Kapitel 12: Die Zeit der Geschichten ist vorbei

Pandarei blickte auf ihren wunderschönen, braunen Körper und ärgerte sich. Niemand war da, der wie hätte bestaunen können. Zuerst war es hier sehr paradiesisch gewesen, sie hatte alles gehabt, was sie sich wünschen konnte: gute Musik, feines Essen, fruchtige Cocktails und niemand, mit dem sie hätte teilen müssen. Sie konnte ausschlafen und rumhängen den ganzen Tag, Radio hören und Briefe schreiben, all das, was sie schon jahrelang vermißt hatte. Doch nun konnte sie es nicht mehr genießen. Sie war hier gefangen. Kein menschliches Wesen bekam sie zu Gesicht außer Nobnoj und natürlich die Leute im TV.

Nobnoj versuchte bei jedem Besuch ihr seine Liebe zu gestehen, brachte aber die entscheidenden Worte nie über die Lippen. Jedes Mal schlüpfte er in eine andere Rolle: mal der gutgekleidete Schwiegersohn mit Banklehre, mal der Gigolo mit teuren Autos, mal der - allerdings sehr peinliche - Philosoph und Intellektuelle.

Sie hatte sich dafür von Anfang an nicht richtig begeistern können. Im Großen und Ganzen fand sie ihn langweilig und ärgerte sich, daß sie einmal eine Platte von ihm gekauft und gut gefunden hatte.

Sie liebte doch die Menschen so sehr, wäre jetzt gerne unter ihnen gewesen, statt dessen saß sie am schönsten Ort der Welt mit dem schönsten Körper, den sie je hatte und sehnte sich nach Unterhaltung. Notfalls hätte sie auch nichts dagegen gehabt, wenn die Leute alle zu ihr hier an den schönsten Ort der Welt gekommen wären. "Ich hätte nie von Zuhause weglaufen sollen!" dachte sie sich.

Daheim war es eigentlich ganz wunderbar gewesen. Sie hätte zufrieden sein können. Die Mutter hatte sie liebevoll umsorgt und der Vater hatte sie streng, aber gerecht nach seinem Ebenbilde erzogen. Pandarei war ein stilles Kind gewesen; sie hatte viel gedacht und wenig mit anderen Mädchen gespielt. Manchmal waren ihre Eltern deswegen ganz besorgt gewesen. Sie konnte sich

nie ganz aus dem Schatten ihrer großen Schwester lösen. Sie hörte auf den Namen Karin und führte ihr Leben erfolgreich. Ihr war nicht ihr Erfolg nachgelaufen, das konnte keiner behaupten, aber sie hatte Disziplin und sie hatte sich durchgesetzt im Leben. Sie hatte ihre Schule erfolgreich abgeschlossen und sich dann in einer Bank ausbilden lassen, guten Eindruck gleich das erste Mal zu erwecken und auch in guter Kleidung nicht aus der Rolle zu fallen. Manchmal kamen auch Leute zu ihr, wenn sie nicht hinter dem Schalter stand, und wollten ihr Geld anvertrauen.

Sie hatte ihren Mann Jürgen beim Tanzen kennengelernt, weil Tanzen doch so verbindend ist. Jürgen war auch erfolgreich, er würde einmal Anwalt werden, vielleicht sogar beim Staat. Karin wußte, daß man sich zuerst im finanziellen und beruflichen Erfolg kümmern müsse, der Rest stelle sich dann von selber ein. Das sei, so sagte sie, so etwas wie ihre Lebensphilosophie. Nein, Kinder wollten sie noch nicht haben, man wisse ja nicht wie sich die Lage entwickle in den nächsten Jahren und man könne in Zeiten wie diesen nie vorsichtig genug sein. Pandarei kannte ein Gefühl, das sie Bewunderung nannte und das sie für ihre Schwester empfand, dafür schämte sie sich manchmal.

Sie hatte, wie es bei Geschwistern üblich ist, oft die alten Kleider ihrer großen Schwester auftragen müssen.

"Man kann nicht zweimal in dem selben Pullover steigen", hatte sie gesagt.

