Kapitel 11: Flucht
"Come mai mi hai lasciato
?"
Irgendeine verrauchte italienische Stimme quoll etwas zu laut durch die
Boxen, um nicht davon genervt zu sein. Es war eine jener etwas schmuddeligen
Kneipen, die versuchten einen Hauch von Nostalgie zu erzeugen, indem sie
Musikboxen und Flipperautomaten auf den Wegen zu ihren Toiletten aufwiesen.
Leute, die sich davon angezogen fühlten, waren in der zweiten Lebenshälfte,
hatten Bierbäuche, Goldketten, Augenringe und schlechte Dauerwellen und
blickten alle auf bessere, alte Zeiten zurück, tranken Weizenbier und Pils in
Mengen, die ihnen ihr Arzt verboten hatte, und Gespräche über Sex, Politik und
manchmal auch Fußball.
Ein Tisch in der Ecke war mit ein paar 13- bis 14-jährigen besetzt, die
durch den Genuß von branntweinhaltigen Getränken allmählich in einen Zustand
versetzt wurden, der sie ihre teuer erstandenen Fast-Food-Produkte in Lachen
Mutter Erde zurückgeben lassen würde. In regelmäßigen Abständen stand einer
auf, um verzweifelt und zum wiederholten Male den Inhalt der Jukebox zu prüfen,
leider nichts dabei und doch erweckten sie hinter vergeblich schön geschminkten
Gesichtern eine traurige Sehnsucht nach Jugend, Tanz und verlorener Liebe.
Heinz fiel nicht auf von seinem Äußeren her, er war nur etwas unkommunikativer
als die anderen. Er sah aus als hätte er Kummer, wäre gerade von seiner Frau,
die er schon seit über zehn Jahren liebevoll "Alte" nannte, vor die
Tür gesetzt worden oder als hätte er heute vom Arzt erfahren, daß er Krebs und
nur noch zwei Monate zu leben habe, falls er nicht aufhöre weiterzumachen wie
bisher. Irgendein Pfarrer hatte ja mal gesagt, daß man gar nicht wisse, ob der
Tod so schlimm sei.
Doch Heinz war nichts dergleichen widerfahren. Er hielt sich für so
attraktiv und bemittelt, daß er es nie für nötig erachtet hatte, eine feste Bindung
einzugehen, sagte er. Nein, Heinz war einfach deswegen so schweigsam, weil er
sich Gedanken über sein Leben machte aus der dunklen Ahnung
heraus, daß er es irgendwie komplett verkorkst habe, wie es jeder macht.
Er dachte über Nobnoj Smada nach, von dem er unglaublich abhängig war und
über den man, sollte man ihn persönlich kennen, nicht nachdenken sollte, weil
man sonst zwangsläufig Depressionen bekam, er dachte über Plenten und Pandarei
nach, die ihm leid taten und über das Purple Haze, jenen Laden, der seine
Identität war; doch daß nicht einmal der Gedanke daran ihn aufheiterte, machte
ihn traurig und er bestellte einen Korn. Als er danach immer noch traurig war
bestellte er noch einen Korn, als er dann immer noch traurig war, fing er an
von vorn.
"Come mai mi hai
lascato?" sang die rauchige italienische Stimme. Die Auswahl an
brauchbaren Titeln in der Jukebox war wirklich nicht sehr groß.
Plenten fand die gelegentlichen Besuche Heinz' viel angenehmer als die
Nobnojs. Heinz war kein sehr intelligenter Mensch, aber man konnte sich mit ihm
unterhalten, man konnte ihn verwirren, wenn man ihm etwas erzählte, das auch
nur ein bißchen originell klang und aus den relativ konventionellen Denkbahnen,
in denen Heinz' Verstand sich bewegte, ausbrach. Heinz war offen, zwar nicht
unbedingt in der Lage, alles zu durchschauen, aber offen und es machte Plenten
nichts aus, wenn jener Verdrehtes weitererzählte. Hauptsache, er wurde etwas
geistigen Ballast los. Manchmal schaukelte sich das Ganze auch in selbst für
ihn schwindelerregende Dimensionen auf, denn Heinz war frustriert und konnte
auch zum Reden gebracht werden.
Es war also eines sonnigen Tages - und die Sonne schien, wie bereits
erwähnt, jeden Tag -, als Heinz begann: "Du verwunderst mich."
