Kapitel 16: Ein altes Paar
Blut färbte Weiß punktuell rot. Der Schnee, der jetzt alles bedeckte, tat
ihren wunden Füßen gut. Die Eiche stand hinter ihr, wie ein alter mächtiger
Freund, in dessen Schoß man seinen Kopf legen konnte, wenn man weinen wollte
und nicht alle zuschauen und lachen sollten. Er deutete auf den Himmel, die
große, schützende Hand, die immer über Pandarei gehalten wurde. Dort thronte
der Mond ebenso weiß wie der Schnee, auf ihm stand in gewaltigen Lettern:
"Tötet Nobnoj Smada!", im selben Rot wie ihr Blut. Im Traum waren sie
sich schon einmal begegnet.
Die Leute ließen sich wieder blenden von einer Sonne, die nur scheint und
nicht wärmt. Sie war ganz allein hier auf einem weißen Hügel und hatte nur ihre
Füße, um damit in den Schnee zu schreiben.
Sie lief los in die unbekannte Dunkelheit, die der Wald vor ihr
darstellte, wurde von ihr verschluckt, ganz. Sie begab sich in den Rachen eines
wilden Tiers und verlor die einzige Sprache, die sie noch besaß, um die
Außenwelt in eine Beziehung zu ihr zu setzen: ihr Blut. Zwar schmerzten ihre
Füße noch mehr, aber das Blut zog mit seinem Geruch nur ihre Feinde an.
Sie weinte. Alles um sie atmete Feindschaft aus. Das wilde Tier in dessen
Körper sie jetzt gefangen war, war Nobnoj Smada, er hatte sie ganz in sich
aufgesogen und sie ging direkt auf sein Zentrum, das Zentrum des Bösen zu, weit
entfernt von jedem Ausweg. Und doch mußte sie weiter.
Ein Hauch von Erlösung war für sie kühlender, glatter Asphalt, schön
feucht. Eine Straße, die Menschen jenseits dieses Gefängnisses verband. Bald
würde sie nicht mehr alleine sein. Es gab noch ein Draußen, das es geschafft
hatte einen Fangarm hier herein zu werfen, und auf dem sie sich herausziehen
ließ. Und das Zaubermittel waren wieder ihre Füße, die schmerzten so angenehm,
sie schrien so laut, gaben Lebenszeichen, retteten sie vor dem Wahnsinn, der
Hoffnungslosigkeit.
Zwei Lichter tauchten auf, näherten sich, um endlich ihre Einsamkeit zu
zerschlagen und sie liebevoll herauszuheben, aus den Mauern, die sie umgaben,
ins Warme, ins Licht zubringen. Sie winkte. Große Bewegungen, die sich anzogen,
schnell und unaufhaltsam. Doch die hier wollten nicht retten, die hier
täuschten, wollten nicht aufgehalten werden, wollten aufhalten und Blut lecken.
Pandarei wich aus in letzter Sekunde und Metall und Holz lieferten sich
ein Blitzgefecht, viel Gewalt, viel Lärm. Pandarei wollte sehen, wollte helfen,
dem- oder derjenigen, der oder die beinahe ihr Mörder oder ihre Mörderin
geworden wäre. Eine Mutter von drei Kindern - sie wußte also wie das ist - saß
am Steuer - sie war wohl gerade auf dem Heimweg von der Nikolausfeier ihres
Turnvereins- und rollte mit den Augen und kreischte - sie wollte nicht Gutes.
Das sah Pandarei. Damals war sie jung gewesen und sie war dagelegen und mußte
nur noch eingepackt werden, doch jetzt konnte sie laufen, wenn auch die Füße
sie nicht mehr tragen wollten. Hinein ins Unbekannte, in die Nacht. Das Lachen
war überall und sie lief dennoch weiter, weil sie wußte, daß sie diesmal die
Chance hatte zu entkommen!