"Man kann zweimal in den selben Pullover steigen", hatte ihre Mutter in einem energischem Ton geantwortet und Pandarei hatte sich den alten Pullover ihrer Schwester übergestreift. Sie war dann sehr traurig gewesen, als sie wieder zu ihrer Mutter sah und hat auf ihrem Gesicht fett und widerlich der Stolz saß, doch eine wohlgeratene Tochter großzuziehen. Abstoßend wurde es dann, wenn der Stolz sich erdreistete, ihre Lippen zu einem liebevollen Lächeln auseinanderzuziehen. Als die Mutter sie dann in ihre Arme nahm, ihr über den Kopf strich, sie küßte und in ihre Haare "Mein Kind!" lächelnd hauchte, war Pandarei nahe daran sich zu übergeben. Aber sie ließ es geschehen, weil es diese Hände waren, die sich gefaltet hatten, neben ihrem Bett, und diese Lippen, die sich bewegt hatten, um der Mutter des Gottes, der dieses Universum erschaffen hatte, einen Gruß zu übermitteln, früher, als sie noch klein war. Mittlerweile war sie jedoch alt genug geworden, um ihr zu sagen, daß man ihre Seele gleich bei der Geburt verkauft hatte. Dafür hatte man vom Arzt, der die Entbindung durchgeführt hatte, eine Tafel in die Hand gedrückt bekommen, auf der in großer altdeutscher Schrift stand: "Gut aufbewahren", und dann noch "Kaufkraft" und "Arbeitskraft", ansonsten war die Tafel weiß. Doch -oh seht her - als das Kind zum ersten Mal einen Blick darauf warf und auch zum ersten Mal schrie und wohl auch zum ersten und einzigen Mal verstand, was man ihm da zeigte, waren Zahlen aufgeleuchtet, zuerst ganz kleine, blasse, doch als das Kind heranwuchs und lernte zu vergessen, die Welt zu verstehen, wurden die Zahlen größer, kräftiger und bunter. Hin und wieder dachte Pandarei an einen alten Mann mit einem weißen Bart, der den ganzen Tag nur auf und ab ging und jedem, dem er begegnete, sagte, daß seine größte Sorge sei, daß seine Seele möglichst gut werde. "Mitleidsvoll" hätte man das Lächeln beschrieben, das sich dann auf Pandareis Gesicht zeigte. Doch sie selbst ahnte, daß das falsche Wort war.

Sie hatten ein großes Haus mit vielen Räumen und einem sehr grünen Garten gehabt. Sie hatten direkt neben einem kleinen Fluß gewohnt. Das Wasser war sauber und so konnten sie im Sommer in die Fluten steigen, um ihren erhitzten Köpfen wohlverdiente Abkühlung zu verschaffen.

Pandarei liebte es in dem Wasser zu liegen und sich einfach treiben zu lassen. Sie stellte sich vor, wie das Wasser ihren Körper durchdrang und alles mitnahm, jedes einzelne Teilchen und ein neues dafür mitbrachte und dabei entstand eine ganz neue Pandarei und wenn das letzte Teilchen an ihrem Fuß ausgewechselt war, war die neue Pandarei schon wieder die alte, weil der Fluß schon wieder Pandareiteilchen anschwemmte und am Kopf seine sanfte Arbeit fortsetzte. Pandarei liebte diese

Vorstellung und ließ sich forttreiben vom Fluß. Dann mußte sie irgendwann doch an Land und zähneklappernd den ganzen Weg zurücklaufen.

Einmal ließ sie sich soweit treiben, daß sei nicht mehr wußte, wo sie war. Sie ruderte schnell ans Ufer und wollte sich auf den Rückweg machen. Da aber der Bewuchs zu stark war, konnte sie nicht

am Wasser entlanglaufen, sondern mußte sich immer mehr landeinwärts, tiefer in den Wald bewegen. Da hörte sie eine Stimme und erschrak. Ein Mann kam ihr entgegen und sang. Sie erkannte ihn als den Alten mit der Seele.

"Guten Tag, liebe Pandarei, willst du denn, daß ich dich ein Stück weit mitnehme?"