"Wieso?"
"Seit du hier bist, hast du noch kein einziges Mal gefragt, wo du
hier bist, was du hier sollst oder wie lange du hier bleiben sollst. Weißt du
eigentlich, welches Datum wir heute haben?"
"Nein, es interessiert mich auch nicht im geringsten. Ich weiß, wenn
ich anfange darüber nachzudenken, könnte es sein, daß mich dieser Zustand
irgendwann anödet, was er bis jetzt noch nicht tut, was mir relativ willkommen
ist."
"Hast du Angst?"
"Nein."
"Nobnoj ist ein Psychopath."
"Ich weiß."
"Und du hast keine Angst?"
"Nein, keine."
"Du fragst auch nicht mehr nach Pandarei."
"Sollte ich das denn?"
"Nicht zuletzt bist du in das Ganze ihretwegen hinein geraten."
"Ich weiß gar nicht, was 'das Ganze' sein soll. Vieles von dem, was
ich in letzter Zeit erlebt habe kommt mir vor wie ein Traum oder etwas, das für
mich inszeniert wurde. Es geht mir nicht schlecht, wieso sollte ich also
fragen, was 'das Ganze' soll. Bei Träumen frage ich auch nicht, woher sie
kommen."
"Du hast dich aber einmal sehr für Pandarei interessiert. Und der
Rock 'n' Roll? War das nichts? War das alles konstruiert?"
"Damals war ich ein anderer Mensch."
"Du weißt nicht einmal, wie lange, 'damals' her ist. Du lebst in
Romanen."
"Im Elfenbeinturm, genau. Ich habe nicht die geringsten Probleme
damit. Ich glaube, ich habe mich dafür entschieden, kann mich
rechtfertigen."
"Scheiße."
"Was?"
"Scheiße!"
"Genau."
"Ich dachte, ich hätte einen Verbündeten."
"Einen Verbündeten."
"Ja, ich muß hier raus. Weg. Verstehst du. Nobnoj ist ein Gefängnis,
eine Falle. Wer ihm einmal ins Netz gegangen ist, der kommt nicht mehr davon.
Er scheint harmlos zu sein, man kann alles mit ihm machen, wenn man auf seine
Tageslaune entgeht, aber wenn man versucht, sich von ihm zu lösen, kann das
tödlich sein. Siehst du das?"
Er zog mühsam seine Hand hoch und enthüllte eine zwanzig Zentimeter lange
Narbe quer über seinen Bauch. "Und das?" Er hatte sein
speicheltriefendes Gebiß in der Hand. "Und das?" Er verdrehte seine
Augen solange bis wieder die Pupillen vorne waren. Plenten nickte dreimal schwerfällig.
"Das kommt alles von fehlgeschlagenen Fluchtversuchen. Schläger,
Hunde, Minen, er setzt alles ein und am selben Tag noch unterhält er sich mit
dir als wäre nichts gewesen."
"Schlimm, schlimm." Noch konnte Plenten sich nicht richtig für
die Tragik des Augenblicks erwärmen.
"Aber zu zweit könnte es klappen, zumindest für einen von uns.
Nachdem du ja sowieso nicht so sehr am echten Leben interessiert bist. .
."
"Ich will noch nicht sterben!"
Zum ersten mal schien Plenten wieder mit Zehenspitzen den Boden zu
berühren. Heinz bemerkte das nicht bewußt, es ging ihm wirklich um etwas tief
drinnen.
"Der Tod muß nichts Schlimmes sein."
"Man kann zumindest nicht mehr ans Telefon gehen."
"Das stimmt."
"Das ist ärgerlich, wenn man nicht einmal könnte, wenn man
wollte."
"Richtig."
"Wie sieht dein Plan aus?"
Plenten lebte in einer Bücherwelt und Bewohner der Bücherwelt träumten
oft von phantastischen Abenteuern in der realen Welt.
"Naja, Plan würde ich es nicht nennen. Eigentlich kann ich mich frei
bewegen, muß nur immer gleich zur Stelle sein, wenn er mich ruft. Das macht es
schwer ihm wirklich davonzulaufen."
"Plan Zehn?"
"Den mit den Pferden."
"Ich kenne ein nettes kleines Café, dessen Besitzerin uns aufnehmen
würde für ein paar Tage, die Pferde könnten wir laufen lassen. Wenn Nobnojs
Schläger uns aufspüren, haben wir Pech gehabt, wenn nicht, dann sind wir
frei."
