Kapitel 14: Vier Wände-Blues

Alexandra blickte aus dem Fenster und sah die Sonne zum letzten Mal in diesem Jahrtausend

aufgehen. Ganz schwer wurde ihr zumute. Sie nahm einen Schluck aus der vierten Dose Bier in dieser Nacht, der letzten, und stellte sie zu den anderen drei bei dem kleinen Kunststoffchristbaum, der so bunt den Platz neben ihrem Fernseher einnahm. Sie hatte sich noch nie alleine betrunken, fand aber, daß das ein interessantes Experiment war, das sie da mit sich anstellte. Im Hintergrund lief eine Platte von Louis Armstrong, die ihr mal ein Verehrer geschenkt hatte. Er mußte "La Vie en Rose" singen. Sie führte ihre Gelassenheit auf dieses Lied zurück.

Eigentlich war alles wieder einmal falsch gelaufen, was falsch laufen konnte: Den Heiligen Abend hatte sie frei bekommen uns sie war zu ihrer Familie gefahren wie jedes Jahr. Alle waren gekommen mit den besten Vorsätzen: ihr Bruder, der Apotheker, mit seiner Familie und ihre kleine Schwester, die noch zu Hause wohnte und zur Schule ging. Man hatte sich sogar umarmt bei der Begrüßung. Alles schien vergessen und auf Neuanfang eingestellt. Man nahm das Essen ein und mußte zum ersten Mal still sein, kein Wort hören, kein Wort sagen, nur Essensgeräusche: Schlürfen und Kauen, Schlucken und Beißen. Und mit einem Mal entstieg der dampfenden Suppenschüssel wieder Verachtung, die man mit jedem Atemzug einsog und die nach und nach so den ganzen Körper ausfüllte bis in die kleinsten Kapillaren hinein: Man war nur verwandt, jeder hier an dem Tisch stellte genau das dar, wovor man die meiste Abscheu empfand. Äußerlich schien noch alles ganz normal zu sein. Man beschenkte sich nach gemeinschaftlichem Absingen der Weihnachtslieder. Alexandra wurde in diesem Moment auch jedes Mal klar, daß Weihnachten ein echtes gesellschaftliches Problem darstellte und daß es solange Kriege geben würde, solange Menschen Weihnachten feierten, als ob nichts wäre. Dann fielen die ersten provozierenden Bemerkungen. Man war eben nicht mehr sozial auf der selben Stufe, man gehörte verschiedenen Klassen an, da war sowas ganz leicht. Erst tröpfelte es nur leicht, dann kam ein furchtbarer Regenschauer, schließlich Hagelbrocken, die wirklich weh taten. Das Ganze bedeutete dann echtes Naß, das der Mutter aus den Augen rann, ihr zuerst die Wangen und danach ihr reizendes Kleid benetzte. Das war nun kein Anblick für Weihnachten mehr, das war echter Kummer. Jeder fand es sehr bald für angebracht, sich zurückzuziehen. Alles, was man jetzt noch tun konnte, war den Rückzug mehr schlecht als recht so zu gestalten, als wäre nichts

gewesen.

Für Alexandra waren das ganz normale Weihnachten. An den darauffolgenden Tagen hatte sie wieder zu arbeiten, nett zu den Leuten zu sein, die sie abgrundtief haßte. Nicht weil sie sie beneidet hätte, das wäre noch etwas gewesen, woran sie sich hätte festhalten können, eine, es war die völlige Perspektivlosigkeit, die sie ihr vermittelten und die sie so niederdrückte. Sie sah, daß nichts gut war, nichts Gutes an keinem Menschen nicht und daß da kein Weg war, dem sie folgen konnte, der irgendwohin führte, wo es warm war, wo sie sich aufhalten könnte, außer dem nach unten in ein Loch mit zwei Metern Mutter Erde als wärmende Decke. Der Muttermund ist doch keine Einbahnstraße! Laß die Erde noch einmal schwanger sein mit dir und allem, was zu dir gehört!

Man mußte ihr ihre misanthropen Gedanken angesehen haben, auch ihre plötzliche Ungeschicklichkeit im Umgang mit dampfenden Speisen auf blütenwäscheweißem Porzellan war wohl verdächtig. Auch konnten zweihundert Pfund Männlichkeit, die bezahlen sollten, hundert Pfund Weiblichkeit, die Bezahlung bekommen sollte, ein versautes Hemd verzeihen nicht aber Wortkargheit im Angesicht solcher Schuldenlast. Wie dem auch sei - es könnte auch ganz andere Gründe gehabt haben - man hatte sie beiseite genommen nach verrichter, harter Arbeit, sehr freundschaftlich, muß man gestehen, hatte ihr behutsam klargemacht, daß die nächste Zeit wohl etwas schwerer für sie sein werde, aber daß Geld wohl nicht alles sei und sie müsse das verstehen.