Pandarei willigte ein und der Alte ließ sie auf seinen Schultern Platz nehmen. Beim Weitergehen stimmte er wieder den Gesang an. Es war ein schönes Lied mit vielen Versen in einer alten Sprache, die Pandarei nicht verstand. Trotzdem gefiel es ihr. Sie fühlte sich gut dabei, durch den Wald getragen zu werden und dieser endlosen Melodie zu lauschen.

Sie kamen an eine Hütte, eine alte, schäbige, kleine, aus Zivilisationsresten zusammengebaut. Der Mann nahm Pandarei von seinen Schultern und hieß sie einzutreten. Das Innere war geräumiger als der äußere Anblick hätte vermuten lassen. Er ließ sie auf einen viel zu großen Stuhl vor einem staubigen Holztisch hinsitzen.

"Du wirst sicher Hunger haben und wie es der Zufall will, habe ich heute noch etwas von meiner Suppe übrig gelassen, als ob ich gewußt hätte, daß ich noch Besuch bekomme."

Er stellte vor sie eine Holzschüssel mit einer weißen Brühe. Sie nahm diese Einladung gerne an und begann zu löffeln. Die Hütte begann sich zu drehen, sich aufzulösen. Alles verwandelte sich in Farbe, in einen Ozean aus bunten Tauben. Die Hütte, das Lachen des Mannes, das sehr vertraut und nah klang, so daß Pandarei auch lachen mußte. Vor ihr in der Schüssel war der Alte und kroch den Löffel hinauf, wurde zum Löffel, zu ihrem rechten Arm. Ihr Lachen verschmolz zu einem und Pandarei fühlte sich so gut wie nie zuvor. Sie war im Meer der Farben und sie war das Meer der Farben.

Als sie erwachte, roch sie Auspuffgase und das Geräusch eines laufenden Motors war um sie. Sie lag Gras neben der Straße. Eine besorgte Stimme fragte, ob ihr den was fehle, mein Schätzchen. Nervöse, kraftlose Arme hoben sie hoch und legten sie auf die Rücksitzbank eines Autos.

Eine Mutter von drei Kindern - sie wußte also wie das ist - ,die gerade vom Sommerfest ihres Turnvereins heimfuhr - denn es wird in der Nacht schon wieder sehr kalt zu dieser Jahreszeit -, hatte des arme Ding da liegen sehen und wäre fast weitergefahren, weil sie sich dachte, es handle sich um eine überfahrene Katze und außerdem könne man ja nie wissen. Auf jeden Fall hat man Glück gehabt und doch keine Ruhe.

Pandarei wurde krank und mußte zwei Wochen das Bett hüten. Zuerst waren die Eltern viel zu besorgt und dankbar, um ihr Vorwürfe zu machen. Doch als sie ihre Erlebnisse erzählte, wies sie der Vater mit strenger und sorgenvoller Miene darauf hin, daß sie nun wirklich nicht mehr in dem Alter sei, um Geschichten zu erzählen.

Sie sei nicht mehr in dem Alter, um Geschichten zu erzählen, sagte sich Pandarei und fand daß das gut und vernünftig klang. Sie sah endlich ein, daß das Leben mehr ist als ein langer Sommer mit Blasmusik und Tanz. Sie sah auch auf ihre Schwester uns wie sie sich seit Jahren bemühte ein gutes Vorbild zu sein und sie bereute ihre Undankbarkeit ihren Eltern gegenüber, die doch nur ihr Bestes wollten. Sie beschloß ein anderer Mensch zu werden.

Monate später - sie hatte ihr Abenteuer schon fast vergessen - träumte sie noch einmal von dem alten Mann. Er lag auf dem Boden einer Grube und lächelte zu ihr hinauf. Um sie herum standen viele Kinder, manche von ihnen kannte sie von der Schule, Freunde, manche hatte sie noch nie gesehen. Sie waren auf einer grünen Wiese, eine einsame alte Eiche befand sich auch da und spendete Schatten, denn es war ein schöner, sonniger Tag. Nach und nach entfernten sich alle Kinder bis nur noch Pandarei an der Grube stand, doch auch sie wußte, daß sie gehen mußte. Das Gesicht des alten Mannes war jetzt sehr traurig und als Pandarei sich zum gehen wandte, liefen kleine Tränen aus seinen Augen, die sich in Stein verwandelten, so daß sich der Alte bald nicht mehr rühren konnte. Sie

ging weiter, obwohl er fortwährend ihren Namen schrie. Doch plötzlich mußte sie innehalten, weil es nicht mehr die Stimme des alten Mannes, sondern die ihres Vaters war, die da rief. Als sie zurückblickte, war dort aber keine Grube mehr, nur noch die Eiche, die bedrohlich aussah.