". . . und können auch nur gehen, wohin wir wollen."
Das Haus war von einer sehr großen Gartenanlage umgeben; Plenten hatte
noch nie versucht bis zu den Grenzen vorzustoßen, wohl wußte er aber, daß es
auf dem Grundstück einen Pferdestall gab, das hatte Nobnoj ihm erzählt. Sie
machten sich auf den Weg durch sehr felsiges Gelände mit spärlichem Bewuchs. Es
war heiß und das machte die Wanderschaft zu keinem großen Vergnügen. Sie
redeten nicht viel, so daß Plenten Gelegenheit bekam, sich Gedanken zu machen,
auf was er sich eingelassen hatte. Er stellte fest, daß er durchaus noch in der
Lage war, sich selbst zu überraschen.
Als sie ankamen, dämmerte es bereits. Das Gebäude war groß, bot Platz für
viele Tiere.
"Wir haben Glück, außer dem alten Max ist niemand da."
Eine Tür schob sich langsam auf und ein kleines, buckliges Männchen kam
hervor.
"Guten Abend, ihr Herrel, was wünschet Ihr?" sagte es unter
Kichern mit einer heiseren, krächzenden Stimme.
Trotz der einsetzenden Dunkelheit konnte Plenten erkennen, daß sein
Gesicht über und über mit häßlichen Narben und Pickeln übersät war. "Wir
wollen noch einen kleinen Ausritt machen."
"Aber natürlich, ihr Herrel, kommet mit, ihr Herrel!" Mit einem
weiten Kichern verschwand er humpelnd hinter der Tür. Plenten und Heinz folgten
ihm.
Es kam Unruhe auf in den Boxen, als die schlürfenden Schritte des Alten
durch die Halle klangen und widerhallten.
"Seid still, ihr Pack", schrie er bösartig und drohte mit den
Fäusten nach Pferden, die dann erschreckt zurückwichen und begannen zu wiehern.
Plenten verstand nichts von Pferden, aber er hatte den Eindruck, daß es
sich um zwei sehr wertvolle, schnelle handelte, die Max mit vielen Tritten und
Flüchen ins Freie führte und in Windeseile, im Gegensatz zu den anderen
Bewegungen, die er ausführte, aufsattelte.
"Viel Vergnügen, wünsch ich euch, ihr Herrel", das war sehr
durch die Nase gesprochen.
Plenten wollte noch sagen, daß er das erste mal auf dem Rücken eines
Pferdes saß, als sie schon davonstoben in die Nacht.
Plenten saß auf einem schwarzen, während Heinz auf einem Schimmel ritt.
Plenten überlegte, ob das irgendeine Bedeutung haben könnte.
"Früher, in seiner Jugend, war er der Liebling aller Frauen" -
Heinz redete von alten Max - "ein Kunstreiter, wie ihn die Welt noch nicht
gesehen hatte. Er zog von Stadt zu Stadt mit seinem legendären Pferd Joe und
führte auf vielbesuchten Plätzen große Kunststücke vor. Meist fiel den Leuten das
Geld leicht aus der Tasche und er konnte kein schlechtes Leben führen.
Auch war es für ihn nicht schwer, ein Lager für die Nacht für sich und
sein Tier zu finden. Doch eines Tages mißlang ihm ein Kunststück: Er hatte sich
vorher unter den Zuschauenden umgesehen und dort ein wunderschönes blondes
Mädchen entdeckt, das nur Augen für sein Pferd hatte, sagt man. Da er zu jenen
Menschen gehörte, die sich auf den ersten Blick verlieben, war seine
Aufmerksamkeit geteilt. Bei einem Trick fing er auf dem im Kreis trabenden
Pferd Münzen mit dem Mund auf, die ihm die Leute aus dem Publikum zuwarfen, an
sich eine reine Routinegeschichte. Doch an jenem Tag beugte er sich zu weit
hinüber, um eine Münze, keine kleine, aber eine schlecht geworfene von einem
Jungen, der mit elf noch immer nicht lesen und schreiben konnte, sagt
man, noch zu bekommen, bekam aber statt dessen das Übergewicht und landete mit
Gesicht und Schnauze mitten auf dem Platz und im Gespött der Leute Natürlich
klang unter all dem Lachen, das sofort einsetzte, eine Stimme besonders durch,
eine helle, klare, wie ein Klöckchen, unschuldig. Man sagt auch, daß man trotz
des
Lärms sein Zähneknirschen gehört habe. In der darauffolgenden Nacht
jedenfalls zwang er das Mädchen unter diabolischen Grinsen zum Beischlaf mit
dem Pferd. Keinem ist das sonderlich gut bekommen. Er landete für einige Zeit
im Gefängnis, so er sich durch den Stich einer äußerst seltenen Fliegenart eine
schwere Hautkrankheit zuzog, die sein Gesicht total entstellte, ihm jedes
Anzeichen
seines ehemaligen Ruhmes vom Körper radierte und traurige Spuren der
Einsamkeit zurückließ. Nur sein Grinsen sei ihm geblieben. Man könne es
manchmal noch sehen, wenn er Pferde mißhandle oder wenn er sich an Nächte
erinnert, die er allein im Pferdestall zugebracht hat. Jedenfalls munkelt man
von sodomistischen Umtrieben, mit denen er sich viele Male für das ihm
zugefügte Unrecht räche."
