Kapitel 9: Gewalt
Nobnoj hatte Recht behalten. Es fiel Planten nicht schwer, Luxus zu
genießen. Er war einsam hier. Er konnte nicht sagen, wo "hier" war.
Er war kein Mensch mehr, der Fragen stellte, solange äußerlich alles in Ordnung
zu sein schien. Ein großes Haus mit einem großen Garten, in einem Land, in dem
ständig die Sonne schien. Das Haus war neu, sollte aber irgendwie Altes
imitieren, alles in allem sagenhaft geschmacklos, von einem Kleingeist
eingerichtet, der einem traurigen Zwang zu verzweifelter Originalität oder
Selbstdarstellung verfallen war. Tragisch, tragisch.
Das nahm Pleiten zwar wahr, das hörte aber auch in seinem Herzen auf zu
sein. Eine wohlschmeckende Mahlzeit war zu bestimmten Tageszeiten immer für ihn
bereitgestellt, wobei er niemanden je dabei gesehen hatte, wie er etwas vom
oder zum Haus trug. Das einzige, was ihn fesselte, war eine riesige Bibliothek,
völlig wahllos zusammengestellt, die Bücher nach Größe geordnet. Er las Romane,
tagein, tagaus, lebte nur noch in Phantasiewelten, die zwischen Schwarz und
Weiß bunt erblühten. Nichts von der ihn umgebenden Realität nahm er noch in
sich auf. Körperliche Bedürfnisse wurden ihm lästig und unwillkommen. Besuche
verwirrten seinen Geist völlig.
Die einzigen zweibeinigen Lebewesen, die sich ab und an seinen Augen
präsentierten, waren Nobnoj und Heinz.
Ihm war längst klar geworden, daß nichts bleibt wie es war und daß Nobnoj
ein Psychopath war, leider ein nur in Maßen amüsanter; irgendein krankes
Hirngespinst brachte er immer mit wie ein kleines Kind das seine ersten
Erfahrungen mit der Medienwelt zu verarbeiten sucht. Die klassische Geschichte
mit den unterirdischen Computerkönigen hatte er bisher einige Male variiert,
bis hin zu außerirdischen Invasionen, die sich in die Körper von Kühen
einnisten, um dann die Menschen beim Verzehr des Fleisches zu vereinnahmen.
Plenten hatte das dumpfe Gefühl, die Varianten alle voraussagen zu können, wenn
er eine Zeitung oder einen Fernseher zur Verfügung gehabt hätte. Immer fiel
ihm, Plenten, eine besondere Aufgabe zu. Er solle als der wahre King unter die
Erde gehen und die Macht der Computer brechen, er solle durch seinen Rock 'n'
Roll, dem plötzlich magische Kräfte innewohnen sollten, den Kampfgeist der
Erdenbewohner anstacheln und die Außerirdischen lähmen und so weiter. Plenten
lernte sehr bald, wie ernst er diese Dinge nehmen mußte, er ging darauf ein,
egal was ihm erzählt wurde, weil er wußte, daß er morgen oder auch erst in
einer Woche die Welt auf eine ganz andere Weise würde retten müssen.
Auch Pandarei tauchte in den Erzählungen auf. Nobnoj kam oft hilfesuchend
zu Plenten, wollte einen Rat haben, da sie sich überhaupt nicht für ihn,
Nobnoj, interessiere, obwohl er ihr doch alles gebe, wozu seine Liebe fähig
sei, was er denn noch alles tun könne. Tags zuvor hatte er von wilden
Bettgeschichten erzählt. Er sprach zu Plenten mal wie zu ihrem Bruder, mal wie
zu ihrem Liebhaber, einem Konkurrenten. Planten selbst
bemühte sich stets möglichst schon am Anfang des Gesprächs herauszufinden, ob
er denn als Gefangener, bester Freund oder eine zufällige Bekanntschaft in
einer Bar angesprochen wurde.
Nobnoj war launisch, harmlos und dumm. Er hielt unglaublich viel von sich
und seinem Erfolg, hielt
sich sogar für einen großen Künstler. Das verhinderte, daß Plenten ihn
irgendwie sympathisch finden konnte, so sehr er sich
auch bemühte.
Wirklich, Plenten hatte etwas übrig für Freaks, in gewisser Weise
bezeichnete er sich selbst als einen. Doch Nobnoj war zu verkrampft, zu
gezwungen, kein besonderer Mensch, auf essen Bekanntschaft man großen Wert
legen müßte.
