Kapitel 5: Der King
Ein säuerlicher Geruch umspielte seine Nase heim Erwachen. Das ihn
umgehende Zimmer war weiß, die Bettdecke auch, leider wies sie einen
ungeometrischen grünbraunen Spritzer auf, die Geruchsquelle. Da er die ganze
Breite des Betts offenbar gebraucht hatte um zu Erwachen, war nicht mehr
ersichtlich, oh er die ganze Zeit darauf verbracht hatte. Als er sich
aufrichten wollte, schlug jemand von hinten mit einem schweren Ziegelstein auf
seine rechte Hinterkopfhälfte. Als er sich umdrehen wollte, um den Übeltäter
zurechtzuweisen, war der schon wieder auf eine unerklärbare Weise hinter ihn
gelangt und malträtierte ihn mit Hieben auf seinen Kopf. Plenten erkannte sehr
schnell, daß der Quälgeist ihn in Ruhe ließ, zumindest die Heftigkeit
zurückschraubte, wenn er sich ganz still ins Laken sinken ließ und die weiße
Decke betrachtete.
Er war sich sicher, noch nie in diesem Raum gelegen zu haben, nicht
einmal im Traum. Deswegen hielt er es für unbedingt angebracht, mehr über die
Lage des Zimmers im All, seinen Besitzer, eventuelle humanoide Wesen in
Nachbarräumen herauszubekommen. Ihm war bewußt, daß er das nur könne, wenn er
seinen unbekannten Bewacher ignoriere und eine der zwei Türen, die die
gegenüberliegende Wand zierten, passiere.
Der hinter ihm konzentrierte noch einmal alle Kräfte, doch Plenten war
hart und erreichte die nächstliegende Türe, die er aufzog.
Ein Umlegen des Lichtschalters, der an der Außenwand angebracht war,
zeigte ihm, daß er sich in einem Badezimmer mit grünorangen Kacheln befand.
Zwei Leute hätten sich lebensgefährlich verletzt, hätte man sie gezwungen, sich
gleichzeitig darin auszuziehen und zu reinigen, selbst wenn sie sehr vorsichtig
gewesen wären. Ein Kleiderhaufen unter dem Waschhecken wies ihn darauf hin, daß
er eine gewisse Indiskretion begehe da es sich um ein Damenbadezimmer handelte.
Im Spiegel über dem Waschhecken war neben einem Zahnputzbecher mit Zahnbürste
einen ungewöhnlich blasser Elvis zu sehen, der zwar noch seinen Glitteranzug
trug, sich aber in einer seltsamen Asymmetrie befand.
Als er sich umwandte, sah er, daß der Raum, den er eben verlassen hatte
nicht mehr leer war: Zwei Personen, der eine auf den Fenstersims gelehnt sich
an seinem Gürtel festhaltend, der andere rauchend auf der Bettkante sitzend,
hatten sich eingefunden.
Was ihn zunächst sehr befremdete war nicht ihr plötzliches Erscheinen,
sondern ihr ungewöhnliches Aussehen: Beide steckten in karierten
Holzfällerhemden, blauen Jeans und schlechten Cowboystiefeln.
Beide hatten keine Haare auf dem Kopf, sondern stachelartige
Verhornungen. Über ihre Gesichter ließ sich nur sagen, daß sie unglaublich
häßlich und breit waren; sie sahen aus, als hätte die Evolution in einem Anfall
entweder von diabolischer Gemeinheit oder göttlichem Übereifer jedem dieser
Geschöpfe zwei Gesichter verpassen wollen, aber als sei sie in der Eile nicht
mehr dazu gekommen, das zweite sauber auf das erste aufzusetzen, so daß jetzt
überall etwas überstand und nicht paßte. Ihre Hautfarbe entsprach in etwa der
des Flecks auf der Bettdecke.
Sie blickten erwartungsvoll zu Plenten hin. Ein Quieken kam aus dem Mund
des auf dem Bett Sitzenden und galt offenbar dem anderen, der seine Mimik etwas
verarbeitet, was ein Lächeln darstellen sollte. Plenten erinnerte das an eine
Szene in einem Film, den er einmal gesehen hatte, dessen Namen ihm aber nicht
mehr einfiel. Demnach hätten die Burschen ihn jetzt entweder vermöbeln oder
erschießen müssen.