Auch jene Nacht war eine Rachenacht. Max öffnete wie jede Nacht eine Box
und ging händereibend auf das verängstigte Tier zu, doch diesmal endete es
zwischen Wand und Pferdeleib, zwischen Huf und Betonboden, zwischen
zerbrochenen Gliedmaßen und gerötetem Stroh. Ob Nobnoj diese Geschichte lieben
würde.
Sie ritten die ganze Nacht; sie flogen über Meere, Länder, Gebirge,
meinte Plenten. Zu schnell zog alles an ihm vorbei, als daß er noch
Einzelheiten hätte wahrnehmen können. Er erinnerte sich an einen kurzen
Regenschauer, doch bald war wieder alles trocken, fast Wüste.
Nur einmal hatten sie kurz Rast gemacht an einem Fluß, um die Pferde zu
tränken. Heinz hatte sich die Kleider vom Leib gerissen und war in die Fluten
abgetaucht. Auf seine Einladung hin, war ihm auch Plenten gefolgt. Heinz hatte
gesagt, daß es besser sei, daß wo sie hinwollten, frisch gewaschen anzukommen.
Danach hatten sie ihre Reise in ruhigerem Tempo fortgesetzt. Als jedoch
langsam der Himmel ein helles Blau annahm, hatte Heinz noch einmal angezogen,
um das Letzte aus den müde werdenden Pferden herauszuholen.
Gegen Morgen sahen sie die Silhouette einer Stadt vor sich auftauchen.
Plenten dachte, daß sie wohl einiges Aufsehen erregen würden, wenn sie am
Morgen durch eine Stadt reiten würden, doch er täuschte sich. Keine
Menschenseele war zu sehen, es wirkte sehr verlassen. Die Häuser alle noch zur
Mitte dieses Jahrhunderts errichtet, grau und schwarz geworden in den Jahren
deren Glück und Leid sie hatten mit ansehen können. Alles war finster, vieles
verwahrlost.
"Könnte ein gutes Versteck sein", meinte Plenten.
Sie bogen ein eine hellerleuchtete Straße ein und plötzlich war leben um
sie. Überall saßen auf Brunnen und in Straßencafes junge Leute und unterhielten
sich, lachten, scherzten. Die bunten Häuser beherbergten offenbar alle Kneipen,
Bistros und Bar, überall war etwas los.
Heinz lenkte in eine Einfahrt, die zu einem dunklen Innenhof führte, von
dem man das letzte Verblassen des Halbmondes sehen konnte. Dort stellten sie
ihre Pferde ab.
Sie benutzten den Vordereingang, aus dem, gerade als sie eintreten wollten,
ein Betrunkener lachend herausstürzte. Sie stiegen über den lauten Körper, um
endlich doch hineinzugelangen.
"Hey, wartet, euch kenn ich irgendwo her."
Plenten wollte sich umdrehen, sah aber, daß sich Heinz schon drinnen
befand. Ein quadratischer Raum mit gelben Wänden, der zu einem Viertel aus
einer Bar bestand, hinter der Mädchen auf die Beschreibung "schön, aber
nicht attraktiv" zutraf, fleißig damit beschäftigt waren, Getränke in
Gläser abzufüllen und schönen, wirklich schönen und gutgekleideten jungen
Menschen, die an kleinen Tischen an der Wand entlang saßen, zu bringen. Sie
unterbrachen dann ihr Großteils sehr ernsthaftes Gespräch für ein kurzes Nicken
oder Lächeln. Plenten fiel auf, daß Leute, die sich in der Öffentlichkeit
ernsthaft unterhielten, immer komisch aussahen.
