

"Lange her?"

"In der Grundschule."

Sie saß wieder neben ihm auf dem Bett, den grünen Fleck ganz gut verdeckend. Beide hatten sie eine Tasse heißen, dampfenden Kaffees in den Händen, wärmten sich daran, denn es war kalt geworden, auch drinnen. Sie plazierte noch einen Aschenbecher in die Mitte uns zündete sich eine Zigarette an. "Hast du diesen Plenten gekannt?" wollte er wissen.

"Nur flüchtig. Er war mal hier."

"Hier? Wann?"

"Vorgestern nacht."

"Ja? Und was hat er gemacht?"

"Er war sehr besoffen, er hat sich ausgeschlafen."

"Das kann sein. Und wie kommt er ausgerechnet zu dir?"

"Weiß ich nicht. Mitte in der nacht hat er plötzlich an der Tür geklingelt und war da."

"Du hast offenbar ein offenes Herz für Wärme suchende Menschen."

"Vertraust du mir?"

"Ob ich dir vertraue? Sag mal, ich kenne dich noch keine 24 Stunden und du fragst . . . Hey was ist denn? Habe ich was Falsches gesagt?"

Worte huschten in und um und zwischen ihre Körper. Worte, die gedacht und gesprochen wurden. Worte wirr und Worte klar verhüllten die Sicht zwischen ihren Körpern, machten sie klar, machten sie wieder trübe, wurden alleinige Herren der Situation, ohne daß die Menschen etwas dagegen tun konnten, ohne daß sie ihre Bevormundung rechtzeitig bemerken konnten. Liebe Leute, dies hier ist ein Märchen.

"Ich werde Ärger kriegen im Restaurant."

"Baby, die Welt endet hinter diesen vier Wänden."

"Die ich mir nicht mehr leisten kann, wenn ich diesen Job verliere. Ich rufe besser an."

Bevor er irgendwas machen konnte, war sie bereits am Telefon und wählte. Er zog es vor, sich noch einmal tief in die Kissen sinken zu lassen, dabei hätte er beinahe den Aschenbecher umgekippt, zumindest neigte dieser sich schon bedrohlich. Außerdem strich er mit dem Unterarm über jene Stelle mit getrocknetem Erbrochenem, dachte aber im ersten Moment nicht an Erbrochenes.

". . . meine Mutter sehr krank. Ich mußte kommen."

"Tut mir leid, es soll nie wieder vorkommen."

"Weiß ich nicht. Tut mir leid."

"Tut mir leid, es soll nie wieder vorkommen."

"Selbstverständlich."

"Bis später, Auf Wiedersehen."

"Arschloch." - Nach dem Auflegen.

"Was ist?"

"Er war sehr aufgebracht."

"Aufgebracht?"

"Ja. Es ist wohl besser, wenn du jetzt gehst. Ruf doch mal an!"

"Werde ich machen. Tschüs."

Kuß auf den Mund. Tür zu.

Wieder auf den Straße konnte er folgende Szene beobachten.

Ein kleiner Junge rannte weinend, seine blutende rechte Hand haltend zu seiner Mutter: "Mami, Mami, Evi hat mir den Finger abgebissen. Alle Mädchen sind doof." Gegenüber stand ein kleines Mädchen und kaute Kaugummi. Ihr Mund war rot wie Marmelade. Sie verstand den Rummel nicht ganz, der um sie stattfand. Wieso wollten diese Leute alle, daß sie den Finger ausspuckte, diesen kleinen Finger?

"Wenigsten kann er noch ein guter Baßist werden," dachte der Baßist und ging weiter.

Im Nachmittagsprogramm lief ein tschechischer Kinderfilm, das Kino war leer. Als er danach ein Teller Pommes Frites in Bratensoße - er hatte lange mit dem Mann hinter der Theke verhandeln müssen - verzehrte, fühlte er sich auch nicht viel besser. Er wußte, daß Musik ihn jetzt töten würde. Er starrte durch das Fenster auf die Straße, auf die vorbeifahrenden Autos, auf den spiegelverkehrten Schriftzug, der jedem vorbeigehenden verkündete, daß es sich hier um "Sepp's Brotzeitecke" handle - mit falschem Apostroph.

Ein Mann, der am Nebentisch stand, ein Handwerker, wollte den Salzstreuer. Er reichte ihn ihm.

"Klasse Wetter, diesen Herbst, nicht?"

"Jaja."

Alexandra lag auf ihrem Bett, auf ihrem Fleck und starrte die Wand an. Immer hatte sie geglaubt, sie laufe durch einen langen, grauen Tunnel, an dessen Ende ein grünes Licht schimmerte, doch nun mußte sie feststellen, daß es nur eine graue Wand gewesen war, gegen die sie gelaufen war und daß das mit dem grünen Licht reine Einbildung gewesen war.

Von drunten hörte sie Kindergeschrei, von wegen hinter diesen Wänden endet die Welt! Diese Welt endet niemals. Sie war ein kleiner Tropfen auf den unendlich heißen Stein der Ewigkeit.

An diesem Nachmittag beschloß Alexandra sich sehr schlecht zu fühlen, weil unglückliche Menschen und Verlierer viel intensiver leben, den Momenten mehr Ewigkeit abgewinnen.

Ein Straßenmusikant stand und spielte. Er sang Lieder von sich und seiner Heimat irgendwo hoch im Norden oder im Süden.

Zehn Meter weiter standen junge Indios und sangen Lieder vom Kokain kauen. Sie machten einen Höllenlärm mit Gitarren und Flöten. Es war, glaube ich, 'El Condor Pasa', was sie schon eine dreiviertel Stunde lang spielten, was die Leute schon ebenso lange beklatschten und mit schwer verdienten und herumgetragenem Hartgeld entlohnten.

Von dem Sänger mit der Gitarre konnte man nur etwas verstehen, wenn man sich sehr nahe an ihn hintraute, was man nicht tat.

Manchen ärgerte das.

 

 

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