Seine Besuche fanden unregelmäßig statt. Teilweise erschien er am Tag
mehrmals, teilweise ließ er sich tagelang nicht sehen in der Bibliothek, die
Plenten nur noch verließ, wenn die Verrichtung gewisser körperlicher
Bedürfnisse große hygienische Mängel hervorrufen würde. Er kam dann wortlos
herein und setzte sich wartend auf einen grünen Ledersessel, der dem Sofa
gegenüberstand, auf dem Plenten entweder saß oder lag
in irgendein Romanwerk vertieft. Geduldig wartete er bis jener seinen Absatz,
sein Kapitel fertig gelesen hatte und das Buch auf einen kreisrunden Tisch, auf
dem eine Kanne und eine Tasse mit kaltgewordenem, schwarzen Tee standen gelegt
hatte.
"Guten Morgen," schrie Nobnoj.
"Morgen," sagte Plenten mit einem
gnädigem, müden Nicken, die Augen kurz schließend.
"Ich komme, weil die Situation höchste Eile erfordert, so brenzlig
war es noch nie." Plenten nickte. "Sie
wissen, welches Datum wir heute haben?"
Plenten hatte jegliches Zeitgefühl verloren seit er hier war, trotzdem
war er sich sicher, daß es höchstens Mitte Dezember geworden sein konnte.
Obwohl Nobnoj ein schlechter Schauspieler war, konnte Plenten erkennen, daß er
einen amerikanischen General aus einem amerikanischen Film darstellen wollte.
Aus welchem, wollte er gar nicht mutmaßen, weil er wußte, daß er sowas durchaus
haßte. Er nickte. "Dann wissen Sie ja, was los ist, Kommen Sie mit."
Keiner rührte sich. Das ganze Spiel lief immer nur im Sitzen, im Kopf ab.
"Sie kennen jene Frau noch, die Sie damals angeschleppt haben?"
"Pandarei?"
"Genau. Ich habe sie töten müssen. Sie wußte zuviel und es bestand
die Gefahr, daß sie der gegnerischen Seite Informationen zukommen ließ."
"Was?" Plenten spielte Entsetzen.
"Genau. Sie wissen, daß Sie dieser Vorfall nicht in ein besseres
Licht rückt. Es wird sich zeigen, ob wir auch noch Schritte gegen Sie
unternehmen müssen. Folgen Sie mir einstweilen!"
"Sie wissen, daß ich Sie von hinten längst hätte überwältigen
können."
"Sie wissen aber auch, daß Sie ohne mich nie hier rausfinden."
Plenten fühlte, wie eine ungeheure Müdigkeit es sich in ihm bequem
machte. Er fragte sich, wieviel von diesem Schwachsinn er heute ertragen
könnte. Was faszinierte diesen Menschen nur immer wieder daran, sich mit ihm
auf imaginäre Abenteuer zu begeben?
"Halt! Bis hierhin und nicht weiter. . .
sehen Sie?" Plenten hatte keine Ahnung, was er denn jetzt betrachten
sollte, vielleicht eine Schlangengrube.
"Woher haben Sie das gewußt?"
"Ich gehe seit meiner Kindheit in diesem Labyrinth aus und
ein."
Das war zuviel. Plenten war kein Mensch, der zu
Gewalttätigkeiten neigte, jetzt jedoch stand er ruckhaft auf und kippte den
Tisch. Er nahm die Kanne, aus feinstem Porzellan und hieb sie Nobnoj über den
Schädel, dergestalt, daß sie in tausend bunte Splitter zerbrach. Das blutete.
Das tat gut. Das machte Spaß.
"Raus!" brüllte er.
Nobnoj wimmerte, krümmte sich, wollte eins werden mit dem Boden, dem
Erdreich, dem Teppich, dem roten Teppich, wollte hineinfließen, bloß hinein. Er
winselte.
Plenten hatte Blut gerochen und fand es gut. Er holte aus mit seinem Fuß
und trat, trat in Fleisch, lebendiges, das nachgab und Schmerz empfand.
Schrille Schreie zerrissen sie Stille, in der die Atmosphäre des Raums gedacht
hatte, sich wiegen zu können. Zucken, Nerven, die zucken und
Weichheit und Härte. Plenten war Gott und er
bestrafte seine Schöpfung, ließ sie wissen, wer der Herr dieses Universums war.
"Hört auf, hört auf! Ich verrate auch alles."
Plenten beugte sich zu dem reglosen Nobnoj, der
sich immer noch in seiner Rolle befand, und zog ihn an den Haaren zu sich
heran.
"Mama!" winselte Nobnoj.
Plenten schlug ihn noch einmal mit der Faust ins
Gesicht und wandte sich wieder seiner Lektüre zu. Nobnoj weinte noch ein paar
Tränen und fiel dann in tiefen Schlaf, zusammengekauert wie ein kleines Kind
fand er zurück in den Leib seiner Mutter, deren Muttermund sich doch nicht als
Einbahnstraße erwiesen hatte. Gott hatte seiner Schöpfung zu ihrem größten
Triumph verholfen: er hatte es ihr ermöglicht, sich selbst rückgängig zu
machen.
Doch Gott streifte schon längst wieder durch grüne Hügel
und dampfende Wälder, alles auch seine Schöpfung.