"Eigentlich bin ich nicht oft hier, ich mag die Leute nicht",
sagte Heinz, während er Plenten ein schlecht eingeschenktes, helles Bier in die
Hand drückte. Sie befanden sich also in einer Bar oder einem Café, wie Heinz
gesagt hatte, in dem eigentlich niemand oft war, eben weil er die Leute nicht
mochte. An den Wänden hingen Photographien von Menschen in komischen Posen, die
sehr nach großer Kunst aussehen sollten. Plenten fand, daß sich alles zu einem
harmonischen Bild
zusammensetzte und bekam jenes eigenartige Gefühl, das einen
normalerweise überfällt, wenn man
allzu offensichtlicher Perfektion gegenübersteht.
" Ich weiß nicht, ob die Chefin da ist. Ich hoffe es, denn in
letzter Zeit macht sie sich rar."
Ein Durchgang, in dem lässig ein Zigarettenautomat an der Wand lehnte,
führte zu einem weiteren Raum, von dem nur eine Regalwand mit Schnapsflaschen
zu sehen war. Das weckte Forscherdrang.
"Sag mal, kennen wir uns nicht irgendwoher?" Sie stand vor
Plenten, hatte schwarzgefärbtes Haar und war so schön, daß er nicht einmal im
Traum daran gedacht hätte, sie zu berühren.
"Äh, weiß nicht."
"Ich heiße Xenia. Bist du öfters hier?"
"Eigentlich nicht."
Er war zwei Typen mit gepflegten Kurzhaarfrisuren und blau gestreiften
Hemden, die gerade den noch bescheidenen Gewinn der noch jungen Firma, deren
Besitzer sie waren, versoffen, sehr dankbar, als sie ihre Bierkrüge laut gegen
Plentens krachen ließen und schrien - die Musik war sehr laut "Sex
Machine" von James Brown, man hörte nur den Baß aus kleinen Boxen, denen
man dies nie zugetraut hätte: "Hey Elvis, sing doch ein Lied für
uns!" Die zwei nahmen zwei kräftige Schlucke, viel kräftiger als sie
selbst es je sein würden, und wollten schon wieder anstoßen. Diesmal zersprang
das Glas des einen und zerschnitt ihm die rechte Hand, so daß man sogar den
Knochen seines Daumens sehen konnte. Doch nicht der Anblick von Blut, sondern
das völlig unveränderte, wenn nicht verbreiterte Grinsen dieses Kerls
verwandelte Plentens anfängliche Amüsiertheit in Gewaltbereitschaft. Diese wäre
auch hemmungslos und nasenbeinzertrümmernd zum Ausbruch gekommen, hätte Heinz
ihn nicht im entscheidenden Moment weggezogen. "Komm mit!"
"Verstehen Sie mich nicht falsch; ich meine nicht, daß Sie mit ihren
dreijährigen Kindern ins Bett gehen sollen, nur damit sie es einmal besser
haben wie Sie. Schließlich ist nicht jeder Komplex nichtgehabter Sex mit drei.
Nein, ich wollte eigentlich nur sagen, wie wunderbar beschissen auch Ihr Leben
sein kann und daß Sie keine Hemmungen haben sollten, Kinder in die Welt zu
setzen. Der Weltschmerz wird keine Probleme haben, Ihre Erziehungsfehler
wiedergutzumachen."
Plenten mußte das hören im Vorbeigehen und das war wirklich der Punkt, an
dem der Spaß aufhörte. Hier wurde wahrscheinlich wieder fremdes Geld in
Alkoholika verwandelt. Das stand diesem Menschen nicht zu. Der eine soll
Schulden machen, der andere soll Geld verleihen und ein dritter soll denken und
sich von solchen Orten fernhalten. Alle drei haben sich nichts zu sagen.
Plenten wünschte sich ein riesiges Bierglas, um sich dahinter zu verstecken.
Plenten wünschte sich so klein zu sein, um sich hinter jedem Bierglas
verstecken zu können.