Sie war weiß und lief durch Schwarz. Ihr wurde bewußt, wie schwer es war,
das einzige Licht zu sein, das einer Welt leuchtet. Die sie wiederfindende
Stille war tröstend. Sie fand sie allein wieder; die Melodie. Sie klang
vertraut in ihrer eigenen Sprache, die sie gesprochen hatte, bevor die sie ihr
genommen hatten und ihr dafür eine andere gegeben hatten, eine künstliche, die
mit der Welt nicht zu tun hatte und die schließlich die Welt verändert hatte,
sie in eine Welt verwandelt hatte, die ihr fremd war. All die Jahre hatte sie
nichts davon gemerkt. Doch jetzt klang die Melodie wieder, die den Weg
beschrieb dorthin, wo ihre Heimat lag, und die Melodie kam aus ihrem
Mund, so als wäre sie nur kurz weggewesen, hätte nur einen kurzen Ausflug ins
Land des Vergessens gemacht und blühte jetzt wieder wie eine Blume in der
Wüste, die Jahrzehnte braucht, um wieder genug Kraft zu haben, um n all ihrer Herrlichkeit
wieder zu erstehen
Da war auch wieder die schützende Hand des Himmels. Ihre Füße mußte sie
kaum noch bewegen wie auf einer Rolltreppe, die sie emportrug in die
Spielwarenabteilung. Ein fester Pfad durch das Dunkel. Sie wurde weitergereicht
wie eine Fackel von Hand zu Hand, um irgendwann in die Hand des Brandstifters
gegeben zu werden, der damit einen Palast in Brand setzte, ein Palast, dessen
Putz bereits bröckelte und der innen leer war, denn der Brandstifter war schon
dagewesen und hatte alles, was wertvoll war unbemerkt aus dem Haus geschafft.
Nun würde alles vernichtet werden und ein neues, schönes Haus kann dann vom
Brandmeister errichtet werden. Doch noch während er seine neue Wohnung mit
seinen Schätzen einrichtet, wird ein neuer kommen und alles fortschaffen, was
er zu fassen bekommt. Und der Hausherr wird durch seine Räume schweifen und
merken, daß jeden Tag ein Stück mehr fehlt und er wird Wachen aufstellen, doch
das wird nichts nützen, schließlich hatten ihn auch keine Wachen abgeschreckt
zu seiner Zeit. Er wird sich im Bett verkriechen, damit er nicht mehr mit
ansehen muß, wie sein Reichtum schrumpft und er wird seine Bettdecke gut
festhalten, damit sie nicht auch noch verschwindet, denn die Wärme ist das
einzige, was seinen Geist soweit lähmt, daß er am Morgen die Kraft hat in den
Spiegel zu sehen, den irgend jemand seinem Bett gegenüber aufhängt, sooft er
ihm auch entfernen läßt. Eines Nachts wird wieder das Feuer kommen und der
Rauch wird ihn einhüllen und er wird schlafend wie ein kleines Kind endlich
dorthin gelangen, wo er Frieden findet. Dieses Mal würde Pandarei die Fackel
sein, nächstes Mal jemand anders. Das ist egal, für die Fackel ist nur wichtig
zu brennen und weitergereicht zu werden, um zu einem Großbrand anwachsen zu können.
Sie sah ein Licht durch die Bäume scheinen, ein festes. Jemand hatte
hier, mitten im Wald, sein Zuhause gefunden. Sie schritt darauf zu. Sie hatte
nicht einmal Sorge, einen die Einsamkeit suchenden Mönch nach vierzig Jahren
Schweigen wieder zum Sprechen zu zwingen und ihn so von der Himmelstüre, deren
Knauf schon in seiner Hand gelegen hatte, zu verjagen. Nein, sie fühlte sich
vollkommen im Recht. Schließlich war nicht ihr Auto liegen geblieben und sie
klingelte nicht, um mal kurz telefonieren zu dürfen insgeheim in der Hoffnung
vom Hausherrn noch auf ein rauschendes Fest eingeladen zu werden. Nein, sie war
unterwegs in dieser Silvesternacht, um die Welt zu retten, notwendige
Voraussetzung für alle weiteren rauschenden Feste.
Sie näherte sich der Tür, vernahm zwei Stimmen, eine männliche und eine
weibliche, beide klangen
sehr erfahren. Plötzlich stimmte die männliche in ihr Lied ein das sie
unbewußt weitergesungen hatte. Sie verdoppelte noch einmal die Kraft in ihrer
Stimme und das Universum bebte für den Moment, als die Tür weit aufgestoßen
wurde und der alte Mann, der offenbar seine Grube nicht mehr nötig hatte, mit
weit geöffneten Armen vor ihr erschien.
"Pandarei! So eine Überraschung! Willkommen, tritt ein, bring Glück
herein!"
Nichts hatte sich verändert: Die Baracke stand da, jeder Autoreifen,
jedes Wellblech stand noch an seinem Platz. Pandarei hatte einst geglaubt, daß
alles sich fließend verändere.
Zögerlich fiel sie dem Alten um den Hals und ließ sich küssen und in die
wärmende Stube tragen. An dem Platz, der einst ihrer gewesen war, saß eine
milde lächelnde alte Dame in einem aufwendig schillernden Abendkleid über und
über mit Perlen behängt.
Es wurde ihr aus der Ecke ein Stuhl an den Tisch gestellt.