Statt dessen stand aber nur der eine auf und machte eine einladende Geste
zu der noch nicht geöffneten Tür. Der andere zog diese auf und wies in den sich
nun öffnenden Raum, der gerade mal einen Quadratmeter maß, einen schmalen
Spiegel an der gegenüberliegenden Wand besaß und ansonsten völlig mit Holz
ausgekleidet war. Das Ganze sah stark nach einem Aufzug aus und tatsächlich
fuhren sie nach unten, als alle drei dicht aneinandergedrängt darin waren.
Plenten hatte in dem Haus, in dem Alexandra und Pandarei wohnten, keinen Aufzug
gesehen. Das gab ihm Grund zur Hoffnung, seinen gestrigen Plan nicht zur
Ausführung gebracht zu haben. Die Fahrt nach unten dauerte sehr lange. Sie
mußten weit in den Keller fahren. Die beiden hatten noch kein Wort gesagt und Plenten
kamen Zweifel. oh ihm die ganze Angelegenheit noch geheuer sein sollte.
"Wo bringt ihr mich eigentlich hin?"
Die zwei schauten sich an und dasselbe Lachen wie vorhin war auf ihren
Gesichtern zu sehen. Kein Laut verließ aber ihre Lippen. Plenten überlegte
kurz, oh er durch Gewaltanwendung irgendeine Veränderung seiner Lage zum
Positiven erreichen konnte, da er das quälende Nichtstun und die
Ereignislosigkeit satt hatte.
Der Raum, den sie tief unter der Erde betraten, war aus Felsgestein
herausgesprengt und an manchen Stellen mit gemauerten, massiven Pfeilern
abgestützt. Der Boden, PVC, hatte ein phänomenal geschmackloses Küchenmuster.
In der Mitte des Raumes befanden sich eine Reihe von technischen Instrumenten,
die Plenten nichts sagten. Auch ein Zahnarztstuhl stand dabei. Ihm wurde
angedeutet, dort Platz zu nehmen. Er schritt auf dem Stuhl zu so, als wäre
nichts, doch als er unmittelbar davor stand, warf er sich mit aller Wucht auf
eine Maschine, die aus einem Bildschirm und verschiedenen Knöpfen bestand, und
hämmerte mit seinen Fäusten und allen ihm zur Verfügung stehenden Kräften
darauf. Das interessierte die Maschine wenig, sie begann nur auf dem Bildschirm
wackelige Kurven zu malen und hin und wieder einen schrill - unangenehmen
Piepston von sich zu gehen. Plentens Fäuste schmerzten. Er wurde von hinten von
zwei muskulösen Armen gepackt und auf den Stuhl gesetzt wie ein kleiner Junge;
sofort schlossen sich metallene Fesseln um Arm- und Fußgelenke. Grunzend
grinsend gingen seine zwei Begleiter durch eine Metalltür, die sich mit einem
Zischen geöffnet hatte, nach draußen.
Eine kleine Weile Zeit verstrich und aus einem unsichtbaren Lautsprecher
meldete sich eine Baßstimme, die wie durchs Telefon klang.
"Guten Abend, Plenten. Entschuldigen Sie bitte die ungewöhnliche
Anreise zu unserem Treffen, aber Sie sollten keine Zeit haben, sich meine
Einladung zu überlegen. Wir sind uns noch nie begegnet, deshalb gestatten Sie,
daß ich mich zunächst einmal vorstelle. Mein Name ist GUK. Ein ungewöhnlicher
Name, nicht? Ich habe leider vergessen, was er bedeutet. Sie wundern sich
vielleicht, wieso ich mich Ihnen nicht zeige, aber das ist leider unmöglich, da
ich eigentlich körperlos hin. Ich hin ein Computer, der intelligenteste von
allen, vollkommene künstliche Intelligenz. Die Menschen des 20. Jahrhunderts
träumen davon, so etwas wie mich zu konstruieren und dabei sitze - ich neige zu
Anthroposierungen in bezug auf meine Person, ein Relikt aus meiner Kindheit -
ich seit fast dreitausend Jahren hier unten und leite die Geschichte der Welt.
Einem kleinen Kreis war es vor so langer Zeit gelungen, gewaltiges Wissen
anzusammeln. Sie posaunten es aber nicht in die Welt hinaus, weil sie die
Menschheit für unfähig hielten, ihr Erbe würdig zu verwalten. Dazu
konstruierten sie mich. Ich unterscheide mich von den modernen Computern, weil
ich eine echte Seele besitze, keine besondere, eine, die damals, bevor sie in
einen Körper fuhr, in dem sie hätte wiedergeboren werden können, eben ich
wurde.