Sie gingen auf die Damentoilette. Plenten wußte, daß das Ende des
Jahrhunderts war, daß die Leute sehr viel wußten und im allgemeinen frustriert
waren und das Dekadenz und Langeweile zwei sehr zentrale Dinge im Leben sein
mußten, um sich wirklich als "Modernen Menschen" bezeichnen zu
können, so daß er es für zwar nicht sehr originell, aber doch nicht für
ungewöhnlich hielt, wenn zwei Männer auf die Damentoilette eines Lokals gingen,
sich in einer Kabine einschlossen, komplizierte Klopfzeichen an den
Spülungskasten abgaben und sich dabei unglaublich toll und komisch vorkamen.
Bevor sie sich allerdings über die verrückte Sache, die sie sich da
rausgenommen hatten fast täuschend die wochentagseriösen Spinner, die sich hier
wie die Fliegen um Licht versammelt hatten, imitierend, totlachen konnten so
lautstark, daß auch noch andere ihre Witzigkeit mitbekommen konnten - das
gehörte zum Balzritus - schob sich die Rückwand der Toilette zur Seite und gab
den Blick frei auf einen Gang, der die Heruntergekommenheit und die
Schmierereien an den Wänden, die dieser Damentoilette fehlten, um sie zu einer
authentischen von mehreren sich nicht unbedingt bekannten Personen benutzten
Bedürfnisanstalt zu machen, endlich aufwies.
Der Gang führte zu einer Tür, die wiederum der obere Abschluß einer nach
unten führenden Treppe war.
Im Keller roch es nach Intimität. Viele nicht geschlossene Türen als
würden alle Leute, die her Geheimnisse haben, sie offen präsentieren, weil die
zufällig Vorbeischauenden auch Geheimnisse
hatten, weil es ja im Dunkeln tief unten passierte. Natürlich hingen
trotzdem Schnüre mit Glasperlen
an jedem Eingang, Exotik muß sein!
Ein Tisch mit ernst und gewichtig dreinblickenden Männern mit viel Geld
vor sich, die doch nur Karten spielten, ein Matratzenlager mit vielen Nackten,
die ihre Körperlichkeit bis zur Erschöpfung erprobten, ein paar Messer, die
Zwiebel zerteilten, um ein paar verlorene Philosophen wunderschöne Erlebnisse
gemeinsamen Tränenausdrucks zu bereiten.
Endlich kamen auch sie zu ihrem Ziel, einem kleinen, gemütlichen
Räumlein, nahmen Platz auf einem Berg von Sitzkissen.
"Hier werden wir uns verstecken, nichts wird uns fehlen."
Die Chefin erschien, eine erbleichte Schönheit, die sich mit der Wahrheit
noch nicht abfinden konnte.
"Ihr wißt, daß hier alles für euch getan wird, weil ihr meine
Freunde seid, alles."
Sie streifte Plenten von oben nach unten mit einem Blick und eine
unerlaubt versoffenerotische Stimme wie eine Besitzende. Sie war die Chefin.
Plenten konnte ein Grinsen nicht zurückhalten. Er freute sich darüber,
wie schön alles sich zusammenfügte. Er dachte an Nobnoj und wie sehr ihm das
gefallen hätte und verstand ihn ein bißchen.
Die Chefin erwiderte mit einem verführerischen Lächeln. Sie war das
eigentliche Geheimnis, das hier behütet wurde. Plenten wußte, daß er es nie
würde lüften können, wohl aber, daß er Teil davon werden konnte. Alles fügt
sich zusammen zu Einem.
Heinz warf auf beide böse Blicke. Damit gab er einen Teil seiner
Vergangenheit preis. Sie versuchte ihn zu beschwichtigen, indem sie sich zu ihm
niederließ und in die Arme nahm. "Gastronom und Gastronom gesellt sich
gern", dachte Plenten und hielt sich für spruchreif, jedenfalls könnte er,
so dachte er, wenn sich wirklich nichts mehr fände, immer noch einer
Tageszeitung anbieten für sie jeder Tag einen "Spruch des Tages" auszudenken,
den sie dann ganz groß auf der letzten Seite anbringen könnte.
Die Chefin verschwand wieder, um Champagner zu holen.
"Sag mal, Heinz, gibt es da etwas, das du erzählen könntest euch
beide betreffend?"