Ihre Äste waren keine Äste mehr, sondern unzählige Arme, die sich erhoben, um die Königin zu stürzen, zum Schafott zu führen und die Königin war sie. Verstört ging sie weg.

Dann erwachte sie und war verwundert, wie leicht ihr zumute war, als wäre eine Last, die sie seit ihrer Geburt mit sich herumgetragen hatte, auf einmal von ihr abgefallen. Sie drehte sich zur Seite und fiel in einen traumlosen Schlaf für Jahre.

Das war die Zeit, in der sie in der Schule einen Höhenflug hatte. Sie war damals sehr ambitioniert und schaffte es aus dem Mittelfeld an die Klassenspitze. Zum ersten Mal sah sie ein klares Ziel vor Augen, auf das sie zuarbeiten konnte. Die Schwestern hatten nie mehr ein so gutes Verhältnis zueinander wie damals. Hin und wieder schauten sie sich sogar gemeinsam die Samstagsabendshow im Fernsehen an, und das sei schon etwas ganz Besonderes, sagte Karin immer.

Pandarei war aber nie sehr lange von demselben Menschen fasziniert und suchte sich bald einen neuen Freundeskreis. Sie machte die Bekanntschaft von harten Jungs mit weichen Drogen und großen Autos ohne Führerschein. Sie genoß dieses Umfeld und dachte, daß der einzige Fehler, den sie jemals gemacht hatte, war, daß sie sich für eine Prinzessin auf einem hohn Schloß mit vielen Dienern gehalten hatte, die den ganzen Tag damit zubrachte, auf ihren Prinzen zu warten. Die Zeit der Geschichten war endgültig vorbei.

Und jetzt lag sie da, hatte, was sie sich wünschte und dachte sich, daß sie immer da am besten aufgehoben sei, wo sie nicht sei. Das gab ihr das Gefühl, daß irgend etwas im Großen und Ganzen nicht stimmte. Irgendwie war sie stolz darauf, daß gerade ihr gerade hier das aufgefallen war. Sie lehnte sich zurück, um sich noch etwas im Glanze ihrer neugewonnenen Erkenntnis zu bräunen.

Nicht daß sie im Glanze dieser Erkenntnis der Sonne noch bedürft hätte, aber sie bemerkte doch ihre Abwesenheit an dem Schatten, der sich plötzlich auf ihrer Haut befand und sich wohlfühlte dort.

Sie schlug die Augen auf und sah blinzelnd ein Geschöpf vor sich stehen, dessen Schöpfer es mit der Gnade von zwei Gesichtern ausgestattet hatte. Leider hatte der Schöpfer wiederum nicht die Gnade besessen, die zwei Gesichter sauber aufeinanderzusetzen, so daß dieses Geschöpf, das da vor ihr stand, immer mit dem Handicap einer gewissen Unästhetik zu kämpfen hatte.

Alles in allem reicht es aus, um Pandarei in einen Zustand panikartiger Erschrockenheit zu versetzen und sie zu veranlassen, ihr Heil in der Flucht durch das Wasser zu suchen. Ein verhängnisvoller Fehler, wie sich herausstellen sollte, denn dort warteten Arme auf sie, die ganz ähnlich gestalteten Wesen gehörten und die sie in die Tiefe zogen. Daß schreien nicht viel Wert hatte, merkte sie erst, als der Ozean schon eine ganze Menge von seiner Gewaltigkeit in sie abgegeben hatte, eine ganze Menge für ihren kleinen Menschenkörper, der in immer tiefere Tiefen gezogen wurde. . .

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