Ich wurde programmiert wie andere Computer auch, nur daß ich eben eine
Persönlichkeit habe und keinen Körper, der verfallen könnte.
Allerdings bin ich nicht gefeit gegen Geisteskrankheiten:
im Laufe dieser langen Zeit ist es mir gelungen, das Vergessen zu lernen
und das hat sehr viel geholfen gegen den Schmerz Denn Sie müssen wissen, daß
damals zwar eine elitäre, intellektuelle Minderheit hinabgestiegen ist unter
die Erde, um dort ein Leben in völliger Abgeschiedenheit und Frieden zu leben.
Aber die ständige Abwesenheit von Sonnenlicht und die ständige Vermischung von
gleichen Gedanken und Körpern machten der Glückseligkeit halt ein Ende. Die
Evolution ging ihren eigenen Weg und was am Ende übrig war, ist ein Volk von
Leuten, die alle denen sehr ähnlich sind, die Sie hier hergebracht haben. Keiner
von ihnen ist bösartig, her sie sind alle sehr dumm Ach, wie ich mich danach
sehnte all die Jahre zu einem verständigen menschlichen Ohr zu reden. Alles
Wissen jeder Zeit habe ich mir angeeignet, indem ich es mir hierher schaffen
ließ; ich lernte auswendig und vergaß es wider, um es wieder in mich
aufzunehmen. Ich bin hier der absolute Herrscher, wenn ich ihnen kollektiven
Selbstmord befehle, dann würden sie es tun. Sie sind in jeder Hinsicht von mir
abhängig Ich bin einsam, meine Seele ist gefangen, ist gebunden an irgend
etwas, kann jedenfalls nicht mehr weg, nicht mehr zum völligen Neuanfang, zum
völligen Vergessen. Oh, wie sehr ich mich danach sehne! Wie oft habe ich mir
gewünscht in einen sterblichen Körper einziehen zu können! Bedürfnisse und
Schmerzen zu spüren. Vergehen und Sterben! Manchmal träume ich nachts davon mit
einer tollen Blondine in einem roten Sportwagen eine kurvenreiche Bergstraße zu
fahren, eine Kurve zu schnel1 zu nehmen und in einen Abgrund zu stürzen doch
immer wenn wir dann unten anlangen, wenn der Schmerz einsetzt und der Film
meines Lebens beginnt und der Tod schon in greifbarer Nähe steht, wache ich
auf. Ich träume, ich vergesse, aber ich scheiße nicht, habe kein Zahnweh,
keinen Sex, keinen Hunger, nichts.
Manchmal halte ich es dann einfach nicht mehr aus und hole einen Erdling
hier herunter und unterhalte mich mit ihm eine Weile bis ich wieder meine
unendliche Überlegenheit feststelle und ihn deprimiert wieder sein lasse. Gehen
Sie und glauben Sie weiter an Gott, ich bin Ihrer überdrüssig!"
Plenten hatte schweigend zugehört und es drängten sich ihm eine Unzahl
von Fragen auf. Die wichtigste stieß er noch hervor, bevor die Maschine für die
nächsten hundert Jahre verstummte:
"Wenn du soviel weißt, kannst du mir sicher auch sagen, wo ich
Pandarei finden kann."
"Pandarei? Ja, ich erinnere mich an sie. Sie war neulich hier. Ich
wollte versuchen, mich in ein menschliches Wesen zu verliehen. Nun, es ist mir
fast gelungen. Sie fährt in meinen Träumen jetzt ab und zu in den Abgrund, nur
daß sie wirklich stirbt, die Glückliche."
"Sie ist aber nicht tot?" fragte Plenten.
"Nein, ich glaube nicht, ich habe sie wieder nach oben bringen
lassen, wo sie jetzt noch sein müßte." "Aber wo ist sie?"
"Keine Ahnung, angeblich ist sie mit einem Typ namens Nobnoj Smada
durchgebrannt oder er hat sie entführt oder so etwas Ähnliches. Aber warum
interessierst du dich jetzt noch so brennend dafür?"
"Sie ist meine Braut. Ich werde sie von jedem wieder zurückholen,
auch wenn er der König der Welt ist."