"Auch heute haben wir noch Suppe für dich übrig, mein Kind. Vieles
ist im Leben Zufall, doch diesmal erlaube mir von Schicksal zu reden",
sagte er und stellte ihr die weiß dampfende Schüssel hin. Pandarei konnte dem
verführerischen Anblick nur schwer widerstehen. Doch nun sah alles anders aus,
diesmal war es ernst.
"Tut mir leid, wenn ich dein Angebot ausschlagen muß, ich bin sehr
in Eile und brauche einen klaren Kopf."
"Willst du mich beleidigen?"
"Es geht um die Rettung der Welt," sagte Pandarei und wollte
sich schon wieder erheben.
"Die Jugend," warf die alte Frau ein mit künstlich sorgenvoller
Miene, die sich sofort wieder glättete zu einem sanft rauschenden Ozean der
Ruhe und Ausgeglichenheit.
"Ich bin schließlich kein Kind mehr, damals war alles ein Spiel und
jetzt ist es sehr ernst."
"Entschuldige, das habe ich ganz vergessen. Das ist ganz leicht,
wenn man so abgeschieden wohnt und nichts von der Welt mitbekommt,"
antwortete er, setzte sich traurig an seinen Stuhl und starrte auf die leere
Mitte des Tischs. Die Alte nahm seine zur Faust geballte Rechte und strich
weich darüber. Er hob seinen Kopf und sah in ein Lächeln von rührender
Zärtlichkeit, das sich auf sein träges Gesicht übertrug. Die beiden waren ganz
für sich und Pandarei kämpfte mit einer Träne, die geschickt ihrem Auge
entwischt war und munter eine Wange hinunter kullerte. Sie hatte die Hand schon
ausgestreckt, um den Löffel zu ergreifen, als er fragte: "Sollen wir dir
ein Taxi rufen?"
Pandarei blickte ihn erschrocken an.
Die Alte stand auf und legte ihre Hände auf ihre Backen.
"Mein Kind, nur die Liebe kann die Welt retten."
Die Liebe! Elvis war ein Mensch mit dem Verstand eines Gorillas. Was
waren denn das für Aussichten, wenn dieses Märchen - sollte es wirklich ein
gutes Ende haben - konsequent fertig erzählt wurde. Pandarei fiel auf, daß es
für sie immer dumm laufen würde.
"Glaub mir, ein Kuß wird die Welt erlösen, heute ist ein ganz
besonderer Abend."
All diese Worte standen hilflos auf Pandareis Gesicht, das eine tiefe
Finsternis auffraß.
"Du bist nicht zufällig hierher gekommen, mein Kind." Die
Stimme der Alten klang fast befehlend.
"Das Taxi wartet in Wirklichkeit schon ein paar Stunden auf
dich," sagte er jetzt wieder und die weiße Flüssigkeit schwamm mit
verdächtiger Gelassenheit in ihrer Schüssel vor ihren Augen.
Beide standen jetzt hinter ihr und griffen ihr unter die Arme, hoben sie
hoch. Sanft brachten sie sie zur Tür. Pandarei blickte zurück und sah den Tisch
mit der Schüssel und den drei leeren Stühlen. Wehmut jagte vorbei und streifte
schnell das Herz, so daß es erschrak und noch einige Sekunden melancholisch
taumeln mußte.
Man hat manchmal das Gefühl, wenn man vor einer Tür steht, die sich
gerade hinter einem geschlossen hat, daß alle Leute in dem Raum, den man gerade
verlassen hat, nun laut auf lachen. Pandarei hatte dieses Gefühl nicht, denn
sie hörte, wie hinter ihr höhnisches Gelächter explodierte und vor ihren Augen
verschwamm bereits das gelbe Taxi mit dem laufenden Motor und der magere,
kleine, schwarzhaarige Mann, dessen Gesicht weit älter aussah, als es sein
konnte und der ihr höflich die hintere rechte Tür aufhielt, aber dann erinnerte
sie sich daran, daß immer noch John Lennon auf ihrer Brust ruhte und schritt
beherzt auf das Auto zu.
"Wohin soll ich Sie bringen, Lady?" fragte der Fahrer über
seine rechte Schulter zwinkernd, als sie saßen.
Wohin wollte sie eigentlich? Was hatte sie realistisch gesehen für
Chancen, irgend etwas zu bewirken? Wer würde ihr die Geschichte glauben, über
die sie selbst nur gelacht hätte, wäre jemand auf die dreiste Idee gekommen,
sie ihr zu erzählen?
"Ins Fernsehstudio bitte." Der Versuch war es immerhin wert.
"Aha, also wieder jemand, der hofft, Nobnoj Smada leibhaftig zu
begegnen. Klar, dies könnte ja auch das letzte mal sein," sagte er mit
einem Grinsen im Gesicht und ließ seinem Wagen freien Lauf.