Man hatte ihr noch ein gutes nächstes Jahrtausend gewünscht, das wohl nicht gut anfangen werde, aber von dem sie selbst im günstigsten Falle nur so wenig mitbekommen werde, daß ihr beim besten Willen kein richtendes Urteil mehr zustehe. Auf Wiedersehn!

"Wenn einem bei einem Unfall ein Bein abgetrennt wird, ist das im ersten Augenblick so unwirklich, daß man es gar nicht glauben will," dachte sie sich und bewegte sich weiblich intuitiv mit beiden Beinen auf eine Tankstelle zu, die die ganze Nacht geöffnet hatte und oft ein Rettungsanker für

Seelen gewesen war, die die Dunkelheit für ihr Existieren brauchten. Sechs Dosen Bier würden genügen für jemanden, der es nicht gewohnt war zu trinken.

Sie schaute auf den kleinen Christbaum mit den vier ausgebeulten Bierdosen davor und fand das ganze sehr weihnachtlich. Sie lächelte. Es klingelte. Wer war das? Wer wollte hier hereinplatzen und ihre Einsamkeit verreißen in tausend Stücke und zwischen ihnen zerstreuen wie Konfetti? Fand er denn nicht auch, daß das reichlich unpassend war?

"Hallo, hier ist Pandarei, läßt du mich rauf?", klang die Stimme von unten durch den Hörer. Das war aber eine Überraschung!

Er torkelte nach Hause, hatte sich besoffen, weil sonst nichts half, das hatte ihn das Leben gelehrt, würde jetzt gern noch Baß spielen, war schließlich nicht irgendein Tag, würdig begangen zu werden.

Er stolperte in seine Wohnung, wollte in der Küche nachsehen, ob noch Bier oder irgendwelche anderen Alkoholika da waren. Wäre er etwas nüchterner gewesen, hätte er gewußt, daß ein Umweg über eine Tankstelle, die die ganze Nacht geöffnet hatte, durchaus lohnenswert gewesen wäre, um sein Bedürfnis zu befriedigen. Ein großer Reisekoffer, nicht groß genug für seinen Zustand, wurde ihm zum Verhängnis. Er fand trotz seiner Größe nicht den Weg zu seinem Gehirn über die Augen, um es zu veranlassen, ein Ausweichmanöver einzuleiten, sondern wurde zum unüberwindlichen Hindernis für Füße, die sich ohnehin schon schwer kontrollieren ließen und bewirkte, daß ein Mann, der nur noch ein Bier trinken wollte, in eine horizontale Lage versetzt wurde.

Höhnisches Gelächter breitete sich räumlich aus und wurde etwas mehr als eineinhalb Meter höher zu einer Parallelebene, Geometrie am Morgen. Der am Boden liegende blickte auf und stieß ein erkennendes "Tom!" hervor.

"Falls du noch ein Bier trinken willst, wirst du der Tatsache sehr dankbar sein, daß ich Freunde nie mit leeren Händen besuche."

"Sei so gut und hilf mir auf!"

"Mit großem Vergnügen!" Sprach's und tat's geschwind.

Der Koffer hatte sich geöffnet und tausend roter Rosen die Gelegenheit gegeben die freie Luft eines schmalen Wohnungsganges zu genießen , so daß der schwere Baßmann quasi aus einem Bett von Rosen erstand.

"Ich hoffe, daß es bei meiner Beerdigung ähnlich schön ist."

Sie saßen am Tisch und tranken jeder eine Dose Bier.

"Hast du den Koffer nicht losgebracht?"

"Ich wollte mich noch einmal des Inhalts vergewissern und sah, daß ich tausend rote Rosen mit mir rumtrug. Ich dachte mir, daß tausend rote Rosen etwas ungeheuer Romantisches haben und daß man bestimmt irgend etwas mit ihnen anfangen könne. Seitdem laufe ich mit einem Koffer voller Rosen herum. Daß wir damit deine Beerdigung vorfeiern würden, hätte ich nicht gedacht", antwortete Tom. Beide lachten.

"Wie läuft's eigentlich mit der Kleinen damals im Café?" wollte Tom wissen.

"Ach, frag nicht!"

Alexandra hatte Pandarei eines ihrer letzten beiden Biere angeboten. Sie saß ihr gegenüber und zog an einer Zigarette, eine Decke ruhte auf ihrer Schulter.

"Wo warst du die ganze Zeit?"

"Das ist eine lange Geschichte", antwortete Pandarei und erzählte, dabei kam es ihr vor, als würde sie die Geschichte einer anderen erzählen, so fern schien alles schon zu sein.

"Hast du eigentlich von diesem Plenten schon was gehört?" wollte sie wissen.

"Natürlich, er war sogar schon einmal hier."

"Hier?"

"Ja."

"Und was ist das für ein Mensch?"

"Er sieht aus wie Elvis, singt wie Elvis, stinkt wie Elvis, fast hätte ich geglaubt, er sei Elvis."

"Hast du ihn gehört?"