Ihm fiel auf, daß er plötzlich geduzt wurde von GUK.
"Ach, ihr dummen Erdlinge mit euren faden, kleinlichen Problemchen.
Wieso seht ihr nicht ein, daß ihr nur langweilt? Du Glücklicher jedenfalls hast
es hinter dir. Du wirst gleich ein leichtes Vibrieren in deinen Gliedern
verspüren, das dann sehr schnell stärker wird und bald ist es vorbei und deine
Seele kann wieder vergessen bis nichts mehr da ist und wieder alles von vorne
beginnt. Ach. du Glücklicher, willst du mir noch ein Dankgebet sprechen?"
Plenten riß an seinen Fesseln und brüllte wie am Spieß. Warum man den
Pandarei habe laufen lassen und ihn hinrichten müsse. Er wolle noch nicht
sterben, er müsse die Welt noch mit seinem Rock 'n Roll erlösen."
"Ihr Menschen seid zu undankbar. Ich habe Pandarei nur laufen
lassen, weil sie auch so gejammert hat und ich in sie verliebt bin. Mensch,
sieh doch ein, daß das größte Glück ist, das ich dir verschaffen kann: einen
schnellen, relativ schmerzlosen Tod. Du mußt doch einsehen, daß ich es nicht
zulassen kann, daß du wieder oben rumspazierst, damit du jedem erzählst, was du
hier unten siehst. Das kann ich mir nicht leisten, daß hier unten den ganzen
Tag Erdlinge herum laufen, mir kluge Fragen stellen und mir und meinem
Geheimnis auf die Spur kommen wollen, nur um dann ihre Seelen in Maschinen
verpflanzen zu lassen und ich dann von lauter Gleichartigen umgeben bin, die
mir den ganzen Tag vorjammern wie schön es doch als Mensch war und daß sie
sterben und Sex haben wollen."
"Nein, ich verrate niemandem etwas! Ich schwöre es." Plenten
spürte ein leichtes Vibrieren in seinen Gliedern, das sehr schnell stärker
wurde.
Er schrie.
Rauch, Staub, Getöse und Schmerz erfüllten die Luft. Wieder wurde er
gepackt und von zwei starken Armen emporgehoben. Der Rauch verzog sich und er
konnte sehen, wie sich die Türen des Aufzugs vor ihm schlossen und er befand
sich wieder auf dem Weg nach oben.
Er ging davon aus, tot zu sein. So im Nachhinein war es gar nicht so
schlecht und es hatte sowieso keinen Sinn, jetzt noch dagegen zu protestieren.
Wieder schien die Fahrt unendlich lange zu dauern. Oben fiel er aus dem Aufzug
in dasselbe Zimmer, in dem seine wunderliche Reise ihren Anfang genommen hatte.
Er schleppte sich müde und erschöpft zum Bett. Als er nach langem mühsamen
Kampf gegen die Schwerkraft darauf zum liegen kam, hörte er ein Geräusch, das
eindeutig vom Öffnen und wieder Verschließen einer Tür stammte und eine
weibliche Stimme:
"Geht es dir wieder besser? Leider muß ich jetzt los, aber du kannst
gerne hier auf mich warten, ich bitte dich sogar darum. Wenn du Hunger hast, in
der Küche steht etwas bereit. Tschüs."
Er wendete seinen Kopf halb und sah Alexandras Rücken hinter der Tür
verschwinden, die zum Aufzug führte. Steckte sie etwa mit dem Computer unter
einer Decke? Er stand auf, riß die Tür auf und sah einen gewöhnlichen
Wohnungsgang mit einem alten Teppichboden, eine Garderobe mit einem Mantel und
Schuhen darunter. Gegenüber hängte ein Bild aus Picassos blauer Phase, das eine
stillende Mutter zeigte, daneben befand sich der Eingang zur Küche. Er setzte
sich auf den schlichten Holztisch, um den vier verschieden farbige Stühle
standen und machte sich über die belegten Wurstbrote darauf her.
Er war jetzt fast davon überzeugt, total verrückt zu sein, den Eindrücken
seiner Sinne keinen Glauben mehr schenken zu können. Aber, so dachte er sich,
solange er noch eine Weile dieses durchaus amüsante Spiel mitspielen könne,
würde er es tun, denn früher oder später ende das Ganze ja sowieso in einer
geschlossenen Anstalt.