Kapitel 6:

Er mußte Pandarei finden, es gab keine andere Möglichkeit! Er wußte wie sie aussah, wo sie gewohnt, wo sie gearbeitet hatte und daß sie sich in der Nähe von Nobnoj Smada aufhielt, aus welchem Grund auch immer. Offenbar wurde ihr Verschwinden von nicht vielen Leuten bemerkt.

Alexandra war angeblich ihre Freundin, aber keine sehr enge, sonst würde sie etwas unternehmen. Oder Pandarei verschwand öfters für ein paar Tage, so daß daran nichts Aufsehenerregendes war. Dann bräuchte er nur in ihrer Wohnung zu warten. Ihre Wohnung! Kein Mensch hatte nach ihr gefragt, keine Post, keine Anrufe. Heinz Sieweich hatte ihn dort besucht als wie wenn es seine Wohnung wäre. Vielleicht war Pandarei ja nur ein Hirngespinst. Aber wie kam er dann zu der Wohnung? Er war sich ziemlich sicher, an jedes Jahr in seinem Leben eine Erinnerung zu haben.

Heinz hatte er allerdings nie nach Pandarei gefragt. Möglicherweise könnte er sie zusammenbringen. Wie konnte er an Nobnoj herankommen? Der Computer war ziemlich verrückt, vielleicht hatte er sich auch einfach nur getäuscht. Ein Computer, der sich in Pandarei verliebt!

Er wußte nicht, wo er Heinz finden konnte außer im Purple Haze. Es war aber eindeutig noch zu früh, um dorthin zu gehen, es dämmerte gerade. Er beschloß, in Pandareis Wohnung zu warten.

Die Stufen hoch dachte er sich, was für ein lächerliches Bild er doch abgebe. Der King schleppt sich verkatert die Treppen eines Mietshauses hinauf!

Ihm fiel auf, daß er im selben Jahr geboren war, in dem der King gestorben war: 1977, am l6. August. War der King etwa am selben Tag gestorben, an dem er geboren war? Dann wäre er ja wirklich der legitime Thronfolger! Natürlich, daß er darauf nicht schon lange gekommen war!

In dem Zimmer sah alles so aus, wie er es vorgefunden hatte, als er aufgewacht war: die Fetische an der Wand, das Plakat mit Elvis, die Kochnische, die Wiener Würstchen und das Weizenbier auf dem Tisch und Heinz mit Boulevardblatt auf dem Stuhl daneben. Es lief Velvet Underground.

Als er eintrat, bog Heinz die Zeitung nach unten, schaute über seine Brille und sagte:

"Dachte schon, du tauchst nicht mehr auf, tust etwas Überstürztes. Ich habe dir ein Frühstück vorbei gebracht."

"Danke, ich habe schon gegessen."

"Es ist manches dumm gelaufen, tut mir leid, ich hätte besser auf dich aufpassen müssen. Aber da du nun schon Bekanntschaft mit unseren Freunden da unten gemacht hast, ist es wohl an der Zeit, dir einige Dinge zu erklären."

"Wo ist Pandarei?"

"Sie ist in Sicherheit."

"Bei Nobnoj?"

"Ja."

"Ich muß zu ihr."

"Sie ist in Sicherheit. Es ist besser, wenn ihr nicht zusammen seid. Glaub' mir!"

"Wieso? Was soll das Ganze für einen Sinn haben, wenn ich nicht zu ihr kann?"

Ein Telefon klingelte. Heinz zog aus seiner Tasche ein Handy, drückte einen Knopf und lauschte gespannt auf die Stimme aus der Ferne.

"Was hat er gewollt?" Nach dem Auflegen. Um wen sonst als um Smada hätte es sich handeln sollen?

"Er will auch dich in seiner Nähe, am besten wir brechen gleich auf."

"Wohin?"

Eine gefährliche Wut sammelte in seinem Inneren ihre Kräfte. Alles was er wollte, war doch, in Ruhe gelassen zu werden, dafür daß er niemanden zur Last fiel. Sie brauchten ihn doch gar nicht durchzufüttern. Kein Gegenstand hätte sich ihm jetzt in den Weg stellen dürfen. Die Dinge konnten zwar nichts dafür, mußten aber büßen für ihre Ruhe ihre Gelassenheit und flogen sie auseinander, schrien sie auch nicht.