"Im Purple Haze, war ein Riesenabend. Die Bude war voll und die Leute waren begeistert."

"Seitdem hast du ihn nicht mehr gesehen?"

"Nein."

"Weißt auch nicht mehr über ihn?"

"Nein."

"Wie ist es dir eigentlich gegangen in letzter Zeit?"

Tom lächelte. "Die Weiber."

"Scheißegal." Sie stießen an.

"Hast du noch eine Zigarette?"

"Nur noch eine, für beide."

"Teilst du?"

"Ich habe irgendwo noch ein Video von der letzten Samstagabendshow."

"Steht eigentlich das alte Yamahateil, das ich einmal bei dir vergessen habe, noch hier herum?"

"Du hast es nicht einmal vergessen, sondern ungefähr fünfzig Mal. Jedes Mal, als du es abholen wolltest, warst du beim gehen so besoffen, daß du es wieder vergessen hast."

"Stimmt. Ich habe ein neues Lied geschrieben, ich würde es dir vorspielen."

"Gern."

Er führte ihn in sein kleines Wohnzimmer wo neben einem Fernseher und einem fast zu großen Christbaum ein kleines Yamaha-Keyboard stand, so daß man auf einem PinUp-Kalender sehen konnte, der an einem Schrank hing, wohl die Hausbar.

"Das ist der September '98. Du bist Nostalgiker."

"Es kommen nicht oft Leute hierher, so daß ich mich nicht schämen müßte. Das ist meine kleine Welt, und die ist so, wie es mir gefällt."

"Du bist hier der Held jedes schlechten Reims, ich bewundere dich. Spielst du selbst ab und zu?"

Tom deutete auf das Keyboard.

"Ab und zu."

"Zuerst den Rhythmus."

Swing: Tum takta tum takta Tum . . .

"Hast du nicht Lust für mich den Baß zu spielen, das letzte Mal dieses Jahrhunderts?"

"Kein Walzer soll es sein mein Liebeslied."

Sie einigten sich auf Bossa Nova, sehr langsam, damit die Finger Zeit hatten sich daran zu gewöhnen.

Tom griff in die Tasten, fing auch an zu singen, er hatte eine sehr rauchige Stimme. September '98.

"Und er hat nie wieder angerufen?"

"Ich weiß nicht mal, ob er meine Nummer hat."

"Fühlst du dich jetzt schlecht?"

"Nein. Überraschend gut."

"Es ist nur noch eine Zigarette da. Was ist mit meiner Wohnung? Soll ich hochlaufen und schauen, ob ich noch welche habe?"

"Wir können teilen."

"Früher habe ich mit meiner Schwester immer die Samstagsabendshow angeschaut."

"Laß uns wieder Freundinnen sein!"

"Wunderbar. Mußt du heute abend arbeiten?"

"Sie haben mich auch rausgeschmissen."

"Ja, dann laß uns etwas unternehmen! Wir ziehen durch die Straßen und sehen gut aus. Die Probleme können von mir aus tausend Jahre warten."

"Sollen wir ins 'Purple Haze' gehen? dort soll eine gute Coverband spielen."

"Können wir machen. Ich schau mal hoch, ob noch etwas an mich erinnert. Hast du den Schlüssel, den ich dir mal gegeben habe?"

"Ja, klar."

"Ich komm dann bei dir vorbei."

"Dann bis heute abend im 'Purple Haze'," sagte der Baßmann schwerfällig an der Tür lehnend, als Tom ging.

"Bis dann", antwortete dieser ohne sich umzudrehen und ohne das Keyboard.

Schnell ging der Baßmann aufs Klo, es war ihm sehr übel geworden. Das Lied hatte von der Liebe erzählt.

Pandarei fand die Tür in ihrem bescheidenen Zimmer leicht angelehnt. Müde öffnete sie ganz und betätigte den Lichtschalter.

"Du hättest nur zu sagen brauchen, daß du dich noch umziehen willst, Baby, dann hätten wir noch einmal angehalten um einzukaufen. Geld spielt keine Rolle, schließlich sind wir auf Hochzeitsreise." sagte lächelnd Nobnoj Smada und biß in ein Wiener Würstchen. Heinz, der neben ihm stand und ein blau und rot leuchtendes Gesicht hatte, ging mühsam einen Schritt auf sie zu. Sie schrie, wollte ihr Heil in der Flucht suchen.

"Willst du dich nicht ein bißchen zu mir setzten, auf ein Würstchen und einen Schluck Weizenbier?" fragte in allervertrautestem Ton jener Nobnoj, dem aus jener Hand, die gerade noch ein Wiener Würstchen zu seinem lächelnden Mund geführt hatte, plötzlich eine böse dreinblickende Pistole gewachsen war.

Pandarei fand, daß sie noch zu jung war, um den Rest ihrer Zeit auf Erden mit einem Stück Blei in der Brust zu verbringen, außerdem wollte sie mindestens einen Jahrhundertwechsel mitbekommen.

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