Dostojewski in Augsburg
Es war kalt hier, allerdings nicht so kalt wie in seiner Heimat. Aber hier schmerzte das Atmen mehr. Und es war viel los auf diesen Straßen. Lauter häßliche Leute. Wenn wirklich die Sonne geschienen hätte und zwei oder drei vielleicht doch gelacht hätten... Aber dem war nicht so und er war sich sicher, daß es nichts geändert hätte. Ein Musikant stand da und war gut, er spielte Akkordeon, überlegte nicht lange, sondern spielte und es klang nach seiner Heimat und auch seiner. D. beschloß, ihm auf dem Rückweg Geld vor die Füße zu werfen. Rückweg war eigentlich falsch, denn D. befand sich nicht auf dem Weg irgendwohin, er vertrat sich nur die Füße, aber er wußte die Strecke und er wußte, daß dieser Musiker in wenigen Minuten die Gelegenheit haben würde, ein zweites Mal sein Ohr für wenige Sekunden mit einer Melodie zu füllen. Beinahe wäre er gestolpert über ein Kind, dem er jetzt auswich. Das Kind war dick - Babyspeck - und D. schätzte, daß es noch ungefähr vierzig Jahre dauern würde bis der Kleine ähnlich proportioniert wieder durch die Straße laufen würde, größer und mit mehr Haaren im Gesicht. Ein roter Daunenanorak, eine blaue Wollmütze. Diese Leute mußten alle ein Ziel erreichen in bestimmter Zeit, nur wenige trauten sich zu rennen. Das Kind wäre gerannt, wenn ihm die Zeit davongelaufen wäre. D. fror, weil er für die Jahreszeit zu leicht angezogen war, muß man sagen. D. sagte aber, daß die Jahreszeit eben Probleme habe, sich auf ihn einzustellen. Der Musiker war jetzt weg. D. überlegte kurz, ob er Geld auf die Sporttasche werfen sollte, die da lag mit dem Akkordeon drauf. er ging aber dann doch weiter in der Hoffnung, daß ihn keiner bei seinen Gedanken beobachtet hatte (eine völlig überflüssige Sorge übrigens). „Musik müßte man machen können“, dachte er sich.
Es war noch dämmrig, die Luft war aggresiver, er rutschte auf den Kieseln, die auf dem Asphalt lagen. „Heute morgen bin ich one of them“, dachte er sich, als ihm Menschen begegneten. Er fühlte sich nicht gut. Er wunderte sich, warum er plötzlich auf Englisch dachte. „Amerikaner müßte man sein“, dachte er sich, „dann könnte man in jeder Lebenssituation mit dem Text eines Popsongs antworten.“ Er glaubte, daß das Leben dadurch leichter würde. Wenn man doch nur irgendetwas tun könnte...
Gelb war warm, rot leuchtete vor jeder Nasenspitze, Dunkel war blau, Grau feucht und nahm Gelb auf, paßte sich an. Die Kälte stand zwar noch an jeder unbeleuchteten Hausecke, es war aber leichter, nicht mehr daran zu glauben. D. war sich nun ziemlich sicher, daß nur noch die allerwenigsten der Meinung waren, er müsse hier dazu gehören. Das tat ihm gut, obwohl er sich täuschte und mehr denn je ein harmonischer Bestandteil dieses Bildes war, das ein unbekannter Maler gerade - wie fast jeden Abend - auf seine Leinwand warf.
Er öffnete die Tür und stand in einem Hausgang. Relativ unwirtlich, genauso wie in vielen seiner Erzählungen. Er ging zu seinem Briefkasten. Friedrich, ein alter Bekannter, hatte ihm geschrieben, er wolle mal wieder vorbeischauen, habe tolle Dinge im Kopf, die er allein nicht mehr ertragen könne. Friedrich war ein sehr guter Freund gewesen, sie hatten Wodka miteinander getrunken, früher oft. Er hatte keine Lust auf ihn.
Er steckte den Schlüssel ins Schloß und öffnete die
Tür zu seiner kleinen, aber gemütlichen Wohnung. Da wurde er
angefallen: Unzählige kleine Biester überall an Armen und Beinen.
Licht und Wärme. Alles für ihn. Leute. Für ihn. Fröhlichkeit.
Er wollte sich leise zurückziehen, das Mißverständnis sollte
nicht aufgedeckt werden. Es mußte auch andere Orte geben, wohin er
jetzt gehen konnte. Doch er wurde hineingezogen. In der Mitte des festlichen
Raums stand eine blonde Sechzehjährige. Zu spät erkannte er die
Gefahr: Sie warf mit Lächeln um sich und eines hatte sich in sein
Gesicht bereits gesetzt und es verzog es ihm äußerst schmerzhaft,
jede Gegnwehr war völlig zwecklos. Er wußte, daß er verloren
war, wenn die Wärme sein Herz erreichte. Seine sonst farblose Haut
glühte bereits golden unter dem bunten Rock, der ihm übergeworfen
worden war, ohne daß er es bemerkt hatte. Er wurde herumgetragen,
geschupst, angelächelt, es wurden Witze erzählt, später
erzählte er auch Witze, als er getrunken hatte. Er nahm alles sehr
verschwommen wahr, es hätte sich auch um einen Traum handeln können,
dachte er noch. Da trat ein junger stattlicher Mann auf ihn zu, er
trug eine Uniform, er sah gut, streng und vernünftig aus. D. wollte
ihn umarmen, tat es wohl auch, denn plötzlich wurde er getragen wie
ein kleines Kind oder eine Braut. Und der Uniformierte war alt, hatte ein
sympathisches Runzelgesicht, graues Haar. D. fühlte sich gut, weil
er wußte, daß er sich gut fühlen mußte.
Dann war da der Fall, zweifellos eine Treppe, Dunkelheit, Schlaf.
Erwachen im Dreck, in der Kälte in den gewohnten Klamotten. Er
war da, wo er hingehörte, dankbar und glücklich. Yes, he felt
like he was back on the streets again.