Sie sind eben reine Materie und brauchen sich um nichts Gedanken zu machen, nicht einmal darüber, ob es sie morgen noch gibt. Materie bleibt Materie, ob zerbrochen oder nicht. Er hätte sich jetzt jemanden gewünscht, der seine Hand auf seinen Kopf legt und mit drohender Miene sagt: "Mensch, gedenke daß du Staub bist und daß du zu Staub zurückkehrst." Nichts zu verlieren, eins mit dem Universum zu sein. Das Menschsein als kurzer Zustand der fehlenden Geborgenheit, das fehlende Aufgelöstsein im großen Ganzen.

Als die kalte Herbstluft seinen Kopf umwehte, merkte er, wie nach und nach sich der Nebel in seinen Kopf lichtete. Die Gedanken ordneten sich wieder zu übersichtlichen Reihen und konnten nach Bedarf abgerufen werden.

Die Menschen heizen ihre Räume nur, um nicht mehr klar denken zu müssen. Das Jahr im Halbschlaf verbringen zu müssen. Sie zogen alle die schlammiglaubraune Brühe einer Kloake klarem, frischen Quellwasser vor.

Jeder beheizte Raum ist ein Sarg, in dem die großen Geister dieser Welt beerdigt sind, um von müden und satten Menschen hervorgeholt und ein wenig poliert zu werden.

Etwas lag auf dem Boden, im Dreck, kümmerlich, ein Müllsack. Plenten wollte dagegen laufen aus Mutwillen Schmerz zufügen. Etwas war aber menschlich, Leben. Plenten bemerkte das spät und mit großem Erschrecken. Viel früher mußte er wahrgenommen worden sein.

"Hallo, Plenten!" Die Stimme klang alt und verlassen. Was hier im Schmutz lag, Schmutz war, hatte geglänzt, war Licht und im Licht gewesen. Nichts ist schmutziger als zertretener Glanz, verschmiertes Make-up auf einem plötzlich uralten Gesicht, ein zerrissenes Kleid und Schmuck, der weiß, daß er seinen Namen nicht mehr zurecht trägt und wartet, vergeblich und

verzweifelt, endlich entfernt zu werden, im Dunkeln zu vergammeln und nicht im Licht verhöhnen zu müssen.

"Mein Junge", Rührung lag in der Stimme von Sweet Little Susie, es machte sie zur Mutter.

Plenten konnte es kaum fassen, er stürzte zu Boden, ergriff ihre Hände, schäumte vor Glück.

"Ich dachte..."

"Ich weiß, aber Unkraut vergeht nicht."

Erleichtertes Lächeln beiderseits.

Sie sagte: "Du mußt jetzt einen Weg gehen und du weißt wahrscheinlich nicht, was das soll, aber laß dir keinen Scheiß erzählen, von niemanden, ja, und denk immer dran, daß dich in Wirklichkeit alle am Arsch lecken können."

"Ja, ich werds versuchen."

Heinz kam von hinten hervor und verpaßte Susie einen Fußtritt gegen das Gesicht.

Völlig unbeirrt nahm Heinz die leblose Susie auf die Schulter und trug sie davon wie einen Sack Müll, legte sie an den Straßenrand.

"Komm jetzt."

"Geh nur!" sagte sie und winkte.

Heinz besaß einen Ford Fiesta, dreckig und gemütlich. Als sie saßen und sich angeschnallt hatten, langte Heinz zum Handschuhfach und nahm eine kleine Dose heraus, der er zwei rote Pillen entnahm.

"Nimm. Es ist wirklich wichtig in deinem eigenen Interesse."

Plenten nahm nur noch von fern das Anlassen des Motors und das Anfahren wahr. Wieder fand er sich in besinnungslosem Zustand irgendeine Veränderung erwartend. Handeln wurde lästig, die Möglichkeit, alles mit sich geschehen lassen zu können, war verlockend, irgendwann brauchte er sein Leben nur noch aus der Ferne ohne Aufregung zu betrachten, um dann endlich in einem tausendjährigen Schlaf versinken zu können.

"Hey!" schrie Plenten.

 

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