Die Stille, die sich um sie herum daraufhin ereignete, nutzte Pandarei,
um ihr stark lädiertes Kleid wieder irgendwie in irgend eine Form zubringen.
Nachdem sie das eine Weile gemacht hatte, fand sie, das sie immer irgendwie gut
aussah. Deshalb sah sie dem Fahrer mit ganz neuem Selbstbewußtsein auf die
Schulter, die Haare und das ziemlich häßliche, unbewegte Profil.
"Stört es dich, wenn ich rauche?" wollte er wissen.
Sie schüttelte den Kopf.
"Hättest du auch eine gewollt?" Er streckte ihr die Schachtel
bereits lässig entgegen. Sie hätte nie nein gesagt. Feuer vom Anzünder. Sie
fand die Häßlichkeit seines Gesichts unglaublich anziehen. Die Adlernase, die
tiefen Furchen, die zuwenig Schlaf in der Jugend und die Einnahme nicht
gesundheitsfördernder Mittel narbengleich verursacht hatten, die Wunden
der Zeit und die unendliche, unausweichliche Trägheit seiner Augen.
"Darf ich dich fragen, was mit deinem Kleid passiert ist? Gab's
Streit mit dem Bräutigam?"
"Nein, das ist eine längere Geschichte. Ich versuche gerade den
Bräutigam einzuholen."
"Oh, das klingt romantisch. Aber ihr habt bald ein ganzes
Jahrtausend, das kann viel Zeit sein. Wolltet ihr im Fernsehen heiraten?"
"Eigentlich nicht, aber so wie es jetzt aussieht. . ."
"Scheiße!"
"Nicht hier! Nein nicht!"
Der Motor hatte aufgehört zu arbeiten, sie rollten durch die Nacht und er
drehte bereits hektisch heftig am Zündschlüssel, seine Flüche verdichteten
sich. Pandarei verstand zunächst nicht, schließlich lief der Zähler weiter.
"Nur die Ruhe, keine Panik!" Das sagte er nicht zu Pandarei,
die existierte nicht mehr. Sie waren zum Stehen gekommen.
"Kannst du Auto fahren?"
"Ja, wieso?"
"Wenn jetzt irgend etwas passiert, dann denk nicht an mich, sondern
versuch dich zu retten, Hörst du? Das ist alles kein Zufall. Ist das
Klar?"
Draußen war Nebel, der die Stimmen der Freunde verschluckte und die der
Feinde allein durchließ, teuflisch verstärkte. Sie klangen nach Wölfen, die
keine Ruhe fanden, weil sie dem blutverschmierten Mond anheulen mußten. Der
Mond, der dort oben sorgenvoll nach seinen Lieben suchte, vergeblich in der
Dunkelheit und die Wolkenwand in ein unheilvolles Licht tauchte.
Der Fahrer stieg aus und schlug geräuschvoll die Tür zu. Pandarei sah den
Schlüssel und wie an ihm ein Donald Duck baumelte; obwohl er ein wütendes
Gesicht hatte, wirkte er sehr zynisch. Pandarei haßte ihn dafür.
Sie sah wie er sich über den Motor beugte, er zitterte, verstand sicher
etwas davon.
Die Augen kamen rot und gefährlich aus der Nacht. Pandarei schrie und
auch er schrie, doch zu spät. Sie waren viele und sie waren hungrig. Blut und
menschliche Extremitäten. Pandarei merkte, wie es der Verzweiflung fast gelang,
sie unvernünftige Dinge tun zu lassen, da schwang sie sich auf den Fahrersitz und
fühlte den Donald. Tränen. Kreischen und ein Motor, der es immer nur fast
schaffte. Die gierige Meute umschlich ihr Auto, warf Blicke hinein, nur wenige
stritten noch um die Reste des Fahrers. Pandarei sah nicht wie er Anlauf nahm,
doch plötzlich klebten das blutige Maul, die mörderischen Zähne an ihrer
Scheibe, der Knall ließ tausend Herzen zur Ruhe kommen, doch er riß nicht ab,
sondern fand Fortsetzung in warmem, guten alten Motorengeklapper. Ein
durchgetretenes Gaspedal, durchdrehende Reifen. Fallen der Motorhaube. Pandarei
brauchte, um sich wirklich dessen bewußt zu werden. Das war kein Zufall. Die
Wölfe hielten überraschend lange mit, fand sie, sie mußten wirklich hungrig
sein. Pandarei erblickte den noch laufenden Zähler und mußte lachen. Sie hätte gar
kein Geld dabei gehabt!