Heinz wurde ganz schnell rot, er griff nach einer Schachtel Zigaretten in
seine Hemdtasche und wurde erst wieder ruhig, nachdem er einmal gierig gezogen
und den Rauch wieder in die Unbewegtheit des Raums hinausgeblasen hatte.
"Naja", sagte er, "wir hätten beinahe einmal
geheiratet."
"Beinahe?"
"Ich war damals schon aushilfsweise im Purple Haze, half auch Bands
aufzubauen und so. Eines Tages stand jedenfalls eine Gruppe da mit einer
wahnsinnig tollen Sängerin, sie machten Bluesmusik und diese Stimme, du
verstehst, das war sie. Sie sind weitergereist und ich habe nie mehr etwas von
der Band gehört. Doch dann kam ich eines Tages mehr zufällig hierher, ich war
für Nobnoj in rein geschäftlicher Sache unterwegs, und ich gehe nichtsahnend in
dieses Café und sehe sie wieder und wir mußten uns nicht viele Worte sagen,
beinahe hätten wir dann tatsächlich geheiratet und wären weit weg gegangen,
wäre ich nicht eines nachts bei den Kartenspielern im Nebenraum verhockt. Um es
kurz zu machen. Ich wußte damals noch nicht, welche negativen Auswirkungen der
Genuß von Alkohol auf meinen Charme hat, sie hat mich noch in der selben Nacht
nackt auf die Straße geworfen. Ich bin gelaufen und habe gefroren. Ich wußte
keinen Menschen mehr zu dem ich gehen konnte, weil ich mich schämte oder
fürchtete. Am dritten Tag fragte ich einen Bauern, ob ich bei ihm
die Schweine hüten dürfe vom Hunger getrieben. Etwa eine Woche später -
ich hatte kein schönes Leben dort - tauchte Nobnoj bei dem Bauern auf und nahm
mich in die Arme wie einen Sohn. Ja, wir hatten auch schöne Stunden
miteinander. Ihr habe ich seitdem immer wieder Briefe geschrieben und sie hat
meistens geantwortet, wir verstehen uns eben sehr gut."
Heinz' Rede war ein ständiger Kampf gegen feuchte Augen. Plenten wollte
ihn schon darauf aufmerksam machen, daß das wichtigste im Leben sei, immer cool
zu bleiben, ließ es aber dann aus Taktgefühl, wie er später sagte.
Schritte waren zu hören, dann Tritte. Ein Geschrei, und schließlich
Schüsse.
"Die Kartenspiele hier gehen um nicht geringe Einsätze und man ist
nicht immer ganz ehrlich", erklärte Heinz.
Auch Frauen hörte man kreischen. Sehr viele Schüsse krachten. Eine
rauchige Männerstimme schrie etwas in den Pulverhauch uns wieder zerfetzten
Kugeln Bäuche und Köpfe. Verletzte stöhnten und bekamen noch eine Ladung Blei
mit auf die Zunge, um ihre Überfahrt bezahlen zu können.
"Schnell, schnell, sie suchen euch."
Die Chefin war wieder an der Tür erschienen, von der Champagnerflasche
hielt sie nur noch den Hals in der Hand. Sie schob ein paar Kissen auf die
Seite und sie standen über einer Falltür; durch ein Gewirr von Treppen und
Gängen gelangten sie zurück in den Innenhof, wo die Pferde gerade genüßlich die
Geranien vor den Fenstern wegfraßen.
Sie sprangen auf und waren schon fast aus dem Hof, als die Chefin
hauchte: "Come mai mi hai lasciato?"
Plenten sah, wie Heinz erschrocken seinen Kopf herumriß, doch sie waren
schon auf der Straße und Schüsse krachten hinter ihnen.
Sie ritten den ganzen Tag hindurch Richtung Westen, trafen auf keinen
Menschen.
Irgendwann gegen Abend sahen sie in der Ferne ein Haus auftauchen. Sie
stellten entsetzt fest, daß sie sich wieder Nobnojs Haus näherten, sie waren
aber zu erschöpft, um noch einmal die Richtung zu wechseln
Nobnoj saß auf dem Sofa, auf dem Plenten immer lag, und blätterte in
Kafkas Prozeß, den Plenten gerade mit großer Begeisterung las.
"Ich habe Tee mitgebracht", sagte er und sie setzten sich
wieder.
Oh, es geschehen Dinge zwischen diesem Himmel und dieser